Allein Christus

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Gottesdienst zum Thema „Allein Christus“ | in St. Laurenzen am 15. April 2018 | Frank Jehle, Pfr. Dr. theol. |

Musik

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und von unserem Herrn und Bruder Jesus Christus.

Der Apostel schreibt:

„Einer nämlich ist Gott, einer auch ist Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Christus Jesus.“ (1Tim 2,5)

Mit diesem Vers aus dem Neuen Testament begrüsse ich alle herzlich. Das Thema des heutigen Gottesdiensts ist damit angestimmt: „Allein Christus“, nach „Allein die Gnade“ und „Allein die Schrift“ der dritte Grundsatz der Reformation. (Am 1. Juli werde ich in dieser Kirche dann noch eine Predigt zu „Allein der Glaube“ halten.)

Doch lasst uns vorerst singen und beten und Worte aus der Bibel hören.

Lied 492,1–3 und 8: „Jesus Christus herrscht als König.“

Lasst uns aufstehen und beten:

Grosser und guter Gott, als deine Gemeinde stehen wir vor dir. Bei dir suchen wir Ruhe und Kraft. Häufig sind wir mutlos, und manche fühlen sich überlastet oder sonst gestresst. Sogar wenn man in einem Altersheim wohnt, hat man Pflichten. Und überall gibt es zwischenmenschliche Probleme.

Grosser und guter Gott, wir möchten glauben können, uns von dir tragen lassen. Wir bitten dich darum. Wir möchten unseren Glauben aber auch verstehen können, damit wir nicht blind glauben müssen und damit wir, was wir glauben, anderen weitergeben können. Gib uns deinen heiligen und guten Geist und damit dich selbst.

Grosser und guter Gott, stellvertretend stehen wir vor dir für viele andere. Lass auch sie deinen Geist erfahren und damit ebenfalls dich selbst. Steh auch ihnen bei.

Besonders bitten wir dich für in Politik und Wirtschaft Tätige, für Lehrerinnen und Lehrer, Studierende, Schülerinnen, Schüler. Wir bitten dich für Angehörige der wissenschaftlichen – besonders der medizinischen –, der künstlerischen und der sportlichen Berufe.

Wir bitten dich für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt. Wir bitten dich darum, dass Notleidende Barmherzigkeit und Hilfe finden.

In der Stille legen wir persönliche Gedanken vor dich hin.

Grosser und guter Gott, wir danken dir dafür, dass du uns verstehst. Um alles bitten wir im Namen deines lieben Sohnes und unseres Bruders Jesus Christus. Amen.

Lesung von Kol 1,12–23:

„Voll Freude sagt Dank dem Vater, der euch fähig gemacht hat, Anteil zu haben am Los der Heiligen, die im Licht sind. Er hat uns der Macht der Finsternis entrissen und uns versetzt ins Reich seines geliebten Sohnes, in dem wir die Erlösung haben, die Vergebung der Sünden.

Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes,

der Erstgeborene vor aller Schöpfung.

Denn in ihm wurde alles geschaffen

im Himmel und auf Erden,

das Sichtbare und das Unsichtbare,

ob Throne oder Herrschaften,

ob Mächte oder Gewalten;

alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen.

Und er ist vor allem,

und alles hat in ihm seinen Bestand.

Er ist das Haupt des Leibes, der Kirche.

Er ist der Ursprung, der Erstgeborene aus den Toten, damit er in allem der Erste sei. Denn es gefiel Gott, seine ganze Fülle in ihm wohnen zu lassen und durch ihn das All zu versöhnen auf ihn hin, indem er Frieden schuf durch ihn, durch das Blut seines Kreuzes, für alle Wesen, ob auf Erden oder im Himmel. Auch euch, die ihr einst Fremde wart und Feinde, deren Sinn auf böse Taten aus war, euch hat er jetzt mit sich versöhnt in seinem sterblichen Leib durch seinen Tod, um euch heilig, makellos und unbescholten vor sich hinzustellen – wenn ihr nur dem Glauben treu bleibt, festen Grund habt, standhaft bleibt und euch nicht abbringen lasst von der Hoffnung des Evangeliums, das ihr gehört habt. Überall auf der Welt, so weit der Himmel reicht, ist es verkündigt worden.“

Lied 276,1–4: „Such, wer da will, ein ander Ziel.“

Liebe Gemeinde!

„Ich bin klein,
mein Herz ist rein,
soll niemand drin wohnen
als Jesus allein.“

Ich denke, viele von Ihnen kennen dieses Kindergebet, und es mag durchaus sein, dass einige von Ihnen es vor Jahren selbst gebetet haben und deshalb nostalgische Gefühle dabei haben. Aber verzeihen Sie mir bitte: Trotzdem erlaube ich mir zu sagen, theologisch und wohl auch psychologisch sind diese Verse Unsinn. In einem Kinderherz hat hoffentlich doch wohl nicht nur Jesus, sondern noch viel anderes Platz, Mama und Papa, die Grosseltern und Geschwister und vielleicht auch der Teddybär und die abgegriffene und verwaschene Stoffpuppe, die mit Joggeli angesprochen und überallhin mitgeschleppt wird.

In meiner Predigt zum Grundsatz „Allein die Gnade“ habe ich vor einigen Wochen von Katharina von Siena erzählt, dieser grossen christlichen Frau im Spätmittelalter. In ihrer Jugend litt sie, wenn ich so sagen darf, unter religiösem Überschwang. Sie wollte nur zu Jesus gehören, nur mit ihm zusammensein. Doch in einer grossartigen Vision schickte sie dieser zu den Menschen. Lasst uns das Zitat aus meiner früheren Predigt nochmals hören.

„Du sollst nicht nur dir selber nützlich sein, nein, auch den anderen, auch dafür gebe ich dir ja meine Gnade. Ich will dich doch nicht von mir wegschicken; im Gegenteil, die Liebe für die Menschen wird dich noch fester an mich binden! Dies ist meine Absicht: du weisst, ich habe zwei Gebote der Liebe gegeben, ihr müsst mich und eu­ren Nächsten lieben. […] Ich will, dass du die Gerechtigkeit beider Gebote erfüllst. Du sollst nicht auf einem Fuss daherhinken, du sollst mit beiden Füssen ausschreiten.“[1]

Noch einmal:

„Ich bin klein,
mein Herz ist rein,
soll niemand drin wohnen
als Jesus allein.“

So geht es wirklich nicht! Jesus und unsere Mitmenschen sind keine Gegensätze, die sich wechselseitig ausschliessen. Gerade wer Jesus liebt, wird sich von seinen Nächsten – und überhaupt von der Welt – nicht trennen.

Doch zum Grundsatz „Allein Christus“, auf Lateinisch „solus Christus“, dem dritten der vier Grundsätze der Reformation, heute unser Thema: Diejenigen, die mich kennen, wissen, dass ich kein Katholikenfresser bin. Im Gegenteil, ich habe eine grosse Hochachtung vor der römisch-katholischen Kirche und kenne Katholiken, die bessere Christen sind als ich. Und doch können wir den Grundsatz „Allein Christus“ nur richtig verstehen und einordnen, wenn wir uns klar machen: Er ist gegen gewisse Aspekte jedenfalls des vorreformatorischen – teilweise aber auch noch des heutigen Katholizismus – gerichtet. Es geht um die Marienverehrung und um die Heiligenverehrung allgemein, die gerade in den Jahren vor der Reformation, dann aber auch in den Jahren der Gegenreformation, eine wichtige Rolle spielten.

Schauen wir uns nur die St. Galler Kirchengeschichte vor der Reformation an: Wie ernst nahm man in der Klosterkirche die Verehrung von Gallus und Otmar und von vielen anderen. Und noch handgreiflicher war der Marienkult. Abt Ulrich Rösch richtete in seinem Münster einen Altar für „Unsere Liebe Frau im Gatter“ ein. Wer diese besuchte, vor ihr betete, eine Kerze anzündete oder Geld spendete, konnte sich Verdienste erwerben. Die Wallfahrt zu dieser „Unseren Lieben Frau im Gatter“ war in den Jahren vor der Reformation überaus erfolgreich. Tausende nahmen daran teil. „Unsere Liebe Frau im Gatter“ hiess sie übrigens, weil das Marienbild durch einen eisernen Käfig geschützt werden musste. Die begeisterten Pilgerinnen und Pilger hätten das Marienbild sonst beschädigt, Stücke davon abgebrochen, um sie nach Hause zu nehmen, um so etwas Göttliches in der Hand zu haben.

Anders sah es die Reformation. Einige von Ihnen wissen wohl, dass ich im letzten Herbst aus Anlass des Reformationsjubiläums den bisher wenig bekannten reformierten St. Galler Katechismus von 1527 publizierte, nach meinem persönlichen Dafürhalten ein bedeutender Text. Er lässt uns den Glauben der frühen Reformierten besser verstehen. Und hier lesen wir zu unserem Thema unter anderem das Folgende:

„Was gloubstu von der Junckfrow Maria?

Antwurt. Das / das sy ist vßerwelt von Gott / voll gnad / Gesegnet vnder den wyben: vnd gesegnet die frucht jrs lybs Jesus Christus. Vnd das sy rain vor der geburt / in der geburt / vnnd nach der geburt sye: ain demutige dienerin vnd selige junckfrow / vmb jres gloubens willen: ain trüwe muoter vnsers Herren Jesu Christi. Vnd das sy besitz gewißlich das erb in den ewigen froeudenn. Vnd das sy zu allen disen dingen ist kommen / vß der gnad Gottes in der gmainschafft des lydens vnnd sterbens jrs lieben suns vnsers Herren Jesu Christ. Jn jm vnd durch jn thett jr Gott grosse ding / darumb vns zu erkennen ist / vnnd von jr zu wüssen was Gott in jr vnd durch sy als ain auserkießt handgschirr / gewürckt hab / darumb sol jr gedaechtnuß mit lob vnd pryß / vnd mit dancksagung zu Gott gehalten werden / wie aller anderen Seligen / zu denen wir billich als zu abwesenden fründen liebe tragend: dann sy fürneme glieder des lybs Christi warend.“[2]

Es ist ein bemerkenswerter Abschnitt. Der St. Galler Katechismus spricht also mit grosser Ehrfurcht von Maria. Sogar ihre leibliche Aufnahme in den Himmel wird gelehrt! Und in der Geschichte ihres Sohnes spielt sie eine wichtige Rolle, die nicht wegzudiskutieren ist. Und etwas später wird von ihr gesagt, dass man sie und die übrigen Heiligen gebührend ehre, indem man ihr und ihnen nachfolge und ebenso gut handle, wie sie es getan hätten, sie seien für uns Vorbild. Wörtlich:

„Jn jrem tugentsamen laeben / darinnen sy Christo nachvolgten mit ainem laebendigen glouben / vnd mit wircklicher liebe / die vmb die hoffnung deß ewigen laebens sich gearbeitet vnd duldet hand / biß in tod mit verachtung der welt vnnd jrer lüsten.“[3]

Das ist nicht nichts, sondern sogar viel! Nicht umsonst hat man im reformierten St. Gallen die Kirchennamen St. Laurenzen, St. Mangen, St. Katharinen, St. Leonhard und St. Jakob nicht abgeschafft, sondern beibehalten. Aber wir haben es gehört: Wir sollen von Maria wie von einer abwesenden Freundin denken – und von den Heiligen ebenfalls als von abwesenden Freunden. Das heisst, wir können uns ihrer liebevoll erinnern und sie als Vorbild nehmen. Aber nicht mehr! Da sie als abwesend gedacht werden, kann und soll man nicht Worte an sie richten. „Allein Christus“ ist der Grundsatz.

Liebe Gemeinde! Es gäbe natürlich noch viel zu sagen, aber ich muss mich kurz fassen. An diesem Punkt besteht bis zum heutigen Tag ein Unterschied zwischen den evangelischen und der römisch-katholischen Kirche (und auch den orthodoxen Kirchen). Besonders seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat man zwar in Rom mit viel religiösem Wildwuchs aufgeräumt. Und dasselbe Konzil betonte hoch offiziell, ein einziger sei unser Mittler: Jesus Christus, nur er schenke das Heil. Aber auch dieses Konzil sagte dann trotzdem über die Jungfrau Maria:

„Indem sie Christus empfing, gebar und nährte, im Tempel dem Vater darstellte und mit ihrem am Kreuz sterbenden Sohn litt, hat sie beim Werk des Erlösers in durchaus einzigartiger Weise in Gehorsam, Glaube, Hoffnung und brennender Liebe mitgewirkt zur Wiederherstellung des übernatürlichen Lebens der Seelen.“[4]

Maria ist also auch gemäss dem Zweiten Vatikanischen Konzil als „Mitwirkerin“ an unserem Heil beteiligt! Es hängt dies damit zusammen, dass die römisch-katholische Frömmigkeit und Theologie nicht so stark wie die evangelische zwischen dem Göttlichen und den Menschlichen unterscheidet. Der Satz „Das Wort wurde Fleisch“ wird so ausgelegt, dass die Welt seit und dank der Geburt Jesu Christi bis zu einem gewissen Grad bleibend vergöttlicht worden ist. Etwa in der Eucharistie kann man das Göttliche nach katholischer Auffassung geradezu leiblich anfassen. Ähnlich steht es mit den Heiligenbildern. Und unter anderem zeigt sich dies auch in der besonderen Position des Papstes als des Stellvertreters Christi auf Erden.

Ich denke, dass wir diesen Unterschied für heute einfach bis auf Weiteres stehen lassen müssen – in der Hoffnung, dass die grossen christlichen Konfessionen sich dank dem ökumenischen Dialog mit der Zeit doch noch näher kommen können. Im Moment sind wir an diesem Punkt leider in einer ökumenischen Sackgasse, obschon das Gemeinsame der Konfessionen zum Glück ja viel grösser als das Trennende ist. Versuchen wir uns an das Gemeinsame zu halten und dieses zu betonen und zu leben!

Mein theologischer Lehrer Gerhard Ebeling schickte mir am 16. Dezember 1998 (er war damals 86 Jahre alt) eine Weihnachtskarte mit einer mittelalterlichen Buchminiatur. Auf dieser stand unter anderem:

Lieber Herr Jehle! […] Töricht wäre es […], mit der Ökumene erst da zu beginnen, wo wir völlig einig sind. Es gilt einander zu verstehen und zu lieben – Christen und Nichtchristen –, auch wenn man gestehen muss, nicht einverstanden zu sein.“[5]

Ist das nicht bedenkenswert?

Am Schluss meiner Predigt möchte ich aber noch etwas anderes aufgreifen: „Allein Christus“ – bedeutet diese Formel, dass nur Angehörige des Christentums – bewusste Christinnen und Christen – selig werden können? Gelegentlich wird dies so ausgelegt. Solche Predigten habe ich schon gehört. Juden und Angehörige anderer Religionen wären in diesem Fall ausgeschlossen vom Heil. Liebe Gemeinde! Aus diesem Grund habe ich als Schriftlesung des heutigen Gottesdienstes den Christushymnus im ersten Kapitel des Kolosserbriefs gewählt. Christus  wird dort überschwänglich als der kosmische Christus angerufen. Auch dort, wo sein Name unbekannt ist, ist er in einer geheimnisvollen Weise wirksam und gegenwärtig. Hören wir noch einmal:

„Denn es gefiel Gott, seine ganze Fülle in ihm wohnen zu lassen und durch ihn das All zu versöhnen auf ihn hin, indem er Frieden schuf durch ihn, durch das Blut seines Kreuzes, für alle Wesen, ob auf Erden oder im Himmel.“

Ich möchte zwar nicht die Allversöhnung lehren (wie die grosse St. Gallerin Anna Schlatter vor zweihundert Jahren es tat). Das Recht dazu habe ich nicht. Ich denke aber, dass wir darauf hoffen dürfen, dass Christus, von dem der Hymnus im Kolosserbrief singt, dass alles im Himmel und auf Erden durch ihn und auf ihn hin geschaffen worden sei, Mittel und Wege finden kann, auch Menschen zu erlösen, die seinen Namen nicht kennen oder nur in einer verzerrten Form kennen lernen konnten. Lasst uns für alle Menschen – in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft – im Namen Jesu Christi beten! Das wäre für mich eine wichtige Schlussfolgerung aus dem reformatorischen Grundsatz „Allein [Jesus] Christus“. Amen.

Musik

Unser Vater im Himmel!

Geheiligt werde dein Name.

Dein Reich komme.

Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Und vergib uns unsere Schuld,

wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Und führe uns nicht in Versuchung,

sondern erlöse uns von dem Bösen.

Denn dein ist das Reich und die Kraft

und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

Amen.

Lied 277,1–4: „Halt im Gedächtnis Jesum Christ.“

Mitteilungen

Lied 554,6: „Der du allein der Ewge heisst.“

Von guten Mächten wunderbar geborgen

erwarten wir getrost, was kommen mag.

Gott ist bei uns am Abend und am Morgen

und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Gott segne euch und behüte euch. Gott lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Gott wende euch sein Antlitz zu gebe euch und auch mir Frieden. Amen.

Musik

[1] Grosse Frauen der Christenheit, S. 71 f.

[2] St. Galler Katechismus, S. 66.

[3] A. a. O., S. 67.

[4] Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen Gentium, Art. 60 und 61.

[5] Gerhard Ebeling nach Frank Jehle: Von Johannes auf Patmos bis zu Karl Barth. Theologische Arbeiten aus zwei Jahrzehnten. Herausgegeben von Adrian Schenker und Marianne Jehle-Wildberger. Zürich 2015, S. 284.

Hinweis: Voraussichtlich im Frühjahr 2021 erscheint unter dem Titel „Verkündigung ist kein Monolog: Kunst- und Themapredigten für heute“ ein Predigtband mit Kunstpredigten von Frank Jehle beim TVZ.

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