Alt und neu

Alt und neu

Aschermittwoch | Predigt zu Matthäus 9:14-17, verfasst von Matthias Wolfes |

Liebe Gemeinde,

 

mit dem heutigen Aschermittwoch beginnt der (katholischen) kirchlichen Tradition zufolge die vierzigtägige Fastenzeit. Sie führt zum Osterfest hin; Beten und Fasten werden als die geeigneten Mittel angesehen, sich in angemessener Weise auf jenes Fest vorzubereiten. Im evangelischen Raum sprechen wir in der Regel von „Passionszeit“, deren Beginn auf den kommenden Sonntag datiert wird.

Das Fasten ist also eine traditionell verankerte, dadurch auch mit Gewicht versehene Verhaltensweise. Biblisch knüpft sie an die vierzigtägige Fastenzeit Jesu in der Wüste an; auch die ebenso lange Wüstenwanderung der Israeliten und weitere Bezüge stehen im Hintergrund. Es ist klar, dass es sich in allen Fällen um sehr besondere Situationen handelt, die zum einen durch diese Besonderheit, zum anderen durch ihre strikte zeitliche Begrenzung bestimmt sind. Immerwährendes Fasten – also eine dauerhaft asketische Lebensweise – würde dieser Idee der Entsagung widersprechen. Es geht um eine befristete, um eine unterbrechende Entgegensetzung. Natürlich bleibt es jedem unbenommen, gute Erfahrungen aus der jeweiligen Fastenperiode auch in sein „normales“ Alltagsleben zu übernehmen. Doch dies ist es nicht, worum es der Idee nach geht. Es geht nicht um eine Veränderung des generellen Lebensstiles, sondern um eine terminierte Abweichung von ihm unter besonderen Bedingungen.

Hieran kann dann leicht die Kritik ansetzen, und dies ist ja in der Reformationszeit auch geschehen. Ich möchte daran nicht ganz vorbeigehen. Luther hat Recht, wenn er ein derart beschaffenes Programm der Selbstübung mit Skepsis betrachtet. Es besteht aus Korrekturen an Verhaltenweisen und Lebenspraktiken, zu denen nach Ablauf jener von Anfang an vorgegebenen Frist zurückzugehren selbst zum Programm gehört. Darin ist die bloße Äußerlichkeit begründet. Ebenso kann es nicht als wahrhaftiges Fasten bezeichnet werden, wenn es bloß darum zu tun ist, einen Tag glücklich herumzubringen, dessen Abend dann den vermeintlich verdienten Ausgleich bringt.

Wer die Sache ernsthaft angeht, der kann kein Genüge an äußerlich messbaren Erfolgen finden. Sie mögen, wenn sie sich denn einstellen und auch nicht ganz vereinzelt bleiben, Hinweise auf das Maß an Standhaftigkeit und Entschlossenheit sein. Sie sind aber keine Anzeichen dafür, dass erreicht worden wäre, worum es wirklich geht. Dies aber – das, worum es wirklich geht – ist die Einstellung selbst.

Und hier nun gibt uns unser heutiger Abschnitt aus dem Matthäus-Evangelium einige gute Hinweise.

Die Jünger des Täufers Johannes kommen zu Jesus und konfrontieren ihn mit ihrer Beobachtung, dass dessen Jünger „nicht fasten“: „Warum fasten wir und die Pharisäer so viel, und deine Jünger fasten nicht?“ Mit anderen Worten: Weshalb setzen sich deine engsten Anhänger und Weggefährten der verbindlichen Lebensordnung entgegen? Weshalb missachten sie, was gilt? Die Johannes-Jünger setzen die Verbindlichkeit voraus und kritisieren das abweichende Verhalten als zumindest begründungsbedürftige Entgegensetzung gegenüber Regel und Ordnung.

Und in der Tat gibt Jesus in seiner Antwort eine Begründung. Er verwirft das Fasten nicht, das ist das eine. Einer verkürzten, sehr weit verbreiteten Auffassung nach soll das allerdings der Fall gewesen sein. Aber so verhält es sich nicht. Völlig klar ist, dass in der Zeit nach Jesu Tod gilt: die Gemeinde fastet. Es gibt Zeugnisse aus der Frühzeit der christlichen Gruppen, die zeigen: Das gemeinsame Fasten (am Mittwoch und Freitag) hatte seinen ganz selbstverständlichen Ort im Gemeindeleben.

Jetzt aber, in der Zeit seiner Anwesenheit, in der Zeit des gemeinsamen Lebens mit ihm und in seinem Angesicht, unter dem Licht des Neuen, sieht es anders aus. Das Zusammensein mit ihm erzeugt eine Freude, die selbst alles Verhalten bestimmt. Das ist die Bedeutung jener Vergleiche mit einer Hochzeitsfeststimmung und dem Verhältnis von alten und neuen Schläuchen.

Dieser Antwortrede zufolge sind Altes und Neues unvereinbar. Das Neue stellt die Regeln und Gegebenheiten der hergebrachten Ordnung in Frage. Alt und Neu stehen sich in einer ganz grundlegenden Weise gegenüber. Wer zur Seite des Neuen gehört, blickt auf alles Vorherige nicht nur als auf etwas altes, sondern als auf etwas anderes zurück. Es ist überwunden; er lässt es hinter sich; sein Weg ist ein neuer Weg, nicht die, wenn auch noch so verändert betriebene, Fortsetzung des alten.

Wir müssen die Schärfe, die hier vorhanden ist, ganz klar sehen. Es nützt nichts, und sei der Wille noch so gut, irgendwie nach einer Harmonisierung zu streben. Nicht ohne Grund hat unsere Passage in der Geschichte des christlichen Glaubens immer wieder eine wichtige Rolle gespielt, wenn es um den Standort des Christentums ging. Dieser Standort wurde im Modell des Gegenübers, nicht dem der Anknüpfung und Weiterführung beschrieben. Altes und Neues Testament, fleischlicher und „neuer“ Mensch, Gesetz und Gnade, Kirche und Synagoge – all diese Gegensatzpaare haben im Denken zahlreicher Ausleger in den heute von uns betrachteten Jesus-Worten einen Anker. Auch Luther hat sich für seine Unterscheidung von „Gerechtigkeit des Gesetzes“ und „Gerechtigkeit des Glaubens“ auf sie bezogen.

Wie sollen wir damit umgehen? Wir können das ganze Problem, das sich hier auftut, heute, an diesem Aschermittwoch des Jahres 2020, natürlich nicht einmal im Ansatz aufgreifen oder gar lösen. Eines aber wollen wir heute nicht tun: Wir wollen uns dieser Sichtweise nicht unsererseits mittels eines Widerspruchs entgegensetzen. Es gibt eben nun einmal diese Auslegungstradition; sie ist mit Namen verknüpft, die uns Respekt abverlangen, und das auch dann, wenn wir der Auslegung selbst uns nicht anschließen können. Denn das ist, jedenfalls was mich betrifft, der Fall.

Lassen Sie es mich in aller Kürze und Unzulänglichkeit so formulieren: Zum einen handelt es sich bei der neutestamentlichen Passage, die die Rede Jesu enthält, um ein Dokument frühesten christlichen Denkens. In dieser allerersten Situation ging es um die Selbstbeschreibung des Neuen, das durch die Botschaft Jesu in die Welt gekommen war. Seine Botschaft war eine Botschaft von Gott, und das Verhältnis des Menschen zu Gott konnte seither nicht mehr in der gleichen Weise beschrieben werden wie zuvor. So haben es die Anhänger Jesu, die Christen dieser Zeit gesehen und empfunden; so haben sie es an sich selbst erlebt und in ihrem Leben gelebt. Das Neue der Botschaft Jesu war für sie eine Wirklichkeit, die als lebensbestimmende Wirklichkeit vor allem eine neue Wirklichkeit gewesen ist.

Jene späteren Ausleger haben ihrerseits das Ziel gehabt, die Besonderheit des christlichen Glaubens so deutlich wir möglich zu betonen. Und das haben sie unter anderem dadurch erreichen wollen, dass sie christlichen und jüdischen Glauben (wie sie ihn verstanden haben) in ein Gegenüber, ja einen Gegensatz gebracht haben, und zwar in den Gegensatz von Neu und Alt.

Mit diesen Dingen können wir nicht klarkommen, wenn wir sie leugnen. Sie gehören in die lange, verwickelte und auch schwierige Geschichte unseres Glaubens hinein. Es gibt da eben Höhen und Tiefen. Zu den Höhen im Zusammenhang mit unserem Abschnitt gehört nun aber der Mut zur Neudeutung. Und diesen Mut dürfen wir nicht nur, sondern sollen wir auch haben.

Für mich, wie für viele, die hierin in den letzten Jahrzehnten vorangegangen sind, ist nicht das Modell der Entgegensetzung, nicht der Gegensatz oder gar Widerspruch von Alt und Neu wichtig. Es mag das „Neue“ ja tatsächlich geben. Und dass es es auch wirklich gibt, wird man nicht ernsthaft bestreiten wollen. Es gibt es aber eben nicht im Gegensatz zum „Alten“, sondern stets und immer nur im Verhältnis zu ihm. Auch dass das Christentum in Form und Inhalt nicht einfach auf jüdische Vorbilder zurückgeführt werden kann, gleichsam wie eine konfessionelle Seitenbewegung, ist unzweifelhaft.

Für mich ist, wenn ich an dieses Thema gelange, die Bibel in ihrem ganzen Umfang der Rahmen. Auch in dieser Hinsicht geht es nicht um Harmonisierung. Was es da an widerstrebenden Tendenzen gibt, das kann als solches auch offengelegt werden. Aber es sind eben Strebungen und Spannungen innerhalb eines größeren Ganzen, das die verschiedenen Seiten zusammenhält. Darauf kommt es mir an. Dieses Ganze sollten wir im Auge behalten und stärker gewichten als die Differenzen, gehe es dabei nun um das Verhältnis von Christentum und Judentum oder um die unterschiedlichen Einstellungen und Verhaltensweisen im Blick auf das Fastengebot.

 

Amen.

 

 

Herangezogene Literatur:

Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus. Zweiter Teilband (Evangelisch-Katholischer Kommentar. Band I/2), Zürich und Braunschweig / Neukirchen-Vluyn 1990.

Luthers Bezugnahme findet sich in: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Band 38 [Schriften 1533 – 1536], Weimar 1912, S. 486.

 

 

 

 

Pfr. Dr. Dr. Matthias Wolfes
Berlin, Deutschland
E-Mail: wolfes@zedat.fu-berlin.de
de_DEDeutsch