Apostelgeschichte 12,1-11

Apostelgeschichte 12,1-11

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


16. Sonntag nach Trinitatis, 8. Oktober 2000
Predigt über Apostelgeschichte 12,1-11,
verfaßt von Christoph Führer


Liebe Gemeinde!

Zuerst kann es Petrus selbst kaum glauben: Er ist frei, wirklich
frei.
Eben war er noch Jerusalems bestverwahrter Häftling.
Eben
hielten ihn noch schwere Ketten in dunkler Zelle.
Spezialbewachung und ein
eisernes Tor liessen Fluchtgedanken
gar nicht erst aufkommen.
Das Ende
schien nahe, das Martyrium nur noch eine Frage von Stunden.
Doch das Wunder
geschieht.
Das Unwahrscheinliche, das, womit keiner rechnen durfte, wird
Wirklichkeit.
Der Engel des Herrn führt den Gefangenen heraus.
Die
mörderische Absicht des Herodes scheitert an Gott.
Gott will, dass
sein Bote am Leben bleibt, ins Leben zurückfindet.
Und plötzlich
steht Petrus auf der Strasse, ohne Ketten und sehr verwundert.
Er wird nun
weiter predigen und Gemeinde bauen.

Die gute Nachricht von Jesus Christus wird sich weiter
ausbreiten – trotz Verfolgung und Bedrängnis, über alle
Hindernisse hinweg.

Dies ist es wohl, was die Christen der ersten Generationen aus der
Geschichte von der wunderbaren Befreiung des Petrus herausgehört,
herausgelesen haben.
Dies ist es, was Christen auch heute angesichts
böswilliger Behinderung und akuter Gefährdung trösten, ermutigen
kann.

Wir befinden uns freilich nicht in einer so
prekären Lage.
Wir leben in einem Land, in dem es durchaus nicht
gefährlich ist, Christ zu sein.

Wir brauchen nicht damit zu rechnen, um unseres Glaubens willen
hinter Gitter zu kommen. Christliche Kirchen sind noch immer (in der ehemaligen
DDR: wieder) privilegierte Institutionen, werden noch immer staatlich
gefördert. Wir dürfen mehr als wir können.

Sollten wir die Geschichte von der Befreiung des Petrus deshalb
lieber beiseite legen?
Sollten wir sie den afrikanischen und asiatischen
Mitchristen überlassen, die in militant andersgläubiger Umgebung
leben, glauben, hoffen müssen?

Ich meine, dies wäre voreilig.
Obwohl ich unter anderen
Bedingungen als Petrus und die Jerusalemer Urgemeinde lebe, obwohl ich als
praktizierender Christ nichts auszustehen habe, berührt mich die
Geschichte von Petrus und dem Engel.

Mich berührt ihre Botschaft:
Gott führt
aus dem Gefängnis.
Gott befreit.

Ich möchte mich hineinziehen lassen in die Dynamik der
Erzählung.
Und ich wünsche mir, dass möglichst viele
mitgenommen werden von ihrer österlichen Bewegung:
Der
Bewegung von der Gebundenheit zur Freiheit.
Von der Starre zur
Lebendigkeit.
Von der Isolation in die Gemeinschaft.
Von resignierter
Ergebenheit in scheinbar unabänderliches Schicksal zu hoffnungsvoller und
zukunftsfroher Aktivität.

Auch ohne Hafterfahrung im wörtlichen Sinn weiss ich sehr
wohl, was ein „Gefängnis“ ist und was es bedeutet,
„gefangen“ zu sein.
Ich weiss es von Menschen, mit denen mich der
Alltag zusammenführt.
Und ich weiss es von mir selbst.
Die Mauern
sind nicht aus Stein, Ketten und Türen sind nicht aus Eisen und nirgendwo
stehen bewaffnete Posten.
Trotzdem sind die „Gefängnisse“,
die ich meine, genauso wirklich wie das, in dem Petrus lag.

Ich erlebe Menschen, mit denen echtes Gespräch kaum
möglich ist.
Nicht, weil sie alt, müde oder ernsthaft krank
wären – ihre Fixierung auf die eigene Person, die eigenen
Bedürfnisse, Pläne und Beschwerden behindert, ja verhindert
förderlichen Austausch.
Sie sind gefangen in sich selbst.
Ich
kenne Ängste, die mich so „besetzen“, dass ruhiges,
vernünftiges Nachdenken und angemessenes Handeln nicht mehr möglich
sind.
Ängste, die Gedanken und Entschlüsse in eine falsche,
verderbliche Richtung lenken.
Ängste, die in die Enge führen, die
lähmen, die buchstäblich „ums Leben bringen“.

Ich begegne krankmachender Abhängigkeit – von
Menschen, von Tabletten, von lebensfremden Prinzipien.
Ich erfahre, was es
bedeutet, von künstlich geweckten, raffiniert gesteuerten
Bedürfnissen getrieben zu werden.
Ich werde damit konfrontiert,
wie psychische Krankheit Menschen in einem „dunklen Loch“
festhält und lebensnotwendige Kontakte unterbricht.

Wie das Gefängnis auch heissen mag:
Es engt ein, es
beschränkt, es legt fest.
Und allen Gefangenen geht es ähnlich:

Ihr Leben wird behindert, kann sich nicht recht entfalten, verkümmert.

Gefangenschaft stiehlt Leben.

Jedes Gefängnis ist schlimm.
Hier darf nichts
bagatellisiert, verharmlost, klein- oder fortgeredet werden.
Hier hilft
kein kerniger Spruch.
Hier hilft auch keine freundliche Ermahnung.
Der
Gefangene kann sich ja nicht aus eigener Kraft befreien.
Er kann
das, was ihn gefangen hält, nicht ohne weiteres hinter sich lassen.

Was also ist zu tun?

Ich kann „den Gefangenen besuchen“ und damit das
tun, was Jesus selbst seinen Jüngern nahelegt. (Matthäus 25, 36)

Ich kann mich auf meinen in Ängsten, Abhängigkeiten, Zwängen
oder sonstwie gefangenen Mitmenschen einstellen und wahrnehmen, wie es um ihn
steht.
Ich kann versuchen, bei ihm auszuhalten und mitzuleiden.
Und ich
kann behutsam daran gehen, seine Hoffnung zu wecken oder zu
stärken
.
Dabei werde ich der Versuchung widerstehen, den Mund zu
voll zu nehmen und zu versprechen, was nicht in meiner Macht steht.
Gott
führt aus dem Gefängnis.
Gott befreit.
Was
Petrus und ungezählte andere erfahren haben, kann heute ebenso geschehen,
ebenso wirklich und ebenso konkret.
Das ist der Grund jeder Hoffnung.

Vielleicht setzt Gott mich als Boten ein, als Engel, der den
Anstoss gibt für den Aufbruch in die Freiheit.
Ich weiss nicht und
muss auch nicht wissen, ob es sich tatsächlich so verhält.
Ich
sollte nur bereit sein.
Die Initiative liegt bei Gott.

Und was, wenn ich selbst gefangen bin?

Dann darf ich mir vor Augen halten:
Es gibt einen Weg ins
Freie.
Es gibt einen Helfer.
Er ist stärker als das, was mich
bindet.
Stärker als meine Angst.
Stärker als meine
Zwänge.
Stärker als meine Krankheit.

Gott kann auch mir einen Engel senden.
Wie irdisch oder
unirdisch der „dienstbare Geist“ erscheint – auf sein Gewand
kommt es nicht an.

Vielleicht sieht der Ausgang anders aus, als ich ihn mir
vorstelle.
Meine Phantasie, mein Blick ist begrenzt –
Gottes
Phantasie und Gottes Blick ist es nicht.
Er „weiss viel
tausend Weisen, zu retten aus der Not“.

Ich darf mir diese guten Worte immer wieder sagen.
So lange,
bis sie in mir wohltätig zu wirken beginnen.
Martin Luther gebraucht
in diesem Zusammenhang ein drastisches Bild:
Er spricht vom
„Wiederkäuen“ des göttlichen Wortes.

Es kann allerdings sein, dass ich gar nicht fähig bin, solche
Gedanken zu bewegen.
Dass nachhaltige innere Aktivität mehr Kraft
kostet, als ich in meiner Lage aufbringen kann.
Spätestens jetzt darf
ich vertrauenswürdigen Menschen signalisieren:
Betet für mich.

Fürbitte ist übrigens immer sinnvoll – auch
gegen eigene Zweifel.
Für sie ist es nie zu spät und nie zu
früh.

Ich höre die Geschichte von der wunderbaren Befreiung des
Apostels Petrus als Einladung.
Als Einladung zum Vertrauen und zur
Hoffnung.
Als Einladung zu befreienden Erfahrungen mit dem Gott des
Lebens – mit dem Gott, der uns das Leben gönnt, das „Leben in
Fülle“.

Amen.

Prof. Dr. Christoph Führer
Glockengasse 18
CH
– 8001 Z Ü R I C H
E-Mail:
chfuehrer@dplanet.ch

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