Apostelgeschichte 12,1-12

Apostelgeschichte 12,1-12

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


16. Sonntag nach Trinitatis, 8. Oktober 2000
Predigt über Apostelgeschichte 12,1-12,
verfaßt von Peter Kusenberg


Apg 12, Vers 1-11Um diese Zeit legte der König Herodes
Hand an einige von der Gemeinde, sie zu misshandeln. Er tötete aber
Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert. Und als er sah,
dass es den Juden gefiel, fuhr er fort und nahm auch Petrus gefangen.
Es waren aber eben die Tage der Ungesäuerten Brote. Als er ihn nun
ergriffen hatte, warf er ihn ins Gefängnis und überantwortete ihn
vier Wachen von je vier Soldaten, ihn zu bewachen. Denn er gedachte,
ihn nach dem Fest vor das Volk zu stellen. So wurde nun Petrus im
Gefängnis festgehalten; aber die Gemeinde betete ohne Aufhören für
ihn zu Gott.

Und in jener Nacht, als ihn Herodes
vorführen lassen wollte, schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit
zwei Ketten gefesselt, und die Wachen vor der Tür bewachten das
Gefängnis. Und siehe, der Engel des Herrn kam herein und Licht
leuchtete auf in dem Raum; und er stieß Petrus in die Seite und
weckte ihn und sprach: Steh schnell auf! Und die Ketten fielen ihm von
seinen Händen.

Und der Engel sprach zu ihm: Gürte
dich und zieh deine Schuhe an! Und er tat es. Und er sprach zu ihm:
Wirf deinen Mantel um und folge mir! Und er ging hinaus und folgte ihm
und wusste nicht, dass ihm das wahrhaftig geschehe durch den Engel,
sondern meinte, eine Erscheinung zu sehen. Sie gingen aber durch die
erste und zweite Wache und kamen zu dem eisernen Tor, das zur Stadt
führt; das tat sich ihnen von selber auf. Und sie traten hinaus und
gingen eine Straße weit, und alsbald verließ ihn der Engel.

Und als Petrus zu sich gekommen war,
sprach er: Nun weiß ich wahrhaftig, dass der Herr seinen Engel
gesandt und mich aus der Hand des Herodes errettet hat und von allem,
was das jüdische Volk erwartete.

Liebe Gemeinde!

 

In der hinter uns liegenden Woche ist viel zurück erinnert worden
an die deutsche Vereinigung vor zehn Jahren: es gab Dokumentationen,
Feiern und Feste und – wie das in der Politik oft so üblich ist – ein
bisschen Zanken um die Verdienste.

Eindrucksvoller als die Festreden und Jubelfeiern waren für mich
die Momente, wo Menschen noch einmal mit ihren eigenen Eindrücken aus
dieser Zeit zu Wort kamen – wie sie die wachsenden Massenproteste in
der DDR erlebten, die Öffnung der Grenze und schließlich die
Vereinigung von Ost- und Westdeutschland. Da bekommen die
Schilderungen Farbe, werden lebendig und greifbar.

Das hat eine einfache Erklärung. Uns geht es ja ganz genau so,
wenn wir anderen Menschen aus unserem Leben erzählen. Dann tun wir
das auch nicht in Form eines Lebenslaufes mit Geburt, Schule,
Berufsausbildung usw., sondern beschreiben Szenen, die wir in
Erinnerung behalten haben, weil sie uns im Inneren bewegten und noch
weiter bewegen.

Anlässlich von Beerdigungen erlebe ich es manchmal, wie Grabredner
aus Parteien oder Vereinen eine Fülle von Jahreszahlen, Verdiensten
und Jubiläen aufbieten, um das Leben des Toten zu würdigen. Solche
Schilderungen muten mir stets beliebig austauschbar an; aus Fakten und
Zahlen entsteht mir mich kein Bild.

Leben lässt sich nicht beschreiben, indem ich nur Tatsachen
aufzähle. Das gilt auch für mein Christsein. Angenommen, es würde
mich jemand nach meinem Leben als Christ fragen: würde ich es dann
bei der Aufzählung von Taufe, Konfirmation und Trauung lassen? – Weit
eher würde ich dann doch wohl reden von den Zeiten, wo ich zweifelte,
voller Furcht oder banger Hoffnung war, von den Augenblicken, in denen
ich mich geborgen und getröstet fühlte in Leid und Schmerz. Und
vielleicht auch von den Momenten, voll Glück über etwas unverhofft
Schönes, wo ich dankbar beten konnte, auch wenn ich es manchmal
vergaß.

Dies ist doch das Wichtige, das Entscheidende, das mich prägt und
unverwechselbar macht. Der Verfasser des Predigttextes schreibt
deshalb auch nicht: „In Jerusalem, um das Jahr 40 nach Christus, kam
es unter König Herodes Agrippa zu einer ersten systematischen
Verfolgung von Christen. Die Apostel Jakobus und Petrus wurden
eingekerkert, weitere Angehörige der Gemeinde verhaftet und verhört.
Jakobus wurde kurz darauf hingerichtet. Petrus dagegen konnte seiner
Verurteilung durch eine spektakuläre Flucht aus dem Gefängnis unter
noch ungeklärten Umständen entgehen. Sein derzeitiger Aufenthaltsort
ist unbekannt, doch es ist wahrscheinlich, dass er bei Sympathisanten
untergetaucht ist.“

So hieße ein Bericht im Nachrichtenstil, heute aktuell und kurze
Zeit später vergessen. Lukas aber, der Verfasser der
Apostelgeschichte, will keine nüchterne Chronik der Ereignisse geben.
Er möchte will seine Leserinnen und Leser an den Erlebnissen jener
ersten Christen, an ihren Gedanken und Empfindungen, an der
Entwicklung ihres Glaubens teilnehmen lassen. So entstand sein
farbiger und spannungsvoller Bericht über jene bedrohliche Zeit und
wurde zu einem Zeugnis der Hoffnung und des Trostes für spätere
Generationen.

Er schildert die Stimmung in der jungen christlichen Gemeinde in
Jerusalem. Wer zu ihr gehört, ist voll Angst und Sorge. Noch ist ja
der Steinhagel im Gedächtnis, der Stephanus, den ersten der
Märtyrer, tötete. Noch erinnern sich die meisten an jene Welle von
Verhaftungen, an denen Saulus, der spätere Apostel Paulus, vor seiner
Bekehrung maßgeblich beteiligt war. Jetzt leitet der König selbst
die Verfolgung. Er ist durch die römische Besatzungsmacht im Lande
politisch bedeutungslos geworden und möchte deshalb die Bevölkerung
für sich gewinnen, die Stimmung der Massen auf seiner Seite haben.

Da sind ihm als Mittel die verhassten, aber sich treu zu ihrem
Herrn haltenden Christen gerade recht. Denn wo es um politische
Machkämpfe geht, müssen ja oft zuerst diejenigen herhalten, die fest
zu ihrer Meinung oder religiösen Überzeugung stehen. So lässt
Herodes die verantwortlichen Männer der Gemeinde verhaften. Die
Apostel Jakobus und Petrus kommen ins Gefängnis. Die Zukunft sieht
düster aus. Das Schicksal der beiden Männer ist besiegelt, ja mehr
noch, das Ende der christlichen Gemeinde in Jerusalem scheint damit
gekommen.

Wie soll es weitergehen? So fragt sich die kleine Schar der
wenigen, die bisher verschont geblieben sind. Was sollen wir tun?
Natürlich wäre es, Widerstand zu leisten und zurückzuschlagen. Wer
dauernd unterdrückt und verfolgt, verhört und gequält wird,
entwickelt zunächst inneren Widerstand und kann dabei vielleicht
lange schweigen und aushalten. Aber zugleich sammeln sich Hassgefühle
an, wird die Wut aufgestaut. Ein Tropfen bringt das Fass schließlich
zum Oberlaufen. Und dann schlägt der Gequälte zurück, mit aller
Kraft, deren er noch fähig ist, oder er geht ebenso brutal gegen
andere vor.

Ein Kind zum Beispiel handelt so, das von seinen Eltern ständig
gegängelt, unterdrückt, ja geschlagen wird. Gegen die Erwachsenen
kann es nichts unternehmen, aber an seine Geschwister und
Spielkameraden wird es die Schläge weitergeben, die es selbst
erlitten hat. Es kommt uns selbst ja auch natürlich und verständlich
vor, zurückzuschlagen oder andere büßen zu lassen, wenn wir
verletzt sind, innerlich oder äußerlich.

Aber auf diese Weise wird der verhängnisvolle Teufelskreis nicht
durchbrochen, in dem wir leben. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“,
heißt dieses gnadenlose Gesetz, durch das nur der Stärkere Recht
behält. Die Christen in Jerusalem erinnern sich, wie Jesus sich
hierzu geäußert hatte: „Ich aber sage euch, dass ihr nicht
widerstreben sollt dem Übel; sondern, wenn dir jemand einen Streich
gibt auf deine rechte Backe, dem biete die andere auch dar.“ – Er
hat diese Worte nicht nur geredet, sondern nach ihnen gelebt,
entschlossen, geduldig, bis zum Kreuz. Und die Kraft zu diesem
unerschütterlichen Verhalten kam aus seiner bedingungslosen
Hinwendung zu Gott, die er täglich übte. Im Gebet. Und deshalb
heißt es von jenen Christen in Jerusalem: „

die
Gemeinde betete ohne Aufhören zu Gott
„.

Und damit bin ich wieder am Anfang meiner Predigt. Zehn Jahre
Wiedervereinigung. Mir fallen wieder die Ereignisse bei der
friedlichen Wende in der ehemaligen DDR ein. Gebete waren es doch, die
voraufgegangen waren, die Auslöser waren für ein Ereignis, auf das
zu hoffen viele schon lange nicht mehr wagten. Und natürlich denke
ich auch an die Gemeinde im benachbarten Göttingen, die für die
Freilassung ihrer Mitglieder aus Geiselhaft gebetet hat (und noch
weiter für die verbliebenen Gefangenen betet).

„Ohne Aufhören zu Gott beten“ – in diesem Satz kann auch
ich heute Hilfe für meine Gegenwart empfangen, wenn ich in einer
ähnlichen Situation lebe, oder mich auf die Zukunft vorbereiten,
sozusagen trainieren für den Ernstfall, um kommende Bewährungsproben
meines Glaubens zu bestehen. Verfolgung und Bedrohung, Gefängnis oder
gar Lebensgefahr haben Christinnen und Christen hier zu Lande zwar
nicht zu fürchten, aber die Verächtlichkeit, der Spott, der
herablassende Zug um den Mundwinkel – ich weiß, wie schwer das
mitunter zu ertragen ist.

„Ohne Aufhören zu Gott beten“ – auch wer darin ungeübt
ist, braucht wegen dieses Satzes nicht enttäuscht zu sein. Denn Beten
ist nicht an bestimmte Zeiten, Worte oder gar Gebärden gebunden, so
hilfreich dies alles sein kann. Beten ist zu allen Zeiten und in jeder
Weise möglich, als Hinwendung zu Gott, als Gespräch mit ihm, wie ich
mit einem guten Freund rede. Auch dann, wenn ich zweifle, brauche ich
den Mut nicht zu verlieren, weil ich vielleicht von mir meine, mein
Glaube sei nicht stark genug.

Lukas berichtet im Anschluss an den Predigttext, wie erstaunt die
Gemeinde in Jerusalem ist, als sie hört, Petrus stehe vor der Tür.
„Du bist von Sinnen“, sagen alle der Magd, die die Nachricht
überbringt. Niemand hat mit der Befreiung des Petrus gerechnet,
keiner will es zunächst glauben.

Am eindrucksvollsten jedoch hat Petrus diese unerwartete Wende
erlebt. Er bekennt: „Nun weiß ich wahrhaftig, dass der Herr mich
errettet hat.“ – Uns beschleicht bei diesen mutigen Worten
vielleicht ein ungutes Gefühl. Denn wir wissen genau, wie schwer es
uns und vielen anderen in der Gegenwart fällt, im alltäglichen Leben
von der Führung und Bewahrung durch Gott zu sprechen. Offene und
direkte Worte dieser Art scheinen nicht mehr in unsere Zeit zu passen.
Aber wenn wir es auch nicht so ausdrücken können wie Petrus, so
haben wir vermutlich in ähnlicher Weise manchmal gedacht und
empfunden, oder uns zumindest gewundert, wie und mit welcher Kraft wir
Zeiten äußerster Not und Verzweiflung überstanden haben. Haben wir
nicht auch schon irgendwann einmal einen „Schutzengel“ gehabt?

Und vielleicht erinnern wir uns zuletzt auch an Kleinigkeiten, die
aber entscheidend sind: Ein ermutigendes Wort, das Kraft gab; eine
weiter helfende Tat, die hoffen ließ; ein wenig Verständnis, das
Selbstvertrauen weckte. Und im Erinnern und Staunen hierüber wächst
unser Glaube, weil es ja nichts anderes als Gottes Nähe war, die wir
spürten. Seine Engel können vielerlei Gestalt haben. Engel, die uns
aus Fesseln der Krankheit, der Gewohnheit oder des Unverständnisses
befreien und uns ermutigen, weiter „ohne Aufhören“ zu Gott zu
beten. Amen.

 

Peter Kusenberg
E-Mail: peter.kusenberg@kirche-erbsen.de


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