Apostelgeschichte 3, 1-10

Apostelgeschichte 3, 1-10

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


12. Sonntag nach Trinitatis, 10. September 2000
Predigt über Apostelgeschichte 3, 1-10,
verfaßt von Udo Hahn


Liebe Gemeinde,

im Predigerseminar ist es üblich, daß Vikarinnen und
Vikare eine Predigt vortragen, die sie schon einmal gehalten haben. Dabei
sollen der Dozent und die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer, die in diesem
Fall die Gemeinde bilden, auf das Kommunikationsverhalten des angehenden
Pfarrers oder der Pfarrerin achten. Die Checkliste, die hinterher abgearbeitet
wird, enthält unter anderem Fragen wie diese: Wird die Predigt nur
abgelesen oder frei vorgetragen. Gibt es Blickkontakt zu Einzelnen? Was kommt
bei den Hörenden an? Ist die Predigt authentisch, das heißt:
Identifiziert sich der Bote mit der Botschaft?

Eine Kollegin begab sich im Talar im Andachtsraum an das Stehpult,
das als Kanzel diente. Sie las zunächst den Predigttext vor:
Apostelgeschichte 3,1-10, die Erzählung von der Heilung des
Gelähmten. Schon beim Lesen stockte sie mehrmals. Sie wirkte auffallend
unkonzentriert, las ihre Predigt streckenweise vom Blatt vor, ohne in die
Zuhörerschaft zu blicken. Kaum einer konnte sich in die Predigt richtig
hineinhören, wie die ersten Kommentare ergaben. Im
Predigtnachgespräch brach meine Kollegin in Tränen aus. Wir
übrigen kuckten uns betreten an.

Des Rätsels Lösung: Nicht unsere Kritik hatte sie zum
Weinen gebracht, sondern die Verzweiflung überkam sie, wie sie sagte, die
sie schon in der Gemeinde spürte, in der sie diesen Text zum ersten Mal
predigte. Denn im Gottesdienst saßen einige Behinderte in ihren
Rollstühlen. Meine Kollegin sagte, es habe ihr fast den Atem verschlagen,
als sie mit ihrer Predigt begann und diese Menschen bewußt wahrnahm. Sie
habe keine drei Sätze mehr herausgebracht und sei weinend aus der Kirche
gelaufen. Nach einer kurzen Unterbrechung setzte ihr Mentor den Gottesdienst
fort.

Das Predigtnachgespräch machte auch mir Fragen bewußt,
die ich bis dahin nicht im Blick hatte: Kann der christliche Glaube wirklich
solche Wunder wirken? Was können sogenannte Heilungsgottesdienste
bewirken? Warum können nicht alle Gelähmten geheilt werden? Fragen,
die man nicht einfach von der Tagesordnung absetzen kann. Vor allem: Wie kann
eine vernünftige Antwort aussehen? Soll man mit Ulrich Bach, selbst
behindert, auf das Recht der Behinderten hinweisen, sich so, wie sie sind, als
von Gott gewollt und geliebt anzusehen? Oder soll man nach dem vorhandenen
Maß des Glaubens beim Kranken fragen und im Falle einer mißlungenen
Heilung schlicht sagen, sein Glaube sei eben nicht stark genug gewesen? Oder
bleibt am Ende nur der Trost, daß das Heil zwar allen Menschen
verheißen ist, das Reich Gottes zwar schon jetzt angebrochen ist, aber
sich noch nicht überall durchgesetzt hat?

Was sagt eigentlich der Text? Am Eingang des Tempels sitzt ein
Behinderter. So ist er zur Welt gekommen. Als Bettler fristet er sein Dasein.
Tagein, tagaus sieht er Menschen an sich vorüberziehen. Er blickt ihnen
auf die Füße, ab und an versucht er vielleicht auch mal in ihre
Gesichter zu sehen. Aber das dürfte für die ihn bei der ihm
aufgezwungenen Körperhaltung viel zu anstrengend gewesen sein. Im
übrigen wären die meisten seinem Blick wohl auch ausgewichen. Schnell
ein paar Münzen hinwerfen und seines Weges gehen. Manchmal hat der Bettler
wohl auch Menschen angesprochen – wie Petrus und Johannes -, sie
ausdrücklich um ein Almosen gegeben.

Und jetzt geschieht das erste Bemerkenswerte: Petrus und Johannes
entziehen sich die nicht der Bitte des Bettlers. Sie fordern ihn auf, sie
anzusehen. Der Bettler reagiert. In ihm keimt die Hoffnung auf eine große
Spende auf. Statt dessen die Enttäuschung: Silber und Gold hätten sie
nicht, aber etwas anderes, Wertvolleres, viel Bedeutenderes, das sie ihm geben
wollten. Und dann folgt die lapidare Aufforderung: „Im Namen Jesu Christi
von Nazareth steh auf und geh umher!“ Petrus reichte dem Bettler seine
Hand, half ihm beim Aufstehen. Und da stand er plötzlich. „Er sprang
auf“, heißt es in der Apostelgeschichte, was die Dynamik des
Geschehens unterstreicht. Er konnte stehen, gehen, umherlaufen, springen. Und
er lobte Gott, dankte ihm für seine Heilung. Ein Wunder!

Es lohnt sich, über den Vers 10 hinaus weiterzulesen, denn
Petrus gibt den staunenden Menschen, die diese Situation beobachtet hatten,
eine Erklärung, was die Heilung des Gelähmten bewirkte. Es waren
nicht die Wunderhände des Petrus, sondern es ist sein Glaube an den
Auferstandenen gewesen, der ihn zu dieser Tat befähigte, den Behinderten
gesund zu machen.

Ein solches Wunder verlangt förmlich nach dem Glauben an den,
in dessen Vollmacht es gewirkt wurde. „Alles ist möglich dem, der
glaubt“, heißt es im Markusevangelium (9,23). Aber Vorsicht! Es
heißt nicht: Alles ist machbar. Glauben heißt, sich Gott
anzuvertrauen – „dein Wille geschehe“. Gott läßt sich
nicht zwingen. Aber dem Glaubenden ist offensichtlich mehr möglich, als
man gemeinhin annehmen kann. Ein Erklärungsversuch – mehr nicht. Die
Paradoxie bleibt. Die Wirklichkeit Gottes ist mit dem Intellekt allein nicht zu
fassen.

Was bedeutet das konkret für mich? Ich sehe darin die
Aufforderung, Gott mehr zuzutrauen als ich oft bereit bin. Es heißt
für mich aber auch, aufmerksam zu sein für Situationen, in denen Gott
mich brauchen will. Ums Heilwerden geht es nicht erst, wenn ich einem
Behinderten gegenüberstehe.

Ich sehe die Situation noch heute vor mir, als wäre es gerade
geschehen: Mit einem Studienfreund ging ich nach der Vorlesung in die Stadt. Es
war Mittagszeit, wir wollten noch in die Buchhandlung ein Buch abholen und dann
in die Mensa zum Essen. Plötzlich steuerte mein Freund auf einen am
Gehsteig sitzenden Bettler zu. Er ging vor ihm in die Knie und begann eine
Unterhaltung mit ihm. Er fragte ihn, wo er her komme, wie es ihm gehe –
ich stand etwas verlegen dabei. Schließlich forderte er den Mann auf, mit
uns zum nächsten Imbißstand zu gehen, er wollte ihn zu einer
Mahlzeit einladen. Der Bettler packte seine Sachen zusammen, nahm seinen Hund.
Am Imbißstand kaute ich verlegen auf meiner Bratwurst herum. Ich
beteiligte mich an der Unterhaltung nicht. Ich fühlte mich unwohl.
„Ich bin gleich wieder da“, sagte ich und steuerte auf den
nächstgelegen Supermarkt zu und kaufte ein paar Dosen Hundefutter. Mein
Freund spürte, nachdem wir uns von dem Bettler verabschiedet hatten,
daß mein Unwohlsein noch immer anhielt. Er sagte mir, er mache dies
öfter. Geld gebe er einem Bettler nicht, aber er lade ihn zu einer
Imbißbude ein.

Auch eine Heilungsgeschichte, liebe Gemeinde. Sie ereignen sich
dort, wo einer nicht mit Scheuklappen durchs Leben läuft, sondern
bewußt Blickkontakt aufnimmt. Der Angesehene fühlt sich angesehen,
aufgewertet, im Mittelpunkt und nicht achtlos übergangen. Und es sind die
Hände, auf die es hier ankommt. Das ist das zweite Bemerkenswerte dieser
Erzählung. Sie greifen zu, schaffen Gemeinschaft. Dabei werden Kräfte
weitergegeben, die auch heilende Wirkung haben können.

Amen

Oberkirchenrat Udo Hahn (Hannover)
Sprecher der Vereinigten
Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) und des Deutschen
Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes (DNK/LWB).
E-Mail: VELKD@aol.com


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