Allein die Schrift

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Allein die Schrift

Gottesdienst zum Thema „Allein die Schrift“, „sola scriptura“ | in St. Laurenzen | am 25. Februar 2018 | Frank Jehle, Pfr. Dr. theol. |

Musik

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und von unserem Herrn und Bruder Jesus Christus.

„Dein Wort ist eine Leuchte meinem Fuss und ein Licht auf meinem Pfad.“ (Ps 119,105) Amen.

Liebe Gemeinde, mit diesem Vers aus Psalm 119 begrüsse ich alle herzlich. Vor einem Monat habe ich mit einer Predigtreihe über die vier Grundsätze der Reformation – „Allein die Gnade“, „Allein die Schrift“, Allein Christus“ und „Allein der Glaube“ – angefangen. Und mit dem eben zitierten Psalmvers habe ich es bereits anklingen lassen: Heute geht es um „Allein die Schrift“. Lasst uns vorerst aber singen und beten und auf einen Text aus der Bibel hören.

Lied 570,1 und 4–6: „Lobet den Herren alle, die ihn ehren.“

Lasst uns aufstehen und beten:

Wir beten mit Worten, die Dietrich Bonhoeffer während seiner Gefangenschaft als Morgengebet für seine Mitgefangenen schrieb:

Herr Gott, wir rufen zu dir in der Frühe des Tages. Hilf uns beten und unsere Gedanken sammeln zu dir; wir können es nicht aus eigener Kraft. In uns ist es finster, aber bei dir ist das Licht. Wir sind einsam, aber du verlässest uns nicht. Wir sind kleinmütig, aber bei dir ist die Hilfe. Wir sind unruhig, aber bei dir ist der Friede. Wir verstehen deine Wege nicht, aber du weisst den Weg für uns.

Vater im Himmel, Lob und Dank sei dir für die Ruhe der Nacht, Lob und Dank sei dir für den neuen Tag. Lob und Dank sei dir für alle deine Güte und Treue in unserm vergangenen Leben. Du hast uns viel Gutes erwiesen, lass uns auch das Schwere aus deiner Hand hinnehmen. Du wirst uns nicht mehr auflegen, als wir tragen können. Du lässest deinen Kindern alle Dinge zum Besten dienen.

Herr Jesus Christus, du warst arm und elend, gefangen und verlassen. Du kennst alle Not der Menschen. Du bleibst bei uns, wenn kein Mensch uns beisteht. Du vergissest uns nicht und suchst uns. Du willst, dass wir dich erkennen und uns zu dir kehren. Herr, wir hören deinen Ruf; wir wollen ihm folgen; hilf uns. Lass uns so leben, wie wir es vor dir und den Menschen verantworten können.

In der Stille legen wir persönliche Gedanken vor dich hin.

Herr, wir danken dir dafür, dass du uns hörst und erhörst. Dein Name sei gelobt. Amen.

Als Schriftlesung zum Thema „Allein die Schrift“ hören wir Psalm 1. Ein Mann wird hier vorgestellt, der in der Bibel liest und über das Gelesene nachdenkt.

„Wohl dem,

der nicht dem Rat der Frevler folgt

und nicht auf den Weg der Sünder tritt,

noch sitzt im Kreis der Spötter,

sondern seine Lust hat an der Weisung des HERRN

und sinnt über seiner Weisung Tag und Nacht.

Der ist wie ein Baum,

an Wasserbächen gepflanzt:

Er bringt seine Frucht zu seiner Zeit,

und seine Blätter welken nicht.

Alles, was er tut, gerät ihm wohl.

Nicht so die Frevler;

sie sind wie Spreu,

die der Wind verweht.

Darum werden die Frevler nicht bestehen im Gericht,

noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten.

Denn der HERR kennt den Weg der Gerechten,

der Weg der Frevler aber vergeht.“

So weit Psalm 1. Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren. Amen.

Lied 71: „Laudate omnes gentes.“ (3x)

Liebe Gemeinde!

Im Rahmen einer Reihe über die vier Grundsätze der Reformation „Allein die Gnade“, „Allein die Schrift“, „Allein Jesus Christus“, „Allein der Glaube“ habe ich vor einem Monate eine Predigt über „Allein die Gnade“ gehalten. Für mich war es ein schönes und wichtiges Thema. „Allein die „Gnade“, ist das nicht eine bleibende Losung in einer Zeit, in der viele unter einem grossen Leistungsdruck stehen und sich oft überfordert vorkommen? Und für viele älter gewordene Menschen ist es ebenfalls schwer, erfahren zu müssen, dass sie nicht mehr so leistungsfähig sind wie früher. Für Junge und Alte gilt: Gott bietet sich dir und mir gratis an! Von ihm dürfen wir uns beschenken lassen. Seien wir dafür dankbar!

Meine heutige Predigt über „Allein die Schrift“ ist mir bei der Vorbereitung nicht so leicht gefallen. Ich weiss auch noch nicht, ob sie mir gelingt. „Allein die Schrift.“ Gefährlich ist dieser Grundsatz, wenn er von Fundamentalisten missbraucht wird. Diese sagen, man müsse alles, was in der Bibel steht, wörtlich glauben.

Fundamentalistische Haltungen scheinen mir überhaupt ein grosses Problem in unserer Zeit zu sein. Ich denke an politischen Fundamentalismus, wenn Parteien mit dem Anspruch auftreten, hundertprozentig im Recht zu sein, und den andern absprechen, vielleicht doch auch etwas Richtiges zu sehen. Und dann im Bereich der Weltreligionen: Über den islamischen Fundamentalismus, den sogenannten Islamismus, muss ich kaum etwas sagen. Unsere Medien sind voll davon. Aber es gibt auch hinduistische Fundamentalisten, die in Indien Moscheen in Brand stecken. Und es gibt buddhistische Fundamentalisten, die in Burma die muslimische Minderheit bedrängen. Es gibt jüdische Fundamentalisten, zumeist aus Amerika stammende Siedler in Israel, die unrechtmässig Land besetzen und behaupten, Gott habe es ihnen versprochen und geschenkt, es stehe ja in der Bibel.

Und zu den christlichen Fundamentalisten: Diese heute recht lautstarke Bewegung entstand am Ausgangs des 19. Jahrhunderts in Amerika. Es waren zumeist arme Einwanderer, die sich von der zunehmenden Industrialisierung an die Wand gedrückt und überfahren fühlten. Sie klammerten sich an die Religion ihrer Vorfahren. Gegen die Abstammungslehre der Darwinisten wollten sie festhalten, dass man die biblischen Schöpfungstexte buchstäblich für wahr halten müsse, der Mensch stamme nicht vom Affen, sondern von Adam und Eva ab. Heute wenden sich Fundamentalisten zum Beispiel oft gegen die Homosexuellen. Aus der Bibel wird dann zitiert: „Und wenn jemand mit einem Mann schläft, wie man mit einer Frau schläft, so haben beide einen Greuel verübt. Sie müssen getötet werden […].“ (Lev 20,13) Ein schreckliches Zitat! Solche Fundamentalisten missverstehen die Bibel als ein starres Gesetzbuch.

Doch liebe Gemeinde, kommen wir zurück zum Grundsatz der Reformation „Allein die Schrift“, auf Lateinisch „sola scriptura“! Die Reformatoren waren keine Fundamentalisten! Für heute beschränke ich mich auf Zwingli, den Zürcher Reformator. Für Zwingli war die Bibel nicht ein Gesetzbuch, sondern im Gegenteil ein befreiendes Buch. Es ging ihm nicht um den Buchstaben, sondern um den Geist. Viele von Ihnen haben das Folgende wohl auch schon gehört: Seine erste reformatorische Schrift im engeren Sinn war die Broschüre „Von erkiesen und fryheit der spysen [von der freien Wahl der Speisen]“. Mit Hilfe des Grundsatzes „Allein die Schrift“ wandte Zwingli sich hier gegen den religiösen Zwang. Der damaligen Kirche warf er vor, sie sei gewissermassen überreguliert und bürde den Menschen Pflichten auf, die nicht mit der Bibel begründet werden könnten. Ausgangspunkt waren die Fastenregeln, ein ausgeklügeltes Regelwerk, das genau vorschrieb, was man an gewissen Tagen essen und nicht essen dürfe. Zwingli sagte dagegen: Wenn man gelegentlich freiwillig faste und überhaupt massvoll lebe, dann sei das gut. Nicht gutheissen könne er dagegen ein System, das verlange, an einem Tag zu fasten, wogegen man zu einer andern Jahreszeit über die Stränge schlagen darf, eine solche Lebensart sei nicht biblisch beziehungsweise evangelisch.

Und ein zweites Beispiel: Zwingli setzte sich in dieser seiner ersten reformatorischen Schrift mit dem Zwangszölibat auseinander. Priestern der katholischen Kirche war es untersagt, eine Familie zu gründen, eine Regel, die übrigens erst im Mittelalter flächendeckend eingeführt worden war. (In den orthodoxen Kirchen des Ostens dürfen Priester gemäss den Regeln der ersten christlichen Jahrhunderte bis heute heiraten und Familienväter sein.) Aus eigener Erfahrung wusste Zwingli, wie schwer es vielen Priestern fiel, wirklich zölibatär zu leben. In jungen Jahren hatte gelegentlich auch er selbst, obwohl er die Priesterweihe empfangen hatte, eine Prostituierte besucht.

Dass jemand, der eine christliche Gemeinde leite, ehelos leben müsse, davon finde er in der Bibel nichts. Ich möchte das übrigens unterstreichen: Die Bibel kennt zwar Beispiele von zölibatär lebenden Männern, im Alten Testament den Propheten Jeremia, im Neuen Testament Jesus von Nazareth und den Apostel Paulus. Aber der Apostel Petrus war verheiratet und nahm seine Frau auf seinen Reisen mit. Jesus heilte sogar die Schwiegermutter von Petrus, als sie einmal Fieber hatte. „Allein die Schrift.“ Indem Zwingli auf die Bibel zurückgriff, erfuhr er diese nicht als Zwang, sondern vielmehr als befreiend. Er wusste sich von Gott berechtigt, Anna Reinhart, die Frau, die er liebte und die ihn, als er lebensbedrohlich an der Pest erkrankt gewesen war, liebevoll gepflegte hatte, offiziell zu heiraten. Gemeinsam hatten sie vier Kinder. Es war eine Liebesehe.

Dass Zwingli kein Fundamentalist war, zeigt sich unter anderem auch darin, dass er den Täufern widersprach. Sein ehemaliger enger Freund Konrad Grebel vertrat die Meinung, weil Jesus das letzte Abendmahl am Abend begangen habe, dürfe man auch heute das Abendmahl nur in den Abendstunden feiern. Zwingli entgegnet ihm, wenn das wahr wäre, müsste man auch die gleichen Kleider wie Jesus und seine Jünger tragen. Bei der Auslegung biblischer Texte komme es darauf an, die Zeitumstände zu beachten, die jeweilige Situation, in der ein Text geschrieben wurde. Das Gleiche vertrat er im Zusammenhang mit der Taufe. Weil im Neuen Testament nur von der Taufe Erwachsener die Rede ist, verwarfen Konrad Grebel und die andern Täufer die Säuglingstaufe. Wissenschaftlich-theologisch gab Zwingli den Täufern Recht. Im Neuen Testament gehe es wirklich um die Erwachsenentaufe. In der eigenen Gegenwart wollte Zwingli aber am Brauch der Säuglingstaufe festhalten. Es war ihm wichtig, zu bezeugen, dass auch die Kinder schon vom ersten Atemzug an – oder sogar noch vorher – unter der Liebe Gottes stehen, von dieser getragen werden und zur christlichen Gemeinde gehören. Nein, Zwingli war kein Fundamentalist – Luther und Calvin und die andern Reformatoren übrigens ebenfalls nicht. Und doch war der Grundsatz „Allein die Schrift“ für sie alle wichtig.

Liebe Gemeinde! Im 36. Kapitel des Buches Jeremia kann man nachlesen, wie das Buch Jeremia entstand: Der Prophet diktiert dem Schreiber Baruch Worte, die er von Gott empfangen hat. Baruch liest die kleine Schriftrolle im Tempel vor. Wichtige Männer vom Königshof hören diese Lesung. „Das muss der König erfahren!“ Doch die Worte Gottes haben keine Wirkung vor der königlichen Majestät. Sie werden im Gegenteil verhöhnt. Die kleine Schriftrolle wird mit einer zynischen Geste Stück um Stück verbrannt. Baruch und Jeremia sollen verhaftet werden, was allerdings misslingt. Aber dann kommt es zu einem zweiten Diktat. Und die neue Rolle, die nicht zerstört wurde, ist noch umfangreicher als die erste!

Die Szene gibt uns einen Einblick in die Entstehungsgeschichte der Bibel. Im Lauf der Jahrhunderte kamen immer mehr derartige Schriftrollen zusammen. Besonders in der Zeit der babylonischen Gefangenschaft und danach kam es im Judentum so zum Synagogengottesdienst, in dem regelmässig aus den überlieferten Schriften vorgelesen wurde. Diese galten immer mehr als heilig. Und im jungen Christentum verlief die Geschichte ähnlich. Zuerst entstanden die Paulusbriefe, dann die vier Evangelien und so fort. Auch bei den Christen war das Vorlesen der überlieferten Schriften ein wesentlicher Teil des Gottesdiensts. Und schon bald schälte sich heraus, welche Schriften für die ganze Kirche verbindlich bleiben sollten. Sie überzeugten von innen heraus. Evangelien und auch Briefe, die zu fantastisch und deshalb wenig glaubwürdig waren (die so genannten Apokryphen), wurden ausgeschaltet. Bereits am Ausgang des zweiten Jahrhunderts war das Neue Testament (wie vorher schon das Alte Testament) im Wesentlichen fertig. Nur Weniges kam später noch dazu, der Petrus-, der Jakobus- und der Hebräerbrief – und in gewissen Ausgaben die Johannesoffenbarung.

Ich möchte es so formulieren: Die Bibel ist eine Sammlung von Schriften, die von innen heraus am meisten überzeugten und als geistliche Nahrung erfahren wurden. Noch einmal: Man kann die Bibel nicht wie der Fundamentalismus als Gesetzbuch verwenden. Da die verschiedenen alten Handschriften in manchen Einzelheiten voneinander abweichen, gibt es auch nicht einen ein für allemal abgeschlossenen und definitiven Text, der nicht mehr revidiert werden darf. Nicht umsonst erscheinen aufgrund neuer Erkenntnisse der Bibelwissenschaften immer neue Ausgaben. Nur das Wesentliche steht seit der Antike fest. Und ich denke: Das genügt. Wer sich auf die Bibel im Ernst einlässt, sich mit ihr auseinander setzt, sich Zeit für sie nimmt, geduldig ist, wird immer neu Entdeckungen in ihr machen und dankbar dafür sein.

Je länger man sich mit der Bibel beschäftigt, desto mehr erscheint sie als eine riesige Landschaft mit Hügeln und Gebirgsketten, kleineren und grösseren Tälern, Ebenen, Seen und Meeren. Wenn man sie erforscht, nimmt man viele verschiedene Muster wahr. Man erkennt Höhenzüge, die manchmal unterbrochen werden, dann aber plötzlich wieder weitergehen. Wenn man sie verfolgt, gelangt man zu immer neuen Aussichtspunkten. Man entdeckt neue Wege zu immer neuen Zielen, häufig überraschend. Und vor allem ist wichtig: So vielfältig diese Landschaft ist, sosehr da manchmal auch ein Felsbrocken am Weg liegen kann, von dem man nicht genau weiss, woher er stammt, sosehr ist es eben doch nicht ein wirres Trümmerfeld, sondern eine einzige Landschaft. Die verschiedenen Teile fügen sich zusammen und ergänzen sich. Gewisse Gesteinsformationen treten immer neu auf. Die wichtigste dieser Gesteinsformationen ist die göttliche Liebe – und zwar auch im oftmals viel zu wenig beachteten und ernst genommen Alten Testament. Und auch das Gebot der Nächstenliebe ist eine derartige Gesteinsformation, die in der biblischen Landschaft immer von neuem an die Oberfläche tritt, ebenfalls bereits im Alten Testament.

Lassen Sie mich meine Predigt über den reformatorischen Grundsatz „Allein die Schrift“ mit einem Zwingliwort schliessen, das wir uns zu Herzen nehmen dürfen:

„Leggend umb gotz willen die bible in die mitte! Darumb, fromme Christen, zur gschrift, zur gschrift! Die macht wys zur seligkeit und leret alles guots.“ Amen.

Musik

Unser Vater im Himmel!

Geheiligt werde dein Name.

Dein Reich komme.

Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Und vergib uns unsere Schuld,

wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Und führe uns nicht in Versuchung,

sondern erlöse uns von dem Bösen.

Denn dein ist das Reich und die Kraft

und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

Lied 813: „Ubi caritas et amor.“ (4x) Das Lied mag uns auch an wichtige Gesteinsformationen in der Bibel erinnern.

Mitteilungen

Lied 342,1–2 und 6: „Ach bleib mit deiner Gnade.“

Von guten Mächten wunderbar geborgen

erwarten wir getrost, was kommen mag.

Gott ist bei uns am Abend und am Morgen

und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Gott segne euch und behüte euch. Gott lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Gott wende euch sein Antlitz zu gebe euch und auch mir Frieden. Amen.

Musik

Hinweis: Voraussichtlich im Frühjahr 2021 erscheint unter dem Titel „Verkündigung ist kein Monolog: Kunst- und Themapredigten für heute“ ein Predigtband mit Kunstpredigten von Frank Jehle beim TVZ.

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