Apostelgeschichte 2, 41-47

Apostelgeschichte 2, 41-47

Einer teilt, die anderen suchen aus! | 7. So. n. Trinitatis | 23. Juli 2023 | Apg 2, 41-47 | Gert-Axel Reuß |

Liebe Gemeinde,

ich musste erst erwachsen werden, um zu begreifen, dass man eine Orange auch anders teilen kann, als sie zu vierteln. Ich selbst bin das Älteste von vier Geschwistern, und mir fiel häufig die Aufgabe zu, eine Tafel Schokolade „gerecht“ aufzuteilen. Dabei galt der Grundsatz: Einer teilt, die anderen suchen aus.

Meine Frau – sie ist die jüngste von fünf Geschwistern – amüsiert sich darüber, dass die Portionen auf dem Teller auch heute noch annähernd gleich aussehen, wenn ich schon in der Küche aufgefüllt habe. „Für alle das Gleiche“ habe ich tief verinnerlicht.

Nur das das manchmal nicht funktioniert, weil in der Tüte mit den Gummibären mehr rote als grüne vorhanden waren. Teilen Sie mal 51 Gummibären durch vier Kinder.

Wenn Sie mich fragen: dann muss es gerecht zugehen im Reich Gottes. Vielleicht nicht so, dass alle das Gleiche bekommen, aber doch so, dass alle zufrieden sind und niemand übervorteilt wird (nicht nach der Methode: Tausche Glaskugeln gegen Gold).

Ungerechte Wirtschaftsbeziehungen haben mich schon als jungen Erwachsenen beschäftigt. „Wer mit 20 Jahren kein Kommunist ist, hat kein Herz.“ soll der frühere britische Premierminister Winston Churchill einmal gesagt haben. Er soll allerdings hinzugefügt haben: „Und wer mit 40 immer noch Kommunist ist, hat keinen Verstand.“ Ob er damit recht hat?

In der christlichen Urgemeinde, der ersten Gemeinde, die nach Jesu Tod und Auferstehung in Jerusalem entstand, soll es nach dem Bericht der Apostelgeschichte eine Art „Liebes-Kommunismus“ gegeben haben, denn „alle, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte.“ (Apostelgeschichte 2, 44.45)

Das ist natürlich eine Utopie – einige Kapitel später schildert Lukas in seiner Apostelgeschichte, dass es mit dem Teilen irgendwie schon immer schwierig war. Aber ist mit dem Einbruch der Realität auch das Leitbild diskreditiert? Sind die Aufrufe zur Buße, die es in den Kirchen immer gegeben hat, vergebliche Liebesmüh? Ich erinnere mich noch an die Kampagne „Erlassjahr 2000“, die sich vor etwas mehr als 25 Jahren dafür einsetzte, die Schulden der weniger entwickelten Länder zu streichen. „Entwicklung braucht Entschuldung“ – so der damalige Slogan. Was ist seitdem passiert?

Immerhin: Einige Länder haben es seitdem geschafft, dem Schuldturm exponentiell wachsender Schulden zu entkommen. Und in den reichen Ländern des Nordens wächst die Einsicht, dass der Kolonialismus vergangener Jahrhunderte anderen Ländern und Nationen schweres Unrecht zugefügt hat.

„Wir haben alle Güter dieser Welt nur gemeinsam und teilen sie so auf, wie es nötig ist.“ Auch wenn wir uns oft anders verhalten – als Einzelne, als Länder bzw. Regierungen, als Organisationen und auf wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtete Unternehmen – in Zeiten des Klimawandels setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass wir nur gemeinsam überleben werden. Auch wenn wir uns nicht immer so verhalten – der Maßstab dieser Utopie bewahrt uns ein Stück Menschlichkeit und schenkt uns letztendlich Glück. Denn im Grunde wissen wir doch, dass ein gutes Geschäft auf Gegenseitigkeit beruht. Im Grunde wissen wir, dass man Glück nicht kaufen aber jemand anderen glücklich machen kann.

Der Erfahrungsraum, in dem die meisten von uns solches gelernt haben, ist die Familie. Ja – auch in den Familien geht es nicht immer gerecht zu. Manche haben ihr Leben lang das Gefühl, ein Geschwisterkind sei ihnen vorgezogen worden. Möglicherweise war das auch tatsächlich der Fall. Selbst dann, wenn es in materiellen Dingen gerecht zuging. Weil sich emotionale Bindungen dem Verstand eben nicht unterordnen lassen. – Allerdings könnte es auch ganz anders gewesen sein, als wir selbst es empfunden haben.

„Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter allen, je nachdem es eine(r) nötig hatte.“ (Vers 45)

Das eine Kind spielt Fußball, das andere spielt Cello. Wie schaffe ich da einen vernünftigen Ausgleich? Darüber haben sich gewiss schon manche Eltern den Kopf zerbrochen. Die eine braucht Lob, um zu besseren Leistungen zu kommen, der andere Tadel. Ist das gerecht? Was hat eine(r) nötig?

Die eigentliche Tücke besteht wohl in der Frage, wer darüber entscheidet, was nötig ist. In den Ordensgemeinschaften ist es die Äbtissin oder der Abt. In den Kibbuzim – den zionistischen Dörfern in Israel, die vor etwa 100 Jahren gegründet wurden – ist es die Gemeinschaft. Das vermeidet zwar keine Konflikte, aber möglicherweise werden Kompromisse so leichter gefunden.

Auch wenn sich die genossenschaftlich organisierten jüdischen Dörfer in Israel in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt haben, zeigt ihr Beispiel doch, dass ein Zusammenleben „wie in einer Familie“ möglich ist durch die Kraft einer Idee. Ohne verwandtschaftliche Bindungen. Nicht bluts- sondern seelenverwandt.

So ähnlich stellt sich Lukas die Ursprungsgemeinde vor, aus der die weltweite Kirche entstanden ist: „Alle haben alle Dinge gemeinsam.“ Einwände dagegen gibt es genug – auch mit Blick auf den Zustand der Kirchen, in denen es oft ganz schön weltlich zugeht. Der schon zitierte Churchill meinte: „Wer mit 40 immer noch Kommunist ist, hat keinen Verstand.“ Aber was ist dann aus dem Herz geworden? („Wer mit 20 kein Kommunist ist, hat kein Herz.“)

Vielleicht gibt es sie doch: Großzügigkeit um ihrer selbst willen. Freigiebigkeit ohne Hintergedanken. Menschenfreundlichkeit aus lauter Freude. Es könnte sein, dass all das mitten unter uns lebendig ist, nur dass wir es nicht wahrnehmen und würdigen. Dass wir darüber hinweg gehen, weil wir darüber hinwegsehen. Es könnte sogar sein, dass wir davon abhängiger sind, als wir uns bewusst machen. Davon, dass andere uns freundlich begegnen. Dass Kleinlichkeit und Geiz überwunden werden. Auch in unseren Herzen und unserem Denken.

Was für eine attraktive Gemeinschaft könnte unsere Kirche sein, so dass man sich um ihren Fortbestand keine Sorgen zu machen bräuchte: „Und der Herr fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.“ (Vers 47)

Lukas – so denke ich – würde sagen: „Aber sie ist es doch! Der Geist Gottes ist lebendig, er ist auch unter euch lebendig. Vor allem aber: Er macht lebendig!“

Trau Dich was, liebe Kirche!

Traut Euch was, liebe Kirchen-menschen!

Macht Eure Augen auf, dann entdeckt Ihr an allen möglichen und unmöglichen Ecken, dass Gott rettet. Und mit uns anfängt!

 

Liebe Gemeinde,

ein Letztes. Die Sache mit der Orange. Möglichweise kennen Sie die Pointe schon. Weil Sie sie im Leben beherzigen. Dann – da bin ich sicher – hat Gott Ihre Phantasie längst aufgeweckt.

Ich selbst esse leidenschaftlich gerne Marzipan und verschenke es auch gerne weiter. Jedes Weihnachtsfest muss ich mir in Erinnerung rufen, dass meine inzwischen erwachsene Tochter kein Marzipan mag (Mandeln in feiner Sahne-Schokolade aber schon).

Es könnte sein, dass die eine gerne Orangensaft trinkt – und eine andere die Schale braucht. Für eine leckere Marmelade. Oder einen Kuchen. – Guten Appetit!

Amen.


Gert-Axel Reuß

Domprobst

Domhof 35

23909 Ratzeburg

Mail: reuss@ratzeburgerdom.de


Gert-Axel Reuß, geb. 1958, Pastor der Nordkirche, seit 2001 Domprobst zu Ratzeburg

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