Augentrost

Augentrost

Predigt nach Lukas 2,25-38 | verfasst von Eberhard Busch | 

In der Mitte des verlesenen Bibeltextes stehen die Worte des alten Simeon, als er im Tempel von Jerusalem das Jesuskind sieht: Herr, nun lässt du deinen Diener im Frieden fahren,  wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, den du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht, zu erleuchten die Heiden, und zum Preis deines Volkes Israel.

Im Sommer sieht man in Gärten eine zarte Pflanze, mit dem einprägsamen Namen Augentrost. Ihr wird auch eine heilende Kraft bei Augenleiden zugeschrieben. Wenn ich sie entdecke, fällt mir das Lied von dem Halleschen Apotheker Christian Friedrich Richter ein: „Jesus, gib gesunde Augen, / die was taugen, / rühre meine Augen an. / Denn das ist die größte Plage. / wenn am Tage / man das Licht nicht sehen kann.“ Offenbar gilt das auch im übertragenen Sinn, was da erbeten wird: „Augen, die was taugen“. Augentrost! wenn uns nämlich das passiert, was jenem Simeon im Tempel zu Jerusalem widerfuhr. Seine Augen öffneten sich für das, was ihm sich da zeigte: „Mit eigenen Augen habe ich den Heiland gesehen“, den, den er den „Trost Israels“ nennt (V25).

Eigentlich tönt das verwunderlich. Andere, die dort anwesend waren, haben wohl nur ein Baby gesehen. Dass man in diesem Kind den Heiland erkennt, dazu braucht es eben „gesunde Augen.“ Und unsre Augen sind gesund, wenn wir ihn wahrnehmen. Wer hat denn solche Augen? Sonst sieht man in dem Frischgeborenen nichts Besonderes, wenn’s hoch kommt: einen hoffnungsvollen Sprössling, dem seine Eltern wünschen, er solle es einmal weiter bringen als sie selbst. Nun, wenn wir jetzt nur das sehen und nichts als das, dann zeigt das ein Augenleiden an, das der Heilung bedarf. Dann muss uns das geschenkt werden: „gesunde Augen, die was taugen.“ Damit wir sehen, was „am Tage“ ist!

Genau der, der in Bethlehem geboren ist, kann uns die Augen öffnen. So dass selbst Blinde sehen. Ja, auch Blinde können ihn sehen und sehen ihn vielleicht besser als die, die vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen, will sagen, die das Naheliegende, das uns Nahegelegte nicht wahrnehmen. Auch sie sind eingeladen, an der Weihnacht die Augen zu öffnen: „O seht in der Krippe im nächtlichen Stall, seht hier bei des Lichtleins hell glänzendem Strahl“, „und seht was in dieser hochheiligen Nacht der Vater im Himmel für Freude uns macht.“

Warum feiern wir diese Weihnachtstage? Ein Sonntagschulkind hat auf diese Frage geantwortet: „Wegen der Freude.“ So heißt es auch in dem genannten Lied. Die Geschenke, die wir da bekommen und die wir da machen, die wollen eben Freude machen. Schön, wenn das gelingt! gerade dort, wo nichts zurückkommt. Warum denn das? Den tiefsten Grund für unser Schenken nennt ein weiteres Weihnachtslied: Gott ist der, „der heut schließt auf sein Himmelreich / und schenkt uns seinen Sohn.“ Wegen dieses Geschenks feiern wir Weihnachten. Und das Geheimnis dieses Sohnes ist dies, was dem Joseph schon vor der Geburt aus der Maria mitgeteilt wird: dieser Sohn ist der Immanuel, das heißt: der Gott-mit-uns (Jes 7,14; Mt 1.23). Das ist der Grund zur Freude, dass Gott sich mit uns verbunden hat, auf Gedeih und Verderb. Mit uns! Mit allen!

So ist er auch „ein Licht, zu erleuchten die Heiden.“ Die Heiden sind hier die, die im Dunklen tappen, die, die zu erleuchten sind. Damit sind wir gemeint. Unsre Augen müssen geöffnet werden. Es geht uns an: „Gib gesunde Augen, die was taugen“ – damit wir über all dem Weihnachtszauber, der uns so leicht ablenkt, über all dem, was uns schmerzt, … dass wir diesen Augentrost entdecken und nicht übersehen: den „Trost Israels“. Kein Trostpflästerchen, sondern Heilung eines Schadens. Wir, die „in Zeiten aggressiver Nervosität“ leben, wie es jüngst in einer Zeitung hieß.

Denn leider sind wir manches Mal blind für das, was uns in Jesus beschert ist. Es ist, als würden wir hier ganz persönlich angesprochen: Du suchst und findest nicht, du glaubst nicht, du zweifelst, du bist geistig ganz woanders, du hast Angst, du vergisst ihn, du rebellierst gegen ihn … ja, das kommt vor. Wir finden ihn nicht, wenn er uns nicht gefunden hätte. Er kommt zu uns, ist uns schon nahe. Fragen wir: wo ist er, wenn es uns nicht gut geht und wir ihn nicht sehen?, oder wo ist er, wenn es uns gut geht und wir nicht an ihn denken? Er ist so oder so bei uns. Ist uns dann sogar näher, als wir meinen. „Wenn gar kein Einziger auf Erden, dessen Treue du darfst trauen, alsdann will er dein Treuster werden. …“ Er steht zu dir, auch wenn du tief gesunken bist. Er verlässt dich nicht. Auch dann nicht, wenn im Tode die Augen brechen.

Sonderbar ist in der Begegnung des Simeon mit dem Jesuskind wohl dies, dass er sagt: „Nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren.“ Nach einer neuen Übersetzung sagt er: „Nun kann dein Diener in Frieden sterben.“ Das erinnert an das Wort von Johannes dem Täufer bei seinem Hinweis auf Jesus: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“ (Joh 3.30). Wenn er kommt, wenn er da ist, sogar auch für mich da ist, dann ist in jedem Fall für mich gesorgt, dann kann ich ruhig beiseitetreten, kann abtreten. Nicht nur ich. Steht das nicht allen bevor? „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen.“ (Ps 90,12) Unser aller Leben ist begrenzt. Das nahende Jahresende erinnert uns daran, dass unsere Lebensuhr eines Tages abgelaufen ist, so wie das alte Jahr. Es hört einmal auf mit uns. Mit all den Andren auch. Ist das ein Sturz in den Abgrund?

Je älter man wird, je aufmerksamer man die Nachrichten hört, desto mehr beschleicht einen die Sorge: geht’s noch tiefer? noch abgründiger? Ist die Menschheit nicht heute dabei, den Boden, auf dem sie steht, unter ihren Füßen wegzuziehen? Im Französischen gibt es einen nachdenklichen Ausdruck: L’appel du vide, das heißt so viel wie: Der Ruf des Abgrunds, der Sog nach unten, der Reiz der Selbstzerstörung, die Anziehungskraft des Bodenlosen. Ist diese unheimliche Anziehungskraft nicht gerade heute in vielen Beziehungen im Gang? Der Dichter Rainer Maria Rilke hat schon davon gesprochen – in seinem Herbstgedicht:

Die Blätter fallen, fallen wie von weit

Als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
Sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
Aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen. —

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
Unendlich sanft in seinen Händen hält.

Und doch ist Einer! Und doch! – der göttliche Einspruch! Spüren wir es nicht auch? da hat der Dichter, und sei es von Ferne, den Heiland gesehen, den, der dem Sog in die Tiefe zu widerstehen weiß. „Ich lag in schweren Banden, / du kommst und machst mich los / …und hebst mich hoch zu Ehren“. Warum kann er das? Darum, weil er selbst in solche Tiefe geraten ist. Jochen Klepper schrieb zur Weihnacht die ernsten Worte: „Vor deiner Krippe gähnt das Grab. Kyrieeleison.“ Ja, dorthin ist der geraten. Doch ist er dorthin geraten, um möglichst viele, möglichst alle aus Dunkel und Todesangst heraus zu führen. Er ist das Licht, „zum Preis seines Volkes Israel“, und ist es für uns Andere auch, jener Augentrost. Wollen wir nicht auch dorthin ausblicken? Man hört heute sagen: Der Mensch muss erst zu sich selbst kommen, bevor er zu Gott kommt. Ist es nicht genau umgekehrt? Wir sind erst dann gut bei uns selbst, wenn wir bei dem sind, der immer schon bei uns ist. Dann sind wir recht bei Trost. Gehalten durch das Eine, das nicht aufhört: die unsterbliche Liebe unseres Gottes zu uns Sterblichen! Sie macht, dass wir zuletzt gut aufgehoben sind. Gott, „der Herr denkt an uns“ (Ps 115,12), auch wenn sonst keiner mehr an uns denkt.

Wollen wir da nicht, solange es geht, unsere Augen öffnen und hinblicken zu ihm, der uns entgegenkommt? Dorthin zu jenen unendlich sanften Händen. Sie sind am Ende unsres Lebens ausgebreitet, damit unsere letzte Reise keine Verschwinden im Nichts ist. Und diese Hände sind nicht erst zuletzt ausgebreitet. Sie sind es schon heute, wie sie bereits gestern uns gehalten haben. Und solange wir leben, haben da nicht auch wir jenem Sog in die Tiefe zu widerstehen? zugunsten all der vielen Bedrohten! Bekümmert um die tausenden von Flüchtlingen, die kürzlich in den Fluten des Meeres ertrunken sind! In Freude über einen jeden und eine jede, die jetzt aus den Fängen des schrecklichen Virus befreit werden! Wenn unsere Augen den Heiland sehen, dann werden wir auch unsre Mitmenschen sehen. Er, der „Gott des Friedens“ (1. Thess 5, 23), dessen Boten in Bethlehem verkünden: „Frieden auf Erden“ (Lk 2,14), er verknüpft uns miteinander. Dazu sagen wir gerne Ja, im Dank für den weihnachtlichen Augentrost. So gibt er uns seinen Frieden. Und so „Geht hin im Frieden!“ (1Sam 1,17; Apg 16,16)

Eberhard Busch,

D-37133 Friedland,

ebusch@gwdg.de

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