Die Nacht ist vorgedrungen

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Die Nacht ist vorgedrungen

Predigt über das Lied „Die Nacht ist vorgedrungen“ von Jochen Klepper (1938)  EG 16 | Johannes Lähnemann | 

gehalten am 3. Sonntag im Advent, 13. Dezember 2020 in der Neuwerk-Kirche Goslar

Liebe Gemeinde!

„Die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages“ – unter diesem Motto hat Jörg Zink, den viele von uns durch seine geistlichen Besinnungen, besonders auch bei den Kirchentagen, kennen, ein Büchlein unter diesem Titel geschrieben. „Die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages“. Das scheint zunächst eine banale Tatsache zu sein: Natürlich beginnt um Mitternacht der neue Tag. Aber für Jörg Zink meint das viel mehr. Er nimmt ernst, dass es um Mitternacht am dunkelsten ist und dass dann etwas Neues beginnen kann. Das Dunkel ist uns in dieser Adventszeit ganz besonders gegenwärtig: das Dunkel der Ungewissheit, die mit der Corona-Krise über uns alle gekommen ist. Es ist das Dunkel, das viele Menschen besonders trifft, die es ohnehin nicht leicht haben im Leben – die am Rande der Armut leben, die um ihre wirtschaftliche Existenz fürchten müssen, die in Notgebieten wohnen, die auf der Flucht sind. Wie viele hat es krankheitsmäßig unerwartet getroffen! Wie viele, für die der persönliche Kontakt eigentlich lebensnotwendig ist, leiden unter den fast vollkommenen Kontakteinschränkungen! Wie viele sind eigentlich überfordert, die sich gerade um Andere kümmern müssen!

„Die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages“: Wenn Jörg Zink dieses Motto wählt, dann meint er damit nicht einfach: „Kopf hoch, es wird schon wieder werden“. Er meint damit, dass für uns als glaubende und hoffende Menschen der neue Tag eine zentrale, tiefe Bedeutung hat. Dabei wird die Erfahrung der Dunkelheit, der Not und der Angst nicht beschönigt.

Was die Aussage „Die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages“ bedeutet, wird in keinem anderen Lied so intensiv bedacht und ausgedrückt wie in Jochen Kleppers Lied „Die Nacht ist vorgedrungen“. Es ist nicht zu Unrecht das wohl bekannteste und zugleich tiefgründigste deutsche Adventslied des letzten Jahrhunderts. Wir wollen heute seinen einzelnen, gewichtigen Versen und Wendungen nachgehen und ihnen nach-denken. Dabei kommt uns die  zentrale Botschaft des christlichen Glaubens ganz besonders nahe.

Vers 1: Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern.

              So sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern.

              Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein.

              Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.

„Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern.“

Das Bild der vergehenden Nacht, des neu anbrechenden Tages ist das Bild des Advent: der Zeit der Erwartung, der Zeit der Vorbereitung auf das Neue, das kommt.

Der Tag kündigt sich an mit dem Licht, mit dem Morgenstern, der hell aufstrahlt. Das Licht fällt hinein in das Dunkel: „Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein“. Das Dunkel all derer, die zur Nacht weinen, soll nicht dunkel bleiben, über der Angst und Pein soll es hell aufstrahlen.

Wer ist der Dichter dieses Liedes mit seinen ungeheuer starken, aussagekräftigen Bildern? Und welche Erfahrung verbirgt sich hinter diesen Zeilen?

Unter unserem Liedtext steht der Name: Jochen Klepper und eine Jahreszahl: 1938. Name und Jahreszahl verbinden sich zu einem besonderen, uns heute noch bewegenden Lebensschicksal: Jochen Klepper war zum Ende der 30-er Jahre des letzten Jahrhunderts der vielleicht bekannteste jüngere evangelische Dichter in Deutschland. – Im Jahr vor unserem Lied war sein großer biographischer Roman „Der Vater“ erschienen, das Buch über den „Soldatenkönig“, den Vater Friedrichs des Großen. Seine Darstellung dieses pflichtbewussten, oft penibel sparsamen aber zugleich tief gläubigen Königs wurde ein Bestseller. Auch viele dem Nationalsozialismus zugeneigte Persönlichkeiten lasen es. Dabei war es ein Buch, das in seinen Grundzügen eine scharfe Kritik an der Herrschaftsideologie des Nationalsozialismus und seiner Vergötzung der Führerschaft enthielt.

Hinzu kommt: Jochen Klepper ist mit einer – zuvor verwitweten – jüdischen Frau verheiratet, die zwei Töchter mit in die Ehe brachte. Schon 1933 hatte man ihm nahegelegt, sich doch scheiden zu lassen. Von der Kirche, die in der Judenfrage weithin kaum entschieden auftrat, konnte er keine durchgreifende Unterstützung erwarten. Die zunehmende Judenfeindlichkeit bekommen er und seine Familie immer stärker zu spüren. Jochen Klepper hat all die Jahre hindurch minutiös ein Tagebuch geführt, das alle Einschränkungen erschütternd dokumentiert. Die ältere Tochter Brigitte kann noch emigrieren. Die jüngere Tochter Renate muss bald darauf den Judenstern tragen. Alle Bemühungen um ihre Ausreise scheitern. Als schließlich deren Deportation bevorsteht, sehen Jochen Klepper, seine Frau Hanni und die Tochter Renate am Ende keinen Ausweg mehr, als gemeinsam in den Tod zu gehen.

„Auch wer zur Nacht geweinet“ … – Jochen Klepper weiß, wovon der schreibt, wenn er diese Worte wählt. Er steht an der Seite aller derer, die zur Nacht weinen, die in Angst, in Not, in Verzweiflung leben.

Wie aber kann er in dieser Situation zu dem Aufruf kommen: „Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein“? Was ist für ihn der „Morgenstern“, der auch seine Angst und Pein bescheint und aufhellt, ja, von dem er überzeugt ist, dass er die Angst und Pein eines jeden beleuchtet, der dieses Lied singt, für das der Komponist Johannes Petzold schon ein Jahr später die Melodie geschrieben hat, die dem Text so sehr entspricht?

Das entfaltet Jochen Klepper in den weiteren Strophen des Liedes, die er damals, an einem Samstag vor dem vierten Advent, entworfen hat.

Vers 2: Dem alle Engel dienen, wird nun ein Kind und Knecht.

              Gott selber ist erschienen zur Sühne für sein Recht.

              Wer schuldig ist auf Erden, verhüll nicht mehr sein Haupt.

              Er soll errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt.

In dieser Strophe stellt uns Jochen Klepper große, ja eigentlich unvereinbare Gegensätze vor Augen. Da ist einerseits eine Niedrigkeitslinie: von einem Kind, von einem Knecht, von Sühne und Schuld ist die Rede.

Und auf der anderen Seite wird behauptet, dass Gott selbst es ist, der diesen Niedrigkeitsweg geht, dass der, dem die Engel dienen, ein Kind und Knecht wird. – Und diesem Kinde soll man glauben, um errettet zu werden?! Ist es nicht eine Illusion, einem Kinde glauben zu wollen? Ist es nicht eine Illusion, in der Niedrigkeit Gott zu entdecken? – Hat nicht gerade Jochen Klepper erfahren müssen, wo die Macht sitzt, und wie sie sich an den Schwachen, den Hilflosen, den vermeintlich Lebensunwerten vergreift?

Wie soll da die Rede von der Schwachheit eine Hilfe, ein Trost sein?

Schwach und unscheinbar allerdings war das Leben Jesu, jedenfalls, wenn man es historisch betrachtet: Seine Geburt liegt letztlich im Dunkeln – irgendwo ganz am Rande des mächtigen römischen Weltreiches. Den kargen historischen Daten nach, die wir haben, ist er ein Wanderprediger, ein jüdischer Rabbi, der das Reich Gottes erwartet, der nur eine kleine, unbedeutende Anhängerschaft hat. Historisch gesehen endet er am Kreuz, stirbt den Tod, den damals vor allem verurteilte Sklaven erleiden mussten.

Die Perspektive aber, aus der Jochen Klepper heraus diesen Vers schreibt, ist die, dass dieser Tod nicht das Ende war, sondern dass es für die Jünger ein Ostern gab, einen unerwarteten Neuanfang, einen neuen Tag nach der Nacht, – dass der gekreuzigte Jesus sich als ihr lebendiger Herr erwiesen hat, dass Gott selbst in ihm seine Kraft, seinen Sieg über den Tod gezeigt hat.

Dann aber muss der ganze Weg Jesu, dieser ganz menschliche, irdische Weg schon unter dem Vorzeichen von Gottes Liebe, Gottes Hinwendung zu den Menschen, von seinem Hineinkommen in unsere Not geprägt sein. Wie radikal diese Heilsbotschaft Gottes Hineinkommen in ein ganz irdisches Leben zum Ausdruck bringt, hat mir ein Gespräch gezeigt, von dem mir eine junge Pastorin, eine frühere Mitarbeiterin von mir, berichtet hat. In einem Gesprächskreis christlicher und muslimischer Frauen wurde sie von einer Muslima gefragt, ob sie schon einmal bei einer Geburt dabei gewesen sei. Das sei doch nichts Ästhetisches, nichts Schönes. Da gäbe es Schmerzen, da gäbe es Blut, da gäbe es Stöhnen, bis endlich das Kind da sei. Und da soll sich Gott hineinbegeben haben? Die Pastorin antwortete: Ja, so genauso ist das. In diese menschliche Schwachheit, in diese Angewiesenheit, hat sich nach unserem Glauben Gott hineinbegeben.

Deshalb kann Jochen Klepper sagen, dass der Herr aller Dinge ein Knecht wird. So kann er sagen, dass die, die sich als schwach und schuldig erfahren, nicht mehr zu verzweifeln brauchen, wenn sie sich an die Seite Jesu stellen, wenn sie sich Gott anvertrauen, Gott, der die Schwachheit und Verletzlichkeit eines Kindes angenommen hat.

Vers 3: Die Nacht ist schon im Schwinden, macht euch zum Stalle auf!

Ihr sollt das Heil dort finden, das aller Zeiten Lauf

              Von Anfang an verkündet, seit eure Schuld geschah.

              Nun hat sich euch verbündet, den Gott selbst ausersah.

In dieser Strophe werden wir aufgefordert, uns auf den Weg zu machen, an einen Ort, der alles andere ist als ein glänzender Palast: Wir sollen uns aufmachen zum Stall, dem Ort der Tiere, dem Ort, den Menschen allenfalls als Flüchtlings-, als Notquartier aufsuchen. Und Jochen Klepper, für den es praktisch keine Zuflucht gab vor dem Unrechtsregime der Nationalsozialisten, verweist auf dieses Symbol einer ärmlichen und menschen-unwürdigen Behausung. Ja, was noch unerhörter ist: Dieser Ort wird – im Licht der Osterbotschaft – zum Mittelpunkt der Geschichte! Hier ereignet sich das Heil, das Gott seit Anfang der Zeiten für uns im Sinn trägt.

Dass wir uns „aufmachen“ sollen heißt: Wir sollen nicht verharren in der Dunkelheit, nicht fixiert sein auf Schuld und Verlorenheit, darauf, dass gerade in der gegenwärtigen Krise unsere Gedanken nur um uns selbst kreisen, sondern wir sollen Schritte tun hin auf das Licht, das an diesem unscheinbaren Ort aufleuchtet, dorthin gehen, wo wir den finden, den Gott dazu ausersehen hat, den Tod und alle Schuld zu überwinden.

Vers 4: Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und Schuld.

              Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld.

              Beglänzt von seinem Lichte hält euch kein Dunkel mehr.

              Von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.

Die 4. Strophe richtet den Blick in die Zukunft. Sie zeigt, dass Jochen Klepper nichts beschönigen will. Solange unsere irdische Geschichte währt, werden Menschenleid und -schuld nicht aufhören. Für Klepper steckt darin auch gewiss eine Vorahnung des Leides und der Schuld, die der Nationalsozialismus und der Krieg noch über die Völker Europas bringen sollte, über Polen und Russen, über Tschechen und Franzosen, über Deutsche und Skandinavier und besonders über das vermeintlich lebensunwerte Leben in den Anstalten, über Sinti und Roma und am über Millionen von Juden.

Für uns mag eine Vorahnung darin stecken, was durch fehlgeleitete menschliche Herrschsucht, Genusssucht, Sicherheitssucht und Gedankenlosigkeit in der Ausnutzung der Lebensressourcen in unserer Generation der Zukunft an Bürden auferlegt wird. Oft genug müssen wir uns fragen: Was hat sich wirklich geändert, was ist menschlicher, was ist neu geworden seit Christus? Wann wird die Last menschlichen Versagens einmal geringer, einmal leichter? Jochen Klepper setzt dem eine Vision entgegen, die ungeheuer kühn das Ende der Macht des Dunkels for Augen führt: „Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld. Beglänzt von seinem Lichte hält euch kein Dunkel mehr. Von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.“

Wir können uns das sagen lassen von Jochen Klepper als von einem Menschen, der schließlich nur durch den Tod hindurch Gottes Licht geschaut hat, dessen letzter Tagebucheintrag auf das Bild des am Kreuz segnenden Christus verweist. Jesus Christus selbst ist es, der die Dunkelheit äußerster Gottverlassenheit durchschritten hat. Er ist durch diese Verlassenheit zum Leben durchgedrungen. Mit dem Licht seines neuen Lebens will er einen jeden unserer Tage begleiten. – Kein Dunkel soll mehr ewig sein, kein Dunkel uns für immer festhalten.

Vers 5: Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt.

              Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt.

              Der sich den Erdkreis baute, der lässt den Sünder nicht.

              Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht.

In der 5. Strophe kommt noch einmal alles zusammen, was dieses Lied sagen will. Jochen Klepper kann hier die Aussagen über Gott nur in Gegensätzen fassen, in Gegensätzen, durch die Gott aber in seiner ganzen Zuwendung zu allen Widersprüchlichkeiten menschlicher Existenz, zu aller Not, Verlorenheit und Schuld erscheint. Sein Gericht über menschliche Schuld ist paradoxerweise keine Bestrafung, sondern wie eine Belohnung: Er setzt sich menschlicher Schuld aus! Der, der das Weltall erschaffen hat, ist sich nicht zu gering, sich dem einzelnen, und gerade dem, der an der Last seiner Sünde trägt, zuzuwenden.

Damit mündet das Lied in der Botschaft: Wer hier Jesus vertraut, hat eine ewige Perspektive – er braucht die Verdammung für seine Schuld nicht mehr zu fürchten.

Wer von dieser Verheißung weiß, wem dieser Trost gewiss ist, der wird nicht anders können, als andere diese Verheißung, diesen Trost auch wissen und spüren zu lassen. Er wird hinausgehen, wird jeden und jede, die ihm begegnen, mit den Augen der Liebe Jesu sehen lernen. Wie wichtig ist das gerade in diesem Jahr, das uns mit so vielen Unsicherheiten, Ängsten und Nöten umgibt: Licht ins Dunkel zu tragen, aufzuhellen, beizustehen in den Bereichen, in denen wir wirken können und Verantwortung tragen, und dabei uns selbst immer wieder von dem Licht des Morgensterns umfangen zu lassen.

de_DEDeutsch