Da ist ein Kind in der Stube

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Da ist ein Kind in der Stube

1. Sonntag nach Weihnachten | Lukas 2,25-40 (dänische Perikopenordnung) | von Anne-Marie Nybo Mehlsen |

Das ist wie bei einer Kindertaufe heute. Sonntag nach Weihnachten, wenn wir bei der Darstellung Jesu im Tempel dabei sind. Wie alle Jungen seines Volkes wurde Jesus nach acht Tagen beschnitten und innerhalb eines Jahres im Tempel in Jerusalem dargestellt.

Wir erkennen die Szene wieder, wenn ein Kind zur Welt kommt und die Familie sich versammelt. Das geschieht in einer gewissen Reihenfolge, erst die Allernächsten, dann Verwandte und Freunde. Die Ältesten in der Familie warten, bis die frischgebackenen Eltern das Kind zu ihnen bringen können.

Es ist immer so, dass ein neues Familienmitglied bewundert und betrachtet wird: Wem ähnelt das Kind? Man erzählt von früheren Geburten in der Familie. Den frischgebackenen Eltern wird erzählt, wer sie sind und wer vor ihnen war. Man spricht von all den Hoffnungen und frohen Erwartungen, die man an das Kind und seine Zukunft hegt. Da wird gesegnet und gebetet mit vielen Liebesbezeugungen und guten Wünschen. In unserer Tradition hat das Fest der Taufe diesen Charakter der Veröffentlichung, Darstellung und Vorstellung für eine größere Gemeinschaft. Wir sehen es vor uns, fast, als wären wir selbst dabei gewesen – und lächeln. Das passt gut zu den übrigen Süßigkeiten von Weihnachten in der Schale, dem Baum in der Stube und vielleicht ein Glas Portwein im Lichte einer Kerze.

Unsere eigenen Alten in der Familie sind dabei, ganz gleich ob sie tot sind oder noch unter uns sind. Sie sind dabei in diesem schönen rosigen Bild von vollem und erfülltem Leben. Das ist schön.

Da ist ein Lächeln, ein ganz besonderes Lächeln und ein Licht in den Augen bei den Alten. Das ist für mich eine persönliche Erinnerung an ein besonderes Lächeln und leuchtende Blicke, die ich erlebt habe beim Abschied nehmen, an einem Sterbebett. Unverkennbare Dankbarkeit, Freude, Segen leuchtete aus den Blicken und dem Lächeln. Wie eine zweite Maria behalte ich dies in meinem Herzen. So wie ich das frohe Lächeln und die leuchtenden Blicke der kleinen Kinder, das Lachen, die kleinen Finger, die meinen Finger umgreifen, das Spiel in meinem Herzen trage.

Das ist nicht mehr ein ganzes Herz, das zerbrochen und bedrängt ist im Leben und gezeichnet von Verwundungen und Brüchen. Genau so geht es wohl auch euren Herzen. Manchmal reicht es, ja reichlich! Aber das nächste Kind in der Familie heilt etwas und lindert den Schmerz in dem vollgefüllten Herz.

Das Jesuskind wurde nach acht Tagen beschnitten und dargestellt. Damit war auch dieses Kind ein Teil des Bundes zwischen Gott und dem Volk. Dieser Bund, sollte sich zeigen, wurde durch dieses Kind erneuert, verändert, erweitert. Das Kind ist der Anfang einer Veränderung. Lasst konservative Theologen nur vor Schreck ohnmächtig werden über diese Aussage: Gott ist bereit für Veränderung!

Es fällt leicht, mit eigenen Augen und eigener Erfahrung zu lesen, was Ihr gerade gehört habt. Die alten Zusammenhänge werden mit gegenwärtigen Augen gesehen. Es ist auch nicht falsch, wenn wir daran glauben, dass die Botschaft, die vor zweitausend Jahren in die Welt kam, ewige Gültigkeit besitzt. Das hat seine Bedeutung für uns heute, sonst hätte es keinen Sinn – mehr als so viele andere historische Ereignisse und phantastische Geschichten.

Außer den dem rosigen und warmen Bild der Lebenserfahrung meines eigenen Herzens sehe ich denn auch Nuancen und Klänge, die durchaus aktuell sind, eben jetzt in unserem Leben.

Der alte Simeon ist wie ein älterer Professor, der froh wie ein Kind verkündigt, dass der Impfstoff gegen Korona auf dem Wege ist, dass die Pandemie bekämpft werden kann und hoffentlich bald besiegt ist.

Man sieht, das macht den Mann, der das sagt, gleich etwas jünger. Die Hoffnung, das Aussprechen, die Freude, es laut sagen zu können, ist offenkundig. Die Erlösung ist nahe!

Anna und Simeon an diesem Sonntag nach Weihnachten, sie sind nicht weit weg von uns!

Und ganz gegenwärtig kann ich hören, dass man so sehr auf Simeon schaut, den Diener des Herrn, der vertraulich Gott und der Welt und hier der kleinen Familie erzählt, wie sehr er sich über den Wert einer ganz persönliche Absprache zwischen ihm selbst und Gott freut: Er, Simeon, soll nämlich erst diese Welt verlassen, wenn seine Augen den Erlöser gesehen haben. Und nun geschieht das! Hört nur, wie er singen kann, dieser Simeon! Und segnen, so dass es um ihn hell wird.  Und wie er Maria warnt, die glückliche Mutter. Sie soll nur wissen, wie hart das Leben ist, und ihre Seele wird nicht vor Schmerz verschont: Ein Schwert wird durchdringen …

Hört, hört, denken ich und andere – die Me-too-Bewegung lässt uns aufmerken, lasst doch die Maria in Ruhe! Wir können fast hören wie Simeon das junge Mädchen unter das Kinn greift, ihr in die Augen sieht, während er droht – oder auch wohlmeinend warnt? Oder was er da nun tut.

Mehr abseits sieht man Anna, eine Prophetin. Wir erfahren die Geschichte ihrer Ehe und mehr als das. Wie viele Jahre und mit wem, ja, ja. Auch sie lobt Gott und erzählt allen, die es hören wollen, von dem Kind. Vielleicht bin es nur ich, der ein ungeschriebenes: „typisch Frau“ oder ein ungesagtes „und so weiter“ hört. Was Anne, die Prophetin, eigentlich auf dem Herzen hatte, bleibt ungesagt. Nicht ihre Botschaft, sondern wer sie ist und was sie tut, bleibt im Gedächtnis. Da ist ein Unterschied zwischen Mann und Frau, ein noch größerer Unterschied zwischen verheiratet und ledig sein. Selbst eine Witwe muss auf etwas von ihrer Autorität als Zeugin von irgendetwas verzichten.

Strukturelle Kränkungen kann man leicht in zweitausend Jahre alten texten finden …

Das erste schöne rosige Bild von dem ganzen Geschlecht in der festlich erleuchteten Stube verbleicht etwas. Kommt da nicht ein Onkel der jungen Mutter etwas zu nahe? Und richtet sich sein Blick nicht woanders hin als auf das Kind im Arm? Wir haben die Unschuld verloren, Ingmar Bergmann führt Regie in unserem inneren Theater – ach!

Um etwas weihnachtlichen Frieden zurück in die Stube zu holen, wende ich mich an den Komponisten Johann Sebastian Bach und höre seine Kantate „Ich habe genug!“ So heißt die Arie (BWV 82). Eine schöne Bass-Stimme, wiegende Streicher und eine himmlische Oboe. Die Arie gilt Simeon, der davon singt, dass er alles gesehen hat, was es wert ist, gesehen zu werden, in diesem Kind, das Heil ist gekommen. Und auch wenn es nur ein Beginn ist, ein Hoffnungsschimmer, reicht das völlig aus, um alles zu verändern. Das ist sehr offenherzig und sehr unschuldig. Da ist ein Ton von demütiger Sehnsucht nach Gott. Ein wenig reicht, das kleine Etwas, ein Kind, etwas, was einmal kommt. Das alles genügt.

Das Licht des Evangeliums über dem Leben der Menschen. Nun passiert etwas. Das hier verwandelt uns, die das hören. Uns, die wir davon singen, mitsummen im ewigen Chor. Gott bewegt uns und lässt sich selbst bewegen. Gott verändert sich. Der alte Bund hält nicht, wo es darum ging, in Wohl und Wehe folgsam zu sein und zu tun, was einem befohlen wird. Es braucht Veränderung, die gehorsamen Kinder sind aufrührerische Teenager geworden. Die wollen selbst, junge Erwachsene, die viel vorhaben, was sie erproben wollen. Gott lässt sich darauf ein, er geht mit uns. Stellt sich nicht an wie ein alter Allvater mit Ermahnungen und Klagen. Er hat sich selbst eingeschlichen in das Bild und steht in der Stube mit der ganzen Familie. Gott kennt die Blicke, das Lächeln. Die Sehnsucht aus reinem Herzen in uns gelangt zum Herzen von Gott selbst. Gott tritt hinein und nimmt teil und wird selbst Mensch, wird ein Kind. Als Antwort des menschlichen Rufens, das immer nach „Vater“ und „Mutter“ ruft und erwartet, dass man in den Arm genommen wird und da Geborgenheit erfährt. Eine Umarmung, der zu trauen ist. Ein Lächeln, ein leuchtender Blick, der segnet und heilt, was zerbrochen und schmerzlich war.

Das ist ein Zeichen, nach dem wir schauen sollen – nicht notwendigerweise unmittelbar zugänglich, aber auch im Widerspruch sollen wir das Zeichen sehen. Wir sollen Gottes Zeichen im Dunkeln sehen. Auch.

Das erfordert also Übung und tägliches Training. Der aufmerksame Blick des Glaubens ist nicht etwas, wozu man sich plötzlich entschließt. So wie man sich auch nicht von einem Tag auf den anderen dazu entschließen kann, von nun an Gutes zu tun, zack, ein guter Mensch zu sein. Wir müssen auf dem Wege durch etwas geprägt werden, geprägt von Christus.

Das verlangt Übung, ja Einübung. Sich dem Segen, dem milden Lächeln, dem besonderen Licht aussetzen. Sich die Fülle des Lebens anmerken lassen im Unerfüllten. Das erfordert auch den Mut, sich dem Schmerz im zerbrochenen Herz anmerken zu lassen. Zugleich ist das auch ganz und gar Geschenk. Das ist etwas, was mit uns geschieht in unbewachten Augenblicken. Sowohl im Besonderen als auch im ganz Gewöhnlichen, wenn wir vom Geist Gottes angerührt und bewegt werden – wie Simon.

Da ist ein Kind in der Stube – und alles ist verändert. Amen.

 

Pastorin Anne-Marie Nybo Mehlsen

DK-4100 Ringsted

Email: amnm(a)km.dk

 

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