Christmette, 24.12.2014

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Christmette, 24.12.2014

Predigt zu Matthäus 1:18-25 | verfasst von Jennifer Wasmuth |

Liebe Gemeinde,

es gibt etwas, worüber wir selten nachdenken, was für unser gegenseitiges Verstehen aber von großer Bedeutung ist: Das sind Gesten.

Bereits wenn wir uns begrüßen, unterstreichen wir oft mit einem Kopfnicken ein »Hallo«, mit ausgetreckter Hand bekräftigen wir ein »Guten Abend, ich freue mich, Sie heute hier zu sehen!«

Aber auch sonst ist unser Miteinander im Alltag von Gesten geprägt, in all seinen Facetten: vom drohenden Zeigefinder, weil es sich der Hund unerlaubter Weise wieder auf dem Sofa bequem gemacht hat, über das kurze Berühren mit der offenen Hand an der Stirn, weil sich eine knifflige Quizfrage plötzlich erschlossen hat, bis hin zum zärtlichen Streicheln, wie es oft bei Müttern und ihren kleineren Kindern zu beobachten ist. Gesten unterstützen, was wir sagen möchten, oder teilen es auf ihre Weise mit, ohne Worte, oft sogar eindrücklicher als Worte.

Und dabei gibt es nicht nur die direkten, körperlichen Gesten, sondern auch Gesten im übertragenen Sinne: Eine Einladung beispielsweise zu einem gemeinsamen Essen, ein festlich geschmückter Tisch, ein vorzügliches Menü, das ist eine große Geste der Freundlichkeit. Ein Anruf in einer Situation bei jemand, der sich völlig alleingelassen fühlt, das wiederum kann zu einer wichtigen – manchmal lebenswichtigen – Geste der Hilfsbereitschaft werden.   

Gesten bestimmen so auch andere Bereiche unseres Lebens, von kaum zu überschätzender Bedeutung sind sie insbesondere in der Politik. Was im Einzelnen verhandelt wurde, ist oft nicht entscheidend. Wenn unsere Bundeskanzlerin beispielsweise mit dem russischen Präsidenten telefoniert, dann wird das zu einer wichtigen Geste nach wie vor bestehenden Vertrauens, weil sich ein Gespräch beider in diesen Zeiten ja leider überhaupt nicht mehr von selbst versteht.

Nicht zuletzt spielen Gesten aber auch im religiösen und kirchlichen Leben eine zentrale Rolle: Wenn wir unsere Hände zum Gebet falten, dann verhilft das zu einer besseren Konzentration und macht zugleich nach außen deutlich, dass wir uns auf Gott hin orientieren. Durch das Sich-Bekreuzigen, das wir mit katholischer und orthodoxer Frömmigkeit verbinden, das aber beispielsweise für Martin Luther noch eine Selbstverständlichkeit war, vermag man sich selbst und anderen zu zeigen, dass man zu Christus gehört. Die große Segenssegensgeste zum Abschluss des Gottesdienstes wiederum dient der Bekräftigung des Versprechens Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geist, uns auf allen unseren Wegen zu begleiten, uns eine schützende Hand zu sein.      

Gesten – sie sind also nicht nur für unser gegenseitiges, sondern auch für unser religiöses Verstehen, für unseren Glauben, von zentraler Bedeutung. Und so möchte ich als große Geste Gottes deuten, wovon unser heutiger Predigttext spricht. Er findet sich im 1. Kapitel des Matthäusevangeliums (Mt 1,18-25):

18 Die Geburt Jesu aber geschah so: Als Maria, seine Mutter, dem Josef vertraut war, fand es sich, ehe er sie heimholte, dass sie schwanger war von dem Heiligen Geist.

19 Josef aber, ihr Mann, war fromm und wollte sie nicht in Schande bringen, gedachte aber, sie heimlich zu verlassen.

20 Als er das noch bedachte, siehe, da erschien ihm der Engel des Herrn im Traum und sprach: Josef, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau zu dir zu nehmen; denn was sie empfangen hat, das ist vom Heiligen Geist.

21 Und sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden. 

22 Das ist aber alles geschehen, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht (Jesaja 7,14):

23 »Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben«, das heißt übersetzt: Gott mit uns.

24 Als nun Josef vom Schlaf erwachte, tat er, wie ihm der Engel des Herrn befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich.

25 Und er berührte sie nicht, bis sie einen Sohn gebar; und er gab ihm den Namen Jesus.       

Was Matthäus hier mehr voraussetzt, als berichtet, ist die Geburt Jesu von einer Jungfrau. Diese Geburt von einer Jungfrau – bis heute ist das eine der hoch umstrittenen theologischen Fragen: Während es gerade unter evangelischen Gläubigen nicht wenige gibt, die mit dieser nur zweimal im Neuen Testament, nämlich hier und im Lukasevangelium, erwähnten Jungfrauengeburt überhaupt nichts anfangen und es nur als Irrläufer begreifen können, dass die Jungfrauengeburt ausgerechnet Eingang in unser Glaubensbekenntnis gefunden hat, das wir bis heute in unseren Gottesdiensten sprechen, hat die katholische Kirche im 19. und 20. Jahrhundert zwei Dogmen formuliert, die jedes auf seine Weise die Bedeutung der Jungfrauengeburt noch einmal unterstreichen.       

Mir scheint nun, dass bei beiden Positionen aus dem Blick gerät, worum es Matthäus eigentlich geht: Zunächst einmal ist es doch sehr erstaunlich, dass uns gleich am Anfang des Evangeliums und damit gleich auf den ersten Seiten des Neuen Testaments von Zweifeln berichtet wird, von Zweifeln an eben dieser Jungfrauengeburt. Und dabei kommen diese Zweifel ausgerechnet Josef, der doch so nah dran am Geschehen war und dennoch nicht glauben wollte, dass Maria »schwanger war vom Heiligen Geist«. Berichtet wird sogar davon, dass er Pläne geschmiedet hat, Maria heimlich zu verlassen. Dass in der Jungfrauengeburt also eine Zumutung liegt, die nach anderen, »natürlichen« Erklärungen verlangt, das zeigt uns bereits Josef.

In dieser Situation jedoch erscheint Josef »der Engel des Herrn im Traum« – eine große Geste Gottes, um dem Zweifelnden die Augen zu öffnen:  Sie zielt bemerkenswerter Weise nicht darauf, die Jungfrauengeburt verständlich zu machen; der Engel des Herrn erläutert Josef gerade nicht, wie die Jungfrauengeburt »biologisch« möglich ist. Diese Geste Gottes zielt vielmehr darauf, Josef den Glauben zu ermöglichen, in Jesus den zu erkennen, der schon seinen Vätern und Vorvätern verheißen worden ist, den »Immanuel«, den »Gott mit uns«, den »Jesus«, was so viel übersetzt heißt wie »Gott hilft«, denjenigen, der »sein Volk retten wird von ihren Sünden«, den gnädigen Gott.

Damit aber wird die Jungfrauengeburt, wie sie uns Matthäus schildert, gerade nicht ein Geschehen, das mit den Mitteln unserer natürlichen Vernunft verstanden sein will, sondern ein Ereignis im Rahmen einer Geschichte, in der Gott uns zur Erkenntnis seiner selbst, zum Glauben an sein heilvolles Wirken in unserer Welt führen will. Zugleich kann und will sie damit aber auch zur Ermutigung werden, nach solchen Gesten Gottes in unserem eigenen Leben zu suchen, für sie offen zu sein, sie zu erwarten.

Ich kann von mir selbst nicht behaupten, dass sich mir in meinem bisherigen Leben oft etwas als »Geste Gottes« erschlossen hätte – aber von einer Situation möchte ich Ihnen doch am Ende der Predigt erzählen, einer Situation, in der ich den sicheren Eindruck hatte, dass Gott mir gewissermaßen den »Engel des Herrn« geschickt hat:

Es liegt schon eine längere Zeit zurück, da habe ich hier einen Taufgottesdienst gehalten. In meiner Predigt habe ich, das legten die Taufsprüche auch nahe, stark die Fürsorge Gottes betont: dass wir die gewisse Zuversicht haben dürften, dass Gott auch über diese Täuflinge schützend seine Hand halte, dass Gott mit ihnen sei und sie vor allem Übel bewahren werde.

Als ich dann am Ausgang die Gottesdienstbesucher verabschiedete, kam ein Mann mittleren Alters auf mich zu. Ich kannte ihn nicht, er gehörte offenbar zu einer der Tauffamilien. Er nahm meine Hand, bedankte sich recht förmlich für den Gottesdienst, wollte schon gehen, drehte sich dann aber noch einmal um und sagte zu mir: »Es ist noch nicht lange her, da habe ich meine Tochter zu Grabe tragen müssen. Dass Gott uns gnädig ist, das glaube ich nicht mehr.«

Mich hat diese Begegnung zutiefst verstört. Denn der Mann hatte ja Recht – wie musste es in seinen Ohren geklungen haben, wenn ich mich auf die Kanzel gestellt und vollmundig einen gnädigen Gott gepredigt hatte? Die Frage ließ mich nicht mehr los, sie begleitete mich unablässig.

Einige Tage später hatte ich mir einen Besuch im Klinikum bei einem Gemeindeglied vorgenommen. Ich wusste, dass der Mann schwer erkrankt war – und in der Tat, als ich sein Zimmer betrat, vermochte er mich kaum zu begrüßen, so schwer fiel ihm das Sprechen. Ich setzte mich zu ihm, und da er selbst so große Mühe hatte, auf meine Fragen zu antworten, folgte ich seiner Bitte und fing an zu erzählen – was wir für »events« in den Gemeinden gehabt hätten, was gut angenommen wurde, was weniger gut, was für die Zukunft geplant sei. Da er sehr geduldig zuhörte und immer noch mehr wissen wollte, kam ich unweigerlich auch auf den Taufgottesdienst zu sprechen, schließlich auch darauf, dass mich seither die Frage quälte, mit welchem Recht wir in unseren Gottesdiensten eigentlich einen gnädigen Gott predigten.

In diesem Moment öffnete er die Augen, zum ersten Mal in unserem Gespräch, und er nickte. Ich sah ihn fragend an und wiederholte noch einmal: Wir haben das Recht, einen gnädigen Gott zu predigen? Und er nickte wieder, dieses Mal noch bestimmter. Ohne dass er es hätte ausführen können, machte er mir mit seiner Geste unmissverständlich klar, dass diese Frage für ihn entschieden war.   Da lag er nun, dieser Mann, der sichtlich so viel Leid an seinem eigenen Körper erfahren hatte, und gab mir eine Antwort, die mir – warum auch immer – mit einem Mal meine bohrenden Zweifel nahm. Vielleicht war es die Situation am Krankenbett, die uns beide dazu nötigte, den existentiellen Fragen unseres Lebens mit aller Wahrhaftigkeit zu begegnen, vielleicht war es aber auch die Bestimmtheit, mit der gerade er mir die Antwort gegeben hatte – so oder so wurde sie mir zu einer Geste Gottes, durch die mir in einer für meinen Glauben schwierigen Zeit der richtige Weg gewesen wurde: der Weg zu einem Gott, der trotz aller Erfahrungen von Not, von körperlichem und seelischem Leiden, von Schmerz und Einsamkeit ein Gott ist, der mit uns ist, der »Immanuel«, der uns hilft, »Jesus«, der uns schützt und uns durch alles hindurch trägt, der ein gnädiger Gott ist. Amen.     

Dr. Jennifer Wasmuth
Wolfsburg
E-Mail: wasmuthj@hu-berlin.de

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