Apostelgeschichte 26

Apostelgeschichte 26

Nachfolge | 21.11.2023 | Apg 26 | Thomas Schlag |

Liebe Gemeinde,

in der alphabetischen Logik eines theologischen Wörterbuchs kommt der Begriff «Nachfolge» etwa in der Mitte zu stehen. In einem der umfangreichsten und bedeutendsten Lexika, der sogenannten RGG, und hier in vierter Auflage, findet sich natürlich auch ein Artikel «Nachfolge» bzw. genauer «Nachfolge Christi». Dieser ist zwischen den Artikeln «Nachbarschaft» und «Nachhaltigkeit» positioniert, was ja irgendwie charmant ist. «Nachfolge» ist also mindestens lexikalisch ziemlich mittendrin im Ganzen theologischer Kernbegriffe – und zugleich lebensweltlich gerahmt.

Was allerdings den aktiven Wortgebrauch, also gleichsam das alltägliche christliche Schatzbüchlein angeht, scheint «Nachfolge» aus der Mitte hinweg längst an den Rand gedrängt und aus dem Blick geraten zu sein. Wer wollte noch wagen, den Begriff leichtfertig im Mund zu führen – da fällt es offenbar leichter, angesichts des aktuellen Klimawandels von «Nachhaltigkeit» zu sprechen.

Wenn heute von «Nachfolge» die Rede ist, so lagern sich dabei im allgemeinen Bewusstsein eher politisch-mediale Begriffe an: So ist dann etwa bildlich von der Übergabe des Amtszepters, oder weniger königlich und mehr sportlich von der Weitergabe des Staffelstabes die Rede. Realistisch und pragmatisch gesehen kündigt sich, wenn es um Nachfolge geht, ein demokratisches Prozedere an, um Amtsübergabe und Machtwechsel geordnet zu strukturieren und zu inszenieren. Die regulatorische Schrittabfolge geht von A nach B und ist mehr oder weniger klar, absehbar und so auch verlässlich.

Nicht selten führt der «Nachfolge»-Begriff aber auch den Schatten eines Vorgängertums, manchmal auch eines Vorgängerirrtums mit sich. Das mag man aktuell der gestrigen Rücktrittserklärung der EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus ablesen, für die nun ebenfalls eine Nachfolge gesucht wird und man nun also auf den notwendigen Neuanfang hofft.

Nun hat, liebe Synodenmitglieder, dieses Thema heute auch für unsere Zusammenkunft einen festen Sitz im Leben: Also: «Theologisches Wörterbuch» – «christliches Schatzbüchlein» – «Amtsübergabe und Machtwechsel»: Steht die theologische Rede von Nachfolge in der Mitte, oder ist sie längst an den Rand gedrängt. Kündigt sich im Begriff ganz pragmatisch-realistisch vor allem ein demokratisches Prozedere an oder ein substantieller Neuanfang?

Wie soll man sich als aufmerksamer Christenmensch Nachfolge überhaupt vorstellen? Und ist das nicht alles viel zu hoch, geradezu nach den Sternen gegriffen – noch zumal dann, wenn eben das anfangs genannte Wörterbuch gleich sogar die «Nachfolge Christi» aufruft?

Ich versuche es mit einem Bild bzw. mit einer Vielzahl von Bildern.

Nachfolge stelle ich mir so vor, dass man sich unter einer grossen gläsernen Kuppel befindet. Es ist insofern nicht einfach nur eine «nette Illustration», wenn Sie nun in den Fusszeilen des Liturgieblattes verschiedene solcher gläsernen Kuppeln entdecken können:

Das ist tatsächlich ein buntes Ensemble unterschiedlichster Herkunft und architektonischer Überlegungen: Es finden sich in gegebener Reihenfolge kirchliche Kuppeln des Petersdoms in Rom, der wenigstens etwas Licht durchlässt, einer katholischen Kirche in Würzburg, der Synagoge in Graz und einer Moschee in Hannover sowie einer orthodoxen Kirche in Russland. Desweiteren die Kuppel des Reichstags in Berlin sowie des Zukunftslabors Biosphere 2 in der Wüste Arizonas. Eine kleine Nebenbemerkung: das dritte Bild von rechts lässt sich nicht geografisch zuordnen, weil es komplett durch Künstliche Intelligenz konstruiert wurde.

Auch dieses Gotteshaus St. Jakob, in dem wir uns heute befinden, weist sich durch eine Kuppelarchitektur aus – wenn auch leider mit geschlossenem Blick gen Himmel. Kuppelbauten sind, so hat es einmal ein Architekturhistoriker formuliert, sind Meisterwerke, weil sie bei aller Schwere der Steine und Konstruktion zu schweben scheinen.

Ich nehme nochmals den bereits gesagten Satz auf: Nachfolge bedeutet für mich, sich unter einer grossen gläsernen Kuppel zu befinden.

Wie kann das verstanden werden?

Die architektonische Idee der Kuppel und erst recht ihrer gläsernen Variante ist sozusagen erhabene Multiperspektivität.

Wer unter der Kuppel steht, hat unterschiedlichste Optionen, von dort aus weiterzuschauen und weiterzugehen. Denn der eigene Blick kann sich sogleich in unterschiedliche Richtungen ausrichten.

Er kann nach oben gehen, aber auch auf den Grund und Boden nach unten. Er kann sich im 360 Grad-Sinn nach vorne, nach hinten, auf die linke Seite und auf die rechte Seite drehen. Sobald man sich dreht oder wendet, richtet sich auch die Perspektive neu aus. Und möglicherweise stellt man fest, dass man eben nicht alleine, sondern gemeinsam, sozusagen nachbarschaftlich gemeinsam unter der Kuppel steht.

Die gläserne Kuppel lebt davon, dass man eben sowohl Licht von oben und aussen empfängt als auch selbst in das Helle hineinzublicken vermag. Durch das transparente Glas hindurch wird der Blick ins Weite möglich – und doch zugleich bleibt man in einem klar umgrenzten Raum.

So mag man es sich auch mit der Nachfolge vorstellen: Das ist nicht einfach ein einliniger Weg, auf dem man von A nach B wandert. Das ist nicht einfach eine klare Schrittabfolge, in der alles mehr oder weniger schon von Anfang an klar feststeht.

Die Erfahrung, in der Nachfolge zu stehen, eröffnet den eigenen Blick in alle nur denkbaren Richtungen. Sobald man sich dreht oder wendet, richtet sich auch die Perspektive neu aus. Nachfolge lebt davon, dass man eben sowohl Licht von oben und aussen empfängt als auch selbst in das Helle hineinzublicken vermag.

Zugleich weiss man, dass der Blick in den Himmel hinaus auf Dauer Nackenstarre verursacht – und für Glaskuppeln gilt, dass sich hier eine Hitze entwickeln kann, die auf Dauer nicht auszuhalten ist. Hinsichtlich der «Nachbarschaft» wirft ein geschlossener Raum wie die Biosphere 2 ohnehin die Frage auf, wie lange man es mit Menschen in einem solchen geschlossenen Raum aushalten kann und wann eigentlich der Sauerstoff nicht mehr für alle reicht und man im wahrsten Sinn des Wortes das Weite suchen muss.

Und nun also auch noch die christliche Rede von der Nachfolge Christi, die, wie schon erwähnt, fast zu sehr nach den Sternen zu greifen scheint: Ist das vorstellbar? Kann man Nachfolge wieder in die Mitte des christlichen Schatzbüchleins stellen? Lassen Sie mich darauf eingehen, indem ich diese bildhafte Nachfolge mit einem höchst dramatischen biblischen Text sozusagen verkuppeln will.

Hören Sie selbst …

Kurzes Orgelzwischenspiel

Hören Sie nun selbst, was der Apostel Paulus in seiner Erinnerung in der Apostelgeschichte berichtet:

Ich freilich meinte selbst einmal, ich müsse den Namen des Jesus von Nazaret mit allen Mitteln bekämpfen.

Das habe ich in Jerusalem auch getan: Viele von den Heiligen liess ich, ausgestattet mit der Vollmacht der Hohen Priester, in Gefängnisse einsperren, und wenn sie hingerichtet werden sollten, stimmte ich dafür.

In allen Synagogen nötigte ich sie, oftmals unter Anwendung von Folter, Gott zu lästern, ja in masslosem Wüten verfolgte ich sie sogar über Jerusalem hinaus in andere Städte. 

Als ich in solcher Absicht mit Vollmacht und Erlaubnis der Hohen Priester nach Damaskus reiste, sah ich unterwegs, mein König, mitten am Tag ein Licht, das mich und meine Begleiter vom Himmel her umstrahlte, heller als das Leuchten der Sonne.

 Wir stürzten alle zu Boden, und ich hörte eine Stimme, die auf Hebräisch zu mir sagte: Saul, Saul, was verfolgst du mich? Es wird dich hart ankommen, gegen den Stachel auszuschlagen. Ich sagte: Wer bist du, Herr? Der Herr sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst.

 Aber nun steh auf und stell dich auf deine Füsse! Denn ich bin dir erschienen, um dich zu erwählen zum Diener und zum Zeugen für mich, so wie du mich jetzt gesehen hast und wie ich dir künftig erscheinen werde.

 Darum, König Agrippa, war ich der himmlischen Erscheinung nicht ungehorsam, sondern ich verkündigte zuerst den Leuten in Damaskus, dann in ganz Judäa und unter den Heiden, es gelte umzukehren, sich Gott zuzuwenden und zu tun, was der Umkehr entspricht.

Da mir nun bis auf den heutigen Tag Hilfe von Gott zuteil geworden ist, stehe ich hier und lege Zeugnis ab vor Gross und Klein, indem ich nichts anderes sage, als was nach den Worten der Propheten und des Mose geschehen musste:

dass nämlich der Gesalbte leiden muss und dass er als Erster von den Toten auferstehen und dem Volk und allen Völkern das Licht verkündigen wird.

Kurzes Orgelzwischenspiel

Paulus beschreibt in dieser dramatischen Szene nicht mehr und nicht weniger als seine Erfahrung, seine ganz persönliche Nachfolge Christi. Man mag sich dieses so genannte Damaskuserlebnis wie unter einer gläsernen Kuppel, unter dem geöffneten Himmel vorstellen: Das vermeintlich zielsichere Voranschreiten hin zur weiteren Verfolgung wird auf einmal unterbrochen. Mitten auf der Wanderung von A nach B beginnt ein Licht zu strahlen.

Dann der Sturz zu Boden und das Hören des Wortes. Der existenzielle Dialog: Saul, Saul, was verfolgst du mich? Es wird dich hart ankommen, gegen den Stachel auszuschlagen. Ich sagte: Wer bist du, Herr? Der Herr sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst.

Dann die Aufforderung: Stell dich wieder auf die Füsse. Also den Blick neu auszurichten, sich umzublicken, seinen eigenen weiteren Weg in die Nachfolge zu suchen. Und für diesen Weg wird Paulus eben das entscheidende Wort mitgegeben:

Denn ich bin dir erschienen, um dich zu erwählen zum Diener und zum Zeugen für mich, so wie du mich jetzt gesehen hast und wie ich dir künftig erscheinen werde. Dieser Vers ist übrigens, wie es der Zufall will, der neutestamentliche Lehrtext der heutigen Losungen.

Damaskus ist eine dramatische Einzelerfahrung – und es ist natürlich eine exzeptionelle Form der Bekehrung eines einzelnen Menschen und Apostels. Und doch stelle ich mir so vor, was «Nachfolge Christi» inmitten des eigenen Lebens bedeuten und was sie ausstrahlen kann.

Im Zentrum ist dann nicht mehr der verengte Blick nur auf den nächsten politischen Schritt. Der Kuppelblick verengt nicht, sondern weitet den Blick auf 360 Grad.

Wir benutzen den Nachfolgebegriff ja wie gesagt häufig höchst profan und fast einlinig in die Richtung, dass eben ein Neuer, oder eine Neue dem Alten folgt – Nachfolge wird dann primär unter dem Motto der Machtförmigkeit beraten, bestimmt und beschlossen – und sogleich gerät das Licht der Kuppel aus dem Auge und man richtet sich auf die Helligkeit der projizierten Abstimmungsresultate aus.

Nachfolge ist eben nicht in erster Linie eine pragmatisch-realistische Schrittabfolge des Machtwechsels. Das bedeutet, sich auch als Kirche unter der Kuppel eine weite Perspektive zu bewahren, nicht nur handfeste Wahlgründe zu suchen und hoffentlich zu finden, sondern auch aufzuschauen, die perspektivische Weite von Jesu Auftrag in den Blick zu nehmen.

Es geht um nicht weniger und nicht mehr als darum, den Gesalbten und seine Auferstehung zu verkündigen. Das ist es, worauf es heute entscheidend ankommt, wo und wann immer wir ganz irdisch die eigenen nächsten Nachfolgeschritte gehen.

So lässt sich dieses Erlebnis des Paulus mit unserer eigenen Existenz verkoppeln oder ich sage lieber «verkuppeln».

Macht ist eben für Christenmenschen nicht in erster Linie ein horizontales Abschreiten von Machtoptionen und Machträumen, sondern ein vertikal ausgerichtetes Hinblicken dorthin, woher das Licht kommt.

Um Zeuge und Diener, Zeugin und Dienerin werden zu können, muss ich manchmal hart wie Paulus auf dem Boden aufprallen. Und Nachfolge heisst dann eben nicht, sich selbst wieder ganz von allein aufrichten zu können, sondern aufgerichtet und neu ausgerichtet zu werden.

Dies bedeutet dann auch, so weiterzugehen, dass man alles Wesentliche vor Augen bekommt: den gestirnten Himmel über mir und den Boden unter den eigenen Füssen.

Diese Nachfolgekunst unter der Kuppel des sichtbaren Himmels besteht für uns alle darin, die Welt in den Blick zu nehmen, und gerade nicht in der eigenen Biosphere zu verbleiben.

Nehmen wir dieses Bild der Nachfolge, der gläsernen Kuppel mit in den heutigen Synodentag: Nachfolge als Kunst, die Dinge in die Mitte zu stellen, auf die es wirklich ankommt. Wie es einmal in einem schönen Beitrag die Zürcher Theologin Sabrina Müller formuliert hat: «Nachfolge ist freiheitliche und lebensfördernde theologische Praxis.»

Darum geht es: Im Rundumblick den Sinn und Geist offenzuhalten für andere und neue Perspektiven. Das christliche Schatzbüchlein mit dem Artikel «N=Nachfolge» immer wiederaufzuschlagen und zu pflegen. Damit wir offen werden für das, was uns auf den ersten Blick als unmöglich oder undenkbar erscheint.

Ja, Nachfolge Christi hat es mit bleibender Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für diejenigen zu tun, die gemeinsam mit uns unter der gläsernen Kuppel den offenen Himmel suchen und schauen.

Amen.

Prof. Dr. Thomas Schlag, Theologische Fakultät der Universität Zürich

Diese Predigt wurde im Rahmen des Gottesdienstes zur ordentlichen Versammlung der Zürcher Kirchensynode am 21. November 2023 in der St.-Jakobs-Kirche, Zürich gehalten. Wichtigster Tagesordnungspunkt war die Wahl des Kirchenratspräsidiums sowie des Amts der Kirchenratspräsidentin. Thomas Schlag ist Delegierter der Theologischen Fakultät in der Kirchensynode.

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