Vergeltung als Lebensgrundgesetz?

Home / Bibel / Neues Testament / 06) Römer / Romans / Vergeltung als Lebensgrundgesetz?
Vergeltung als Lebensgrundgesetz?

4. Sonntag nach Trinitatis, den 05.07.2020 | Predigt über Röm 12,17–21 | Pastor i. R. Prof. Dr. Andreas Pawlas |

Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5.Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Liebe Gemeinde!

Zu den Worten aus der Bibel, die festen Eingang in unsere Umgangssprache gefunden haben, gehört doch zweifellos das berühmte „Auge um Auge, Zahn um Zahn!“ (Dtn 19,21; Ex 21,24; Lev 24,20) Und was hört man da selbst von Leuten, die mit Gott und Bibel nichts am Hut haben? Doch breite Zustimmung! Muss darum dieses Vergeltungsschema nicht so etwas sein wie ein Grundgesetz unseres Lebens?

Aber warum klingt uns da in unserem Bibelwort so ganz anderes entgegen? Hat da der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Rom irgendetwas verwechselt? Oder hat er vielleicht nicht so richtig aufgepasst, was denn alles nach göttlichem ewigen Gesetz unter den Menschen gelten soll?

Nein, das ist so nicht richtig. Denn Hl. Apostel gibt nur schlicht wieder, was wir auch entsprechend von unserem Herrn Jesus Christus aus der Bergpredigt hören können (Mt 5,38).

Aber mein hochverehrter Apostel Paulus, wenn wir nun niemandem Böses mit Bösem vergelten sollten, warum sollen wir das denn tun und uns auf diese Weise gegen ein so elementares Lebensgrundgesetz und seine alttestamentliche Verankerung wenden?

Jetzt ist erst einmal eine Pause zum Nachdenken angesagt. Aber wenn man dann einmal etwas genauer auf unser Bibelwort schaut, dann muss eins doch wirklich verblüffen. Denn der Apostel Paulus führt zur Ablehnung des alttestamentlich so ernst festgehaltenen Vergeltungsschemas ausgerechnet Belege aus dem Alten Testament an: Nämlich, dass Rache und Vergeltung Sache Gottes sind (5.Mose 32,35) »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« Und dass man selbst für seinen Feind sorgen soll (Sprüche 25,21-22) »Wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln«.

Natürlich gibt es gegen solche Argumentation nachhaltigen Widerspruch! Denn wenn das „Auge um Auge, Zahn um Zahn!“ tatsächlich heutzutage für jedermann begreiflich ist, so ist doch alles Andere Traumtänzerei, so hat doch alles Andere nichts mit unserer heutigen Wirklichkeit zu tun, sei es noch so gut im Alten Testament belegt. Oh, was sind das für harte Worte gegen Weisungen aus dem Alten Testament!

Aber wenn auch Traumtänzerei ein hartes Wort ist, vielleicht bekommen wir damit trotzdem einen Fingerzeig in die richtige Richtung. Ich muss dabei an eine Kindergartenszene denken. Ein kleiner Junge sollte die Bauklötze, mit denen er gespielt hatte – und auch wirklich zu Ende gespielt hatte –, wieder aufräumen. Aber wie das manchmal bei kleinen Jungen dieser Altersklasse so ist, wollte er das nicht. Und wenn so ein kleiner Wutkopf etwas nicht wollte, dann wollte er das eben nicht. Naja, wir kennen das alle. Und als ihn die Erzieherin wieder und wieder ernsthaft aufgefordert hatte das zu tun, da geriet er erst richtig in Fahrt, schließlich wandte er sich voller Wut um und schlug mit seinen Fäusten auf sie ein. Was jetzt?

Nach dem Vergeltungsschema „Auge um Auge, Zahn um Zahn!“ hätte sie ihn genauso mit Fäusten schlagen müssen. Oder sie hätte ihn zumindest in anderer Weise adäquat züchtigen müssen. Wir wissen auch, dass in einem großen Teil alter pädagogischer Ratgeber, solcher Rat gut zu finden ist. Aber was tat sie nun? Sie breitete weit ihre Arme aus, lächelte ihn an und drückte ihn liebevoll an sich. Und was tat jetzt dieser kleine, wild um sich schlagende Junge? Er brach weinend zusammen. Und nach einer Weile des Schluchzens war die Welt wieder in Ordnung und er räumte sogar die Bausteine ordentlich weg.

Ja, jetzt werden ernsthafte und lebenserprobte Leute natürlich sagen: Kindergartenszene! Mehr aber auch nicht. Das kann nichts mit unserem Kampf im alttäglichen Leben zu tun haben. – Oder vielleicht doch?

Könnte uns vielleicht diese kleine Kindergartenszene daran erinnern, dass wir als Christenmenschen in unserem alttäglichen Lebenskampf nicht darauf angewiesen sind, einem anderen jede kleine Verletzung, die er uns angetan hat, sofort auf Heller und Pfennig zurückzuzahlen? Warum? Doch weil wir uns darauf verlassen können, dass die Güte unseres Gottes zu uns so groß ist, dass sie alle kleinen Störungen einfach übersteigt und aufhebt. Das dürfen wir aus der Botschaft Jesu Christi hören, fühlen und erfahren. Das mag für manche wie Traumtänzerei klingen, ist aber ein gewaltiger Trost und eine starke Tröstung für alle unsere Verletzung und Kränkungen, die wir nun einmal alle auf dieser unvollkommenen Welt erfahren, solange wir leben.

Und als erklärenden Nebensatz könnten wir vielleicht auch gut hören, dass kluge Leute zum Vergeltungsschema „Auge um Auge, Zahn um Zahn!“ erläutern, dass es dabei eben nicht um ein universelles Grundgesetz unseres Lebens ging, sondern darum, dass in wilden und ungeordneten Zeiten jede Verletzung und Kränkung eines Starken von ihm nicht siebenmal oder siebenundsiebzigfach gerächt werden (Gen 4,24), sondern dass ein Schaden nur fair und das ist nur einfach zu ersetzen sein sollte. So könnte man verstehen, dass vielleicht bereits damals auf diese Weise eine böse Eskalation unterbunden werden sollte, dass vielleicht bereits damals auf diese einschränkende Weise nicht Böses mit Bösem vergolten werden sollte. Soviel zu klugen Erläuterungen versierter Leute.

Jedoch, was helfen mir solche klugen Erwägungen, wenn es mir wirklich an den Kragen geht? Kann ich mich denn überhaupt noch kontrollieren, wenn mich die böse Kollegin bis aufs Blut blamiert und mir damit meine berufliche Zukunft ruiniert? Was fällt mir denn noch ein, wenn mir der böse Nachbar durch seine dauernde laute Feierei bis in die tiefe Nacht allen Lebensfrieden raubt? Wie kann ich denn noch anders reagieren, wenn der bös gewordene Ehepartner nur auf der Lauer liegt, um mir eins auszuwischen und mir so mein Leben zur Hölle zu macht? Wie soll das denn da gehen, sich voller Wut und Empörung nicht zu rächen, sondern innezuhalten und das Wort ernst zu nehmen »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« (5.Mose 32,35)?

Ja, kluge Worte auch von der Kanzel, haben da wenig Aussicht auf Erfolg. Auch ein hinterlistigesVerständnis von Feindesliebe, wie man das zweite Zitat des Paulus aus dem Alten Testament mit dem »feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22) missverstehen könnte, hilft nicht. Denn das Vorhaben eines Rachefeldzuges bleibt dabei.

Wie wäre es aber, wenn ich die Botschaft Jesu Christi von der Güte Gottes wirklich in meine Seele aufnehmen könnte und sie mich ganz erfüllen lassen könnte, vielleicht so, wie die erwähnte Kindergärtnerin? Wahrscheinlich war sie damals in der Lage, gar nicht den kleinen Wutkopf zu sehen, sondern den in sich erbärmlich verhakten kleinen Menschen, der deshalb meinen musste, alle wollten ihm nur an den Kragen, weshalb ihm dann aber der Kragen platzte. Wahrscheinlich war sie damals in der Lage, den lieben kleinen Jungen zu sehen, der selbst nur so sehr geliebt werden wollte, dass er alle Anforderungen an sich nur als Hass gegen sich missverstehen musste. So konnte sie ihn lieb haben, obwohl er sie schlug. Und sie konnte damit gleichzeitig erfahren, dass die Liebe stärker ist als alles Böse, ja, selbst als der Tod. Denn vergessen wir nicht, aus Liebe ist Christus ans Kreuz gegangen. Er liebt uns so sehr, dass er die schlimmste Tortur, die schlimmsten Schmerzen, die schlimmste Vernichtung auf sich nahm – für uns!

Würde das denn wirklich gehen, dass wir entsprechend in der bösen Kollegin, in dem bösen Nachbarn, in dem bös gewordenen Ehepartner um Jesu Christi willen den enttäuschten, verletzten, zu kurz gekommenen Mitmenschen entdecken könnten, der im Grunde genauso von Gottes Liebe umschlossen sein will, wie wir selbst?

Aber wenn wir tatsächlich so auf unsere Mitmenschen schauen könnten, wie sollte dann noch in uns ein Gefühl der Rache aufkeimen können? Das geht dann doch gar nicht. Und unsere Aufgabe wäre dann in diesem unserem Leben allein, Christus zu bitten, dass er uns immer einen solchen Blick, eine solche Wahrnehmung und ein solches Gefühl schenkt.

Nur in Klammern sei hier vermerkt, dass damit natürlich nicht in den Dienst von Polizisten, Soldaten oder Richtern eingegriffen werden soll, deren Aufgabe es ja nach Gottes Willen ist, böses Unrecht zu verfolgen. Aber wohl gemerkt, auch dabei geht es nicht um Rache oder Hass, sondern um den Schutz von Leidenden.

Davon abgesehen kommt mir jetzt eine ältere Dame vor Augen, die ganz ehrlich und überzeugend sagt: „Mit meinem Nachbarn, da habe ich alles versucht. Ich habe versucht, seine Rücksichtslosigkeit nicht zu bemerken, ich habe immer wieder versucht, freundlich zu ihm zu sein. Ich habe ihm geholfen, wo ich konnte. Und trotzdem: nichts als Gehässigkeit und Frechheit. Und sie schaute dabei richtig verzagt und traurig.

Kennen wir so etwas? Und ich vermute, der Hl. Apostel Paulus kannte das auch. Jedenfalls hat er schon guten Grund, seine Ermunterung, mit dem Vergeltungsdenken, -handeln und -fühlen aufzuhören, zu begleiten mit dem Satz: „Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden“.

Ja, das gehört mit zu dieser unvollendeten Welt, dass alle unsere Freundlichkeit, unser Verständnis und unsere Hilfe nicht angenommen wird. So meinen wir es jedenfalls wahrnehmen zu können. Aber wer sagt denn, dass unsere Wahrnehmung richtig ist?

Nein, der Satz, dass Rache und Vergeltung Sache Gottes sind, ist nur eine Variation des Satzes, dass vor Gott auf dieser Welt nichts vergeblich ist.

Was für ein Trost, was für eine Stärkung, was für eine Hoffnung! Wir dürfen also ganz anders in Welt schauen, als nach dem Vergeltungsschema. Wir dürfen also eine ganz andere Perspektive für diese Welt haben, als einer, der sich durch Vergeltung für alles Böse leiten lässt. Wir dürfen das, weil um Christi Willen unser Gott liebevoll und gütig auf uns schaut, jetzt, bis in Ewigkeit. Gott sei Dank!

Amen.

Pastor i. R. Prof. Dr. Andreas Pawlas

Eichenweg 24

25365 Kl. Offenseth-Sparrieshoop

Andreas.Pawlas@web.de

de_DEDeutsch