Lukas 4,16-30

Lukas 4,16-30

Haltet die Hoffnung hoch – jeden Tag | Erster Sonntag im Advent | 03.12.23 | Lukas 4,16-30 (dänische Perikopenordnung) | Jan Sievert Asmussen |

Viele Menschen haben Lieblingsausdrücke, die sie willentlich oder unwillentlich immer wieder verwenden. Worte, die immer wieder vorkommen. Der Evangelist Lukas hat auch seinen Lieblingsausdruck. Es ist das Wort „heute“ – oder semeron auf Griechisch. Der Engel sagt den Hirten in Betlehem: „Heute ist der Heiland geboren!“ „Heute werde ich Gast sein in deinem Haus“, sagt Jesus dem Zöllner Zachäus. „Heute werde ich mit Dir sein im Paradies“, tröstet Jesus am Kreuz den sterbenden Räuber an seiner Seite – so jedenfalls in der Erzählung des Lukas. Dazu das große„heute“ mit voller Emphase im Bericht über Jesus in der Synagoge: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren“.

„Heute, heute, heute!“ Mit diesem „heute!“ unterstreicht Lukas in stärkster Weise: Die Sache mit Jesus ist keine stets ferne Vergangenheit, sondern akut nahe Gegenwart. Die Zeit vergeht. In jeder Mitternachtsstunde wird ein „heute“zum „gestern“. Und wenn „heute“ zum „vorgestern“ oder „Jahre zurück“ geworden werden sind, bleibt vom „heute“nur ein Hauch der Erinnerung im Dunkel des Vergessens. Es wird bedeutungslos wie alte Zeitungen, die herumliegen – nur nützlich zum Einpacken von Fischen oder als Zündmittel im Ofen. Scharf, akut, jetzt ist nur der gegenwärtige Moment.

Wenn Christus also irgendeine Bedeutung haben soll, reicht es nicht zu sagen: „Vor langer, langer Zeit in einer fernen, fernen Galaxie“. Nein, falls Christus überhaupt des Bekenntnisses und der Anbetung wert sein soll, müssen wir wie Lukas ein „heute“ finden und behaupten. Es ist mit Christus wie mit Allem: Jetzt oder nie! Die Frage lautet also: Wer kann Christus eigentlich sein für uns – heute?

Es genügt nicht, die Bibel als Erzählung aus einer fernen Vergangenheit zu lesen – die Zeit der Wunder, der Engel, der Antike: Gestern. Es genügt auch nicht zu sagen: Irgendwann in der Zukunft werden Hoffnungen erfüllt, bekommt die Liebe festen Halt, waltet der Friede und alles wird gut. Es ist zu billig, Christus in alten Sagen und ferner Zukunftsmusik zu verorten. Nein: Wer ist Christus für uns in jenem „heute“, welches sich die ganze Zeit verschiebt? Genau dort, wo wir gerade sind?

Es ist der erste Sonntag im Advent. Wir sind schon in einem Winter, der uns Sorgen macht. Menschen, die wir kennen, werden durch diesen Winter erkranken. Wir werden an die Frierenden in der Ukraine denken, deren Stromversorgung gebombt werden wird. Wir werden Spuren des Krieges in Gaza auch in unserer Gesellschaft spüren. Unsere Wirklichkeit scheint uns wie eine Seifenblase, die zwar lange geschwebt hat, ihre Oberfläche beginnt sich aber jetzt zu marmorieren. Bald wird sie bersten. Deshalb: Wer ist Christus für all dies, also in unserem heute?

In der Synagoge von Nazareth wird eine Antwort formuliert. Als Jesus die Thorarolle öffnet, liest er aus dem Propheten Jesaja über gute Botschaft den Armen, den Blinden, dass sie sehen sollen und ein Gnadenjahr des Herrn – Letzteres bedeutet eine Vergebung aller Schuld und eine Aufhebung aller Schulden und damit eine Chance des Neuanfangs. So steht’s im alten Buch. Als Jesus jedoch sagt: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt“, wandert der Blick vom Buch auf Jesus selber. Er behauptet, dieses Neue sei in ihm, mit ihm. Das Evangelium fasst es in Worte: Eine neue soziale Rangordnung, wo die Armen glücklich werden, Kinder reich werden und die Mächtigen in den Schwachen ein Vorbild bekommen. Eine Rückführung der Ausgeschlossenen zur Gemeinschaft und ein Neuanfang für jene, die festsitzen: Mit all dem kam er und lehrte seine Jünger, genau um dieses zu beten: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“.

Jesus selber war Protagonist dieser neuen Ordnung. Aber sie steht und fällt nicht mit ihm. „Macht andere zu meinen Jüngern“, sagt er. Das heißt: Lasst Liebe und Barmherzigkeit, Güte und Hoffnung wachsen wie Brot, das aufgeht und mit vielen geteilt wird. Und seht, sagt Jesus: Wo das geschieht, dort bin ich mitten unter euch.

Als die Leute in der Synagoge ihn dieses sagen hörten, „gaben sie ihm ihren Beifall und wunderten sich über seine gnadenvollen Worte.“ Genau das war ihr „Heute-Erlebnis“. Das alte Buch wurde ersetzt durch die Person Christi. An anderer Stelle in der Bibel wird dieser Übergang bildlich beschrieben: Jesus schluckt das Buch, mach es zu seinem Körper. Jesus wird zur wandernden Thora. Die lebendige Thora.

Damit finden wir Mut, die Frage zu beantworten, wer er heute für uns ist. Lukas hilft uns durch den Bericht über Jesus in der Synagoge in Richtung einer Antwort: Christus befindet sich dort, wo wir das Gnadenvolle genau jetzt finden, das unser Beifall und unsere Freude weckt. Gnadenvolles gibt es an allen Ecken und Enden. Gnadenvoll wie ein Mensch, der sein Leben zu Ende gelebt hat und sagt: Heute bin ich bereit zu sterben. Gnadenvoll wie ein Mensch, der händewringend zum Krebsgespräch mit dem Oberarzt ging und die Klinik verließ mit einem: „Die Chemotherapie hat geholfen!“ Gnadenvoll wie der Vater, der im selben Krankenhaus, die vierjährige Tochter an der Hand, mit leichten Schritten geht, die erzählen: Heute bekamen wir eine kleine Schwester! Gnadenvoll wie junge Gesichter, die durch schlechte Prognosen nicht niedergeschlagen sind, sondern im strömenden Regen hoffnungsvoll ihre Banner tragen wie kleine Soldaten im globalen Klimakampf. Gnadenvoll wie einer, der sich nach einem Umzug zum ersten Mal zu Hause fühlt. Gnadenvoll wie einer, der sagen kann: Heute bekam ich unerwarteten Besuch. Heute sah ich eine Schwanzmeise, heute schien die Wintersonne.

Solche Sachen sind gnadenvolle, wundervolle Dinge, die wir sehen und die in Erfüllung gehen vor unseren Ohren. Wo das geschieht, dort ist Christus für uns heute. „Was vorher erzählt wurde, ist jetzt geschehen. Jetzt erzähle ich das Neue“ – dieses Neue gibt es nicht nur in alten Büchern. Es findet statt in unserem heute. Das Gnadenvolle und Hoffnungsvolle war kein antikes Phänomen. Es geschieht bei uns heute.

„Ich habe dich geschaffen und bestimmt zum Bund für das Volk“ – wir hörten als Lesung diese Worte des Jesaja (Jes. 42,6). Wir wollen die alten Bücher mit heutiger Wirklichkeit ersetzen, und darum müssen wir unser Blick wenden: Von der Lesung über das Licht von damals zum Licht heute. Ja, noch mehr: Wir müssen selber leuchten. Christsein ist kein Studium, keine Andacht in alter Kultur, schöner Kunst und alten Kathedralen. Denn Christus hat das alte Buch geschlossen und durch sich selbst ersetzt: „Heute sind diese Worte in mir erfüllt“. Es genügt keineswegs, alte Worte über Frieden und Liebe und Freiheit zu zitieren. Es muss ein „heute“ geben, um all dieses zu verwirklichen.

Um dieses „heute“ dreht sich der ganze geistige Kampf ums Christsein. Ein Kampf um Worte, die sein sollen, was sie besagen. Darum kreisen alle unsere Gebete: „Dein Wille geschehe“. Das Zitat wir zur wirklichen Rede, das Wort erhebt sich vom Buch und wird Fleisch, wird lebendig, wird getragen und gesagt und getan durch uns. Die Frage, wer Christus heute für uns ist, bekommt ihre Antwort in dem, was wir durch Christus für einander sein können. Das Wort steht auf vom Buch und wird Fleisch – dieses Geschehen ist das Thema der kommenden Weihnacht. „Das Wort ward Fleisch und wohnte mitten unter uns“, so ein Weihnachtstext unter anderen. Das ist unser Gottesdienst: Wir deuten auf das Gnadenvolle, das Beifall weckt. Wir erzählen, was immer wieder neu wird, denn jeder Tag ist ein neues „heute“.

Die amerikanische Theologin Lucy Lind Hogan hat über unsere Aufgabe gesagt, wir müssen „Detektive des Göttlichen sein“ – mit den Erzählungen der Evangelien als eine Lupe, die uns hilft zu erkennen. Viele werden meinen, der eine oder andere Hoffnungsfunke hätte nichts mit Christus zu tun. Auch in der Synagoge Nazareths änderte sich die Stimmung: „Ist der nicht bloß der Sohn Josefs?“ Versinkt alles nicht im Chaos? Ist unsere Zukunft nicht verloren? Ist die Freude über Jugendliche in der Klimademo nicht einfach sentimental? Sind die Schritte des Vaters und der kleinen Tochter in die Entbindungsstation nicht banal? Die guten Krebsneuheiten? Nein, sagt das alte Buch: „Ihr sollt sein ein Licht für die Völker. Ihr sollt die Augen der Blinden öffnen“ (Es 42,6f): Haltet die Hoffnung hoch! Jene Hoffnung, die von jetzt an und bis zum Ende der Zeit in Gottes Ewigkeit jeden Tag ihr „heute“ hat! Amen.

Pastor Jan Sievert Asmussen

DK-3520 Farum

Email: jsas(at)km.dk

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