Johannes 6,1-15

Home / Bibel / Ny Testamente / 04) Johannes / Johannes 6,1-15
Johannes 6,1-15

Katalytische Augenblicke | 7. Sonntag nach Trinitatis | 31.07.2022 | Joh 6, 1 – 15 | Gert-Axel Reuß |

I.

Einfach genial! Auf der letzten Seite der Wochenzeitung DIE ZEIT gibt es diese Rubrik: „Was mein Leben reicher macht.“ Leserinnen und Leser teilen in zwei, drei Sätzen Alltagsbeobachtungen mit, die sie als Glücksmomente empfinden: Ein kühles Bad im See – jetzt im Hochsommer; ein wiedergefundener Brief, der alte Freundschaften neu entfacht; Straßenszenen, Naturbeobachtungen, Begegnungen, die so oder ähnlich jede, jeder von uns schon erlebt hat, und daran erinnern: „Das Leben ist schön!“

 

Wir brauchen solche Geschichten, die uns die Augen öffnen und etwas in uns bestärken, das ja in jeder, in jedem vorhanden ist, aber im Grau des Alltags zu verblassen scheint: Leichtigkeit und Mut, Phantasie und Lebensfreude.

 

II.

Die Gleichnisse und Beispielgeschichten, die Jesus erzählt, sind von ähnlicher Qualität. Manchmal brauchen sie einen etwas längeren Anlauf, um unsere Einstellungen zu verändern. Denn es ist nicht nur das Grau des Alltags, sondern es sind echte Ängste, die den Blick der Menschen trüben. Die auch unsere Klarsicht behindern.

 

Genau dies ist auch der tiefere Sinn der Wunder, die Jesus tut. Der Evangelist Johannes weist ausdrücklich darauf hin, dass Jesu zeichenhaftes Handeln nicht auf das Übernatürliche, sondern auf das eigentlich Selbstverständliche abzielt. Jesus meint das „Natürliche“, das uns im Leben oft abhanden kommt: Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Gottvertrauen.

 

III.

Wie kann es sein, dass Menschen hungern, obwohl genügend Lebensmittel vorhanden sind? Dieser Skandal kann doch niemanden gleichgültig lassen!

Wie kann es ein, dass Menschen in Armut geboren werden ohne die Chance, jemals für sich selbst sorgen zu können? Das ist doch nicht normal. Mit diesem Zustand können wir uns doch nicht zufriedengeben!

Warum schließen wir Menschen aus von unserem Lebensglück? Was geht uns durch die fehlende Gemeinschaft mit ihnen verloren?

 

Manchmal braucht es Katalysatoren, damit das Naheliegende offensichtlich wird. Menschen, die mit ehrlichem Interesse an ihrem Gegenüber Fragen stellen, ohne ins Moralische abzugleiten. – Leichter und nachhaltiger verändern sich Lebenshaltungen allerdings durch Erlebnisse. Durch katalytische Erfahrungen, die unser Bewusstsein auf eine andere Stufe heben. Man könnte auch sagen: (Erfahrungen,) die unser Bewusstsein zu seinen Ursprüngen zurückführen.

 

IV.

Die Geschichte von der Speisung der 5000 berichtet von solch einer katalytischen Erfahrung – auch wenn die Überschrift in die Irre führt. Denn um ein Märchen der Gebrüder Grimm wie in der Geschichte vom süßen Brei und dem Topf, der nie versiegt, geht es gerade nicht. Sondern um offene Herzen und offene Hände.

 

Das Wunder dieser Geschichte ist Verwunderung! Ich wundere mich über mich selbst, darüber, wozu ich in der Lage bin, wenn jemand meine Begabungen weckt, mir die Augen öffnet und deutlich macht, dass ich gebraucht werde. Miteinander teilen, abgeben von dem, was ich habe – das kann ansteckend wirken und Freude machen. Das Leben wird leicht, wenn es nicht von der Sorge um das Morgen zerfressen wird. Diese Sorge nimmt Jesus den Menschen! Eine Kettenreaktion kommt in Gang. Das Leben kommt in Gang!

 

Das ist Jesu besondere Begabung: Das sich dort, wo er ist, Zuversicht ausbreitet, Hoffnung und Gottvertrauen. „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.“ (Mt 5,6) Es sind Worte wie diese, die ihm die Menschen glauben. Worte, die das Leben verwandeln in dem Augenblick, wo Jesus sie ausspricht. Nicht wegen der großen Umverteilung, sondern wegen der Würde, die Jesus den Menschen zurückgibt. Es versteht sich von selbst, dass diese Würde eines Menschen nicht ohne materielle Grundlage bleiben kann – und das geschieht so auch in dieser Geschichte von der Speisung der 5000. Aus einem Nebeneinander, das oft genug ein Gegeneinander ist, wird ein Miteinander. Durch Jesu ordnende Hand – könnte man sagen – wenn er die Leute sich lagern lässt im Gras und das Dankgebet spricht über Brot und Fische.

 

V.

Können wir das nicht auch? Angestoßen, in Bewegung gebracht durch das Vorbild Jesu? Nicht gönnerhaft, sondern als reich Beschenkte. Selbstverständlich und ohne Hintergedanken.

 

Ich glaube: Dazu braucht es immer wieder katalytische Augenblicke. Momente, in denen wir aufgeweckt werden. In denen uns das Glück unseres Lebens bewusst wird und wir zugleich erkennen, wie sehr wir dieses Glücks bedürfen. Das Erkennen unserer echten Bedürfnisse bedeutet ja nicht, dass uns etwas fehlt. Alles ist da. Wir brauchen nur davon zu nehmen.

 

Leider geben wir uns manchmal mit weniger zufrieden. Versuchen wir, unsere Bedürfnisse auf die falsche Weise zu stillen. Wie wir im Evangelium des Johannes lesen, ist das kein neuzeitliches Phänomen, sondern ein Irrweg, den Menschen zu allen Zeiten eingeschlagen haben.

 

Insofern richtet sich Jesu Frage in der Geschichte von der Speisung der 5000 auch an uns: „Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben?“

Ich meine: das ist keine rhetorische, sondern eine echte Frage. Auch wenn der Evangelist schreibt: „Das sagte Jesus aber, um ihn (den Philippus) zu prüfen; denn er wusste wohl, was er tun wollte.“

 

„Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben?“

Das ist eine drängende Frage. Wie drängend erleben wir gerade, weil die Getreidetransporte aus der Ukraine blockiert werden.

 

„Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben?“

Diese Frage stellt uns vor die Aufgabe, immer wieder unsere Möglichkeiten zu prüfen. – Natürlich reichen die 200 Silbergroschen, welche die Jünger Jesu zur Verfügung haben, nicht aus. Aber sie reichen ziemlich weit. Natürlich sind die Armen darauf angewiesen, dass sich auch andere großzügig zeigen. „Wir alleine werden das Meer des Elends dieser Welt nicht austrocknen,“ – wie es der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker einmal ausgedrückt hat, um sogleich hinzuzufügen: „wir können Dämme der Hoffnung bauen.“

 

Andere werden das Ihre tun, wenn wir mit gutem Beispiel vorangehen.

Möglicherweise aber sind wir gerade nicht die, die vorangehen, sondern andere sind uns schon weit voraus, wir brauchen nur zu folgen. – Ich sage das ohne jeden moralisierenden Unterton, sondern im Vertrauen darauf, dass das miteinander Teilen auch uns gut tut. Unserem Leben Tiefe und Sinn gibt. Uns beglückt. Dass wir also wirklich „nur zu folgen brauchen.“ Ganz einfach.

 

VI.

Es gibt kein Leben ohne diese materielle Grundlage: Brot. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Brot meint alles, was wir zum Leben brauchen: „Alles, was not tut für Leib und Leben, wie Essen, Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut, fromme Eheleute, fromme Kinder, fromme Gehilfen, fromme und treue Oberherren, gute Regierung, gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen.“ (Martin Luther, Kleiner Katechismus, Auslegung zur vierten Bitte des Vater Unsers)

 

Brot meint ganz irdisch und umfassend: Lebensglück.

 

VII.

Wie wäre es, wenn wir dem Vorbild der Zeit-Leser*innen folgen und die Augen offen halten für das, was unser Leben reicher macht? Ich bin sicher: Wir werden fündig!

 

Amen.

 

 

Wer mag, könnte noch diese kleine Geschichte aus der Rubrik: „Was mein Leben reicher macht“ anschließen:

 

„Das kleine Mädchen lässt sich im Hotel das herrliche Buffet von seinem Großvater ganz genau erklären. Jedes Detail wird erfragt, der Gedanke, dass sie selbst auswählen und alles nehmen darf, beeindruckt die Kleine offensichtlich kolossal.

Am Ende dann die Entscheidung: „Ich glaube, heute nehme ich mal nur Eis.“

(Rudolf Müller, DIE ZEIT, Nr. 30, 21. Juli 2022, S. 64)

Gert-Axel Reuß

Domprobst

Domhof 35

23909 Ratzeburg

Mail: reuss@ratzeburgerdom.de

Gert-Axel Reuß, geb. 1958, Pastor der Nordkirche, seit 2001 Domprobst zu Ratzeburg

 

 

 

 

da_DKDansk