Besiege das Böse durch das Gute!

Home / Bibel / Neues Testament / 06) Römer / Romans / Besiege das Böse durch das Gute!
Besiege das Böse durch das Gute!

4. Sonntag nach Trinitiatis, 05.07.20 | Predigt zu Röm. 12,16b-21 | verfasst von Thomas Muggli-Stokholm |

 

Lesungstext Evangelium Mk 2,1-11: Heilung eines Gelähmten

Predigttext Römer 12,16b-21:

Haltet euch nicht selbst für klug! Vergeltet niemandem Böses mit Bösem, seid allen Menschen gegenüber auf Gutes bedacht! Wenn möglich, soweit es in eurer Macht steht: Haltet Frieden mit allen Menschen! Übt nicht selber Rache, meine Geliebten, sondern gebt dem Zorn Gottes Raum! Denn es steht geschrieben: Mein ist die Rache, ich werde Vergeltung üben, spricht der Herr. Vielmehr: Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen; wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken. Denn wenn du dies tust, wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln. Lass dich vom Bösen nicht besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute.

Predigt:

Vor einigen Wochen las ich im «Tages Anzeiger»[1] ein Interview mit Matthieu Leclercq, dem ehemaligen Konzernchef des Sportartikelgiganten Declathon. Leclercq hatte die Verantwortung für eine Firma mit 82‘000 Angestellten und rund 12 Milliarden Franken Umsatz pro Jahr. Entsprechend einschneidend war es für ihn, als er 2018 nach anhaltenden Differenzen mit der Besitzerfamilie gehen musste. Leclercq spricht von einem Trauerprozess, zu welchem eine Pilgerwanderung auf dem Jakobsweg gehörte. Unterwegs kam ihm plötzlich eine völlig neue Geschäftsidee. Er sagt im Interview: «So, wie mein Vater Sportprodukte für alle zugänglich gemacht hat, möchte ich die Spiritualität unter die Leute bringen. Keine religiöse Form von Spiritualität, sondern etwas, was viele Menschen einlädt, innezuhalten und sich zu fragen, welche Spuren sie in diesem Leben hinterlassen wollen.» Leclercq will ein Onlinetool entwickeln, mit welchem die Leute auf spielerische Weise ihre Lebensaufgabe entdecken und danach «die beste Version ihrer selbst leben können». Ganz unbescheiden nennt er als mittelfristiges Ziel 500 Millionen Nutzer.

An dieses Interview erinnerte ich mich im Zusammenhang mit dem letzten Vers unseres Predigttextes:

Lass dich vom Bösen nicht besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute.

Diesen Vers suchen Eltern besonders oft als Taufspruch aus. Das ist kein Zufall: Zum einen ist der Satz nicht religiös. Gott bleibt unerwähnt. Zum andern können ihm sicherlich weit über 500 Millionen Leute vorbehaltlos zustimmen: Das Böse durch das Gute besiegen – wer will das schon nicht? So könnte ich eigentlich getrost auf die Fortsetzung meiner Predigt verzichten und es Leclercq gleichtun: Es muss ja nicht gerade ein Onlinetool sein. Aber ich könnte Ihnen den Satz von Paulus fett auf einen Karton geschrieben auf den Heimweg geben – mit dem Auftrag, ihn jeden Morgen zehnmal laut aufzusagen und am Abend nachzuprüfen, wie viel Böses Sie durch Gutes besiegen konnten.

Ganz dumm ist die Idee nicht. Aber ich zweifle, ob eine solche spirituelle, aber nichtreligiöse Übung funktionieren kann. Ich selbst jedenfalls würde nach anfänglicher Euphorie rasch an meine Grenzen stossen und meinen Vorrat an Güte aufgebraucht haben.

Ich erinnere mich an ein Ferienerlebnis. Wir mieteten ein Haus samt Motorboot an einem Fjord in Norwegen. In der Wegleitung zum Mietobjekt stand, der Tank sei voll, das Schiff abfahrbereit. Voller Euphorie machte ich das Boot startklar, hievte die Kinder an Bord und setzte den Motor in Betrieb. Alles klappte hervorragend und jauchzend fuhren wir in den Fjord hinaus. Doch nach knapp 100 Metern fing der Motor zu stottern an und gab wenige Augenblicke später den Geist auf. Mühsam ruderte ich an Land zurück. Meine Gedanken und Gefühle dem Vermieter gegenüber waren entsprechend ungut – bis ich im Bootshaus den vollen Tank fand, der mit einem Schlauch an den Motor angeschlossen werden musste. Den Motor konnte ich beim ersten Versuch nur deshalb starten, weil noch ein Rest Treibstoff in der Leitung war.

Auch die Spiritualität braucht ihren Treibstoff, ihre Quelle, sonst kommt sie innert kürzester Zeit in Stottern und erstirbt. Bezogen auf den letzten Satz unseres Textes bedeutet dies, dass wir das Böse nicht aus unserer eigenen Güte heraus besiegen können. Wir bleiben auf Gott, die unversiegliche Quelle der Liebe und Güte, angewiesen.

«Haltet euch nicht selbst für klug!», heisst es zu Beginn unseres Textes.

Nach menschlicher Logik ist das, was Paulus in den folgenden Versen schreibt, unsinnig: Unter den Menschen gilt das Prinzip des «Wie du mir – so ich dir». Das allermeiste funktioniert auf diese Weise: Waren wechseln die Besitzer im Tausch gegen einen angemessenen Gegenwert. Arbeit wird entlöhnt. Schuld wird mit Buße oder Gefängnis vergolten.

Die göttliche Logik sieht ganz anders aus. Paulus schreibt:

Vergeltet niemandem Böses mit Bösem, seid allen Menschen gegenüber auf Gutes bedacht!

Verständlich wird diese Forderung erst im Licht des Wegs, den Gott in Jesus mit uns und für uns geht: In Jesus kommt Gott selbst zur Welt, allen Menschen gegenüber auf Gutes bedacht. Und er hält seine Liebe, Güte und Vergebung durch, bis in den Tod am Kreuz.

So sagt Jesus in der Geschichte, welche wir als Lesung hörten, zum Gelähmten: Kind, dir sind die Sünden vergeben.

Der Gelähmte muss und kann nichts dafür tun, dass Jesus ihn zum Kind Gottes erklärt, dem vergeben wird. Er empfängt die Liebe und Vergebung bedingungslos. Und er, der nur da liegen und nichts tun kann – er wird mir zum Vorbild des Glaubens:

Gott erklärt auch mich in Jesus zu seinem Kind, nicht weil ich besonders gut bin, sondern aus reiner Gnade, aus Liebe, die in menschlicher Sicht verrückt ist – und verrückt macht, Wut und Zorn auslöst. So empören sich die Schriftgelehrten, fromme Männer, über Jesus. Er ist in ihren Augen ein Lästerer. Denn nur Gott kann Sünden vergeben. Das ist die Logik der Welt. Gott vergibt – der Mensch vergilt.

Vergeltet niemandem Böses mit Bösem, seid allen Menschen gegenüber auf Gutes bedacht!

Diese Forderung wird erst erträglich auf der Basis, dass Gott in Jesus nur das Gute will für uns. Von uns aus sind wir wie der Gelähmte handlungsunfähig, in Zwängen erstarrt, ohne Perspektiven. Gott löst uns die Fesseln. Als seine geliebten Kinder können wir aufstehen, unsere Bahre nehmen und hinaus ins neue Leben gehen, das Gott uns schenkt.

Zu diesem neuen Leben gehören neue Maßstäbe. Das unerbittliche Prinzip des «Wie du mir – so ich dir», das «Auge um Auge – Zahn um Zahn», ist aufgebrochen. Und wo es geschehen darf, dass wir Böses nicht mit Bösem vergelten, sondern als begnadigte Kinder den Menschen gegenüber auf Gutes bedacht sind. Da blüht das neue Leben auf, das Gott in Jesus schafft.

Wir geht es Ihnen nun?

Zum einen denken Sie vielleicht: Gut, dass wir eine religiöse Form von Spiritualität pflegen und uns bei unseren Bemühungen, gute Spuren zu hinterlassen, durch Gottes Liebe stärken lassen können.

Vielleicht aber stellen Sie sich erneut die Frage, ob das funktioniert. Das Tool von Paulus ist fast 2000 Jahre älter als jenes, welches Leclercq plant. Und es fand bis jetzt weit über 500 Millionen Nutzer. Dennoch blieb der Siegeszug des Guten über das Böse weitgehend aus. Selbst innerhalb der Kirche wird Böses schmerzhaft oft mit Bösem vergolten.

Wie sich im nächsten Vers zeigt, trägt Paulus den menschlichen Grenzen Rechnung:

Wenn möglich, soweit es in eurer Macht steht: Haltet Frieden mit allen Menschen!

Paulus hängt nicht Träumen vom totalen Frieden nach. Es kann Situationen geben, wo wir an die Grenzen des menschlich Möglichen stossen und – gerade um des Friedens willen – mit Gewalt gegen Feinde kämpfen müssen. Dietrich Bonhoeffer stand vor diesem Dilemma, als er sich entscheiden musste, ob er sich am Attentat gegen Adolf Hitler beteiligen soll. Eigentlich war er aufgrund des Gebots der Feindesliebe überzeugter Pazifist. Schliesslich jedoch bewogen ihn die verheerenden Verbrechen Hitlers dazu, sich am gewaltsamen Widerstand zu beteiligen, um noch schlimmeres Unheil abzuwenden.

Ähnlich wie beim Frieden trägt Paulus auch bezüglich der Vergebung menschlichen Grenzen Rechnung. Er beginnt mit der dringenden Aufforderung:

Übt nicht selber Rache, meine Geliebten.

Paulus spricht uns bewusst als «Geliebte» an: Er erinnert uns damit nochmals daran, dass wir ohne eigenes Verdienst, aus reiner Gnade, geliebte Kinder Gottes sind. Wie sollen wir uns da noch an anderen Menschen rächen wollen, die doch mit gleichem Recht wie wir Gottes geliebte Kinder sind?

Zugleich bleibt klar, dass Gottes Liebe und Vergebung nicht mit einer Verharmlosung des Bösen verwechselt werden dürfen. Ein völliger Verzicht auf Vergeltung und Rache käme der Verhöhnung der Opfer von Unrecht und Gewalt gleich. Die Aufforderung, auf menschliche Rache zu verzichten, ist darum eingebettet in die Gewissheit, dass der Zorn und die Rache bei Gott allein liegen. Paulus zitiert aus dem fünften Buch Mose, wo Gott sagt:

Mein ist die Rache, ich werde Vergeltung üben.

In dieser Hinsicht hat der Ex-Declathon-Chef Recht:

Es ist entscheidend, was wir tun, welche Spuren wir in unserem Leben hinterlassen. Gott wird Vergeltung üben. Einmal wird der Moment kommen, wo sich im Licht von Gottes Güte erweist, was an meinem Tun und Lassen Segen trug und was nichtig blieb.

Es geht nicht um grossartige Lebensentwürfe und optimale Versionen unserer selbst. Es geht um Alltägliches. Darum gibt uns Paulus ganz praktische Hinweise zur Umsetzung des Racheverzichts:

Wenn dein Feind Hunger hat, gibt ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken. Denn wenn du dies tust, wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.

Das ist kein christlicher Spitzensatz, sondern wiederum ein Zitat aus dem Alten Testament, diesmal aus dem Buch der Sprüche, einer Sammlung von Alltagsregeln.

Der Umgang mit Feinden, mit lästigen Menschen und Leuten, die uns böse wollen, ist mühsame Kleinarbeit. Es gibt dafür aber Regeln, die sich seit alter Zeit bewähren: Wenn ich auch die Menschen, die mich verletzen oder mir Unrecht tun, fair behandle und ihnen sogar beistehe, wenn sie in Not geraten. Dann kann es geschehen, dass bei ihnen das Feuer der Liebe entfacht wird, das auf und in ihnen brennt wie feurige Kohlen auf ihrem Haupt und sie bewegt, ihr Verhalten zum Guten zu ändern.

Lass dich vom Bösen nicht besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute.

Meine Geliebten, mit Ihnen zusammen, liebe Gemeinde, möchte ich diese Anrede des Paulus ernstnehmen und annehmen als «Treibstoff» und Kraftquelle für meinen Kampf für das Gute und für das Ziel, mit meinem Leben Spuren des Segens zu hinterlassen. Ich möchte dabei zugleich realistisch bleiben:

Wir haben uns nicht alle gleich lieb, nicht einmal heute Morgen hier in der Kirche. Den einen fühlen wir uns nahe. Wir teilen ihre religiösen und politischen Überzeugungen. Mit anderen werden wir nicht recht warm, aber wir lassen sie leben. Wieder andere machen uns Mühe, aus welchem Grund auch immer. Aber wir alle sind ausnahmslos Geliebte Gottes – durch Jesus Christus, der zu uns hält und uns trägt, mit unseren Sünden und Schwächen – bis in den Tod am Kreuz.

Auf dieser Basis kann ich zurückkommen auf die Idee, den letzten Satz unseres Predigttextes mit in die kommende Woche zu nehmen. Wir können uns jeden Tag Zeit nehmen, um uns auf ihn zu besinnen, ihn Wort für Wort verkosten und Acht geben darauf, was er mit uns macht. Am Abend blicken wir zurück auf den Tag, nicht mit den Augen der Vergeltung, sondern mit den liebenden Augen Gottes. Wir freuen uns über die kleineren und grösseren Siege des Guten über das Böse, die uns geschenkt wurden. Und wir legen die Niederlagen vor Gott ab, im Vertrauen darauf, dass die Kraft seiner Güte und Vergebung in unserer Schwäche wirkt. Diese Kraft beflügelt uns, immer neu aufzustehen, das Leben zu ergreifen, das Gott uns schenkt und Wege des Friedens zu wagen. Amen.

[1] Tagesanzeiger vom Samstag, 6. Juni 2020, Seite 37

de_DEDeutsch