Predigtreihe zum Vater-Unser

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Predigtreihe zum Vater-Unser

 


Predigtreihe zum Vater-Unser
von Klaus Bäumlin

Unser Vater im Himmel, geheiligt werde dein Name
Nydeggpredigt am 19. August 2001

Liebe Gemeinde,

in den letzten Gottesdiensten, die ich mit Ihnen zusammen in der Nydeggkirche
halte, möchte ich versuchen, das Unser-Vater-Gebet auszulegen. Es
ist das Gebet, das Jesus uns gelehrt und geschenkt hat. Schon die ersten
Christengemeinden haben es regelmäßig in ihren Gottesdiensten
gebetet. Über fast zwei Jahrtausende hinweg verbindet es die Generationen.
Und es verbindet die Christen und Kirchen aller Konfessionen und überall
auf der Erde. Schon Theologen der Alten Kirchen haben es als Zusammenfassung
des ganzen Evangeliums verstanden. Im Berner Synodus von 1532, dem Grundlagendokument
der Berner Reformation, heisst es vom Unser Vater, es sei „das wahre
christliche Gebet und der Wasserkrug oder Eimer, mit dem aus dem Brunnen
der Gnade – aus Jesus Christus – diese Gnade geschöpft und ins Herz
gefasst wird.“ Wie vielen Menschen über viele Jahrhunderte ist
dieses Gebet wirklich zum Wasserkrug geworden, aus dem sie Kraft, Trost
und Hoffnung geschöpft haben. Und es gibt wohl keine anderen Wort
der Bibel, die noch heute so vielen Menschen vertraut sind wie das Unser-Vater-Gebet.

Das Gebet Jesu ist uns im Neuen Testament zweimal überliefert: im
Lukasevangelium in einem kürzeren, im Matthäusevangelium in
der uns vertrauten erweiterten Fassung:

„Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden;
denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte
machen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleiche. Denn euer
Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet. Darum
sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name
werde geheiligt.“ (Matth. 6,7-9)

Wenn wir von Gott und zu ihm reden, können wir es nicht anders tun
als in Gleichnissen, Bildern, mit Worten und Begriffen, die aus unserer
Erfahrung kommen. Auch die Menschen, denen wir die Bibel zu verdanken
haben, konnten es nicht anders. Sie reden von Gott und zu ihm als Herr
und König, als Hirte, als Fels und Schild, als Licht und Sonne und
eben: als Vater.

Mit allen solchen Worten und Vergleichen sind Erfahrungen, vielseitige,
auch widersprüchliche Erfahrungen verbunden. Mit dem Wort „Vater“
ist das besonders so. Bei vielen Kindern weckt das Wort lebenslang Erinnerungen
an Fürsorge und Schutz, an Zärtlichkeit und Liebe, an Kraft
und Grosszügigkeit. Für andere ist und bleibt es verbunden mit
Angst und Einschüchterung, mit Zucht, Zwang und Fremdbestimmung.
Wieder andere haben schwache, ungeduldige Väter, Versager ohne Autorität
erlebt. Und für noch andere hat der Vater für ihr Leben kaum
eine Bedeutung, sei es, dass sie einen Vater hatten, der nie Zeit für
seine Kinder, sei es, dass sie ihren Vater überhaupt nie gekannt
haben. Und so kommt es, dass es Menschen gibt, denen die Anrede „Unser
Vater“ gar nicht so leicht über die Lippen geht, weil ihnen
Erfahrungen mit dem eigenen Vater im Weg stehen. Ich denke zum Beispiel
an Carola Moosbach, deren Gebete für mich zu den schönsten,
ehrlichsten, anstössigsten und zärtlichsten gehören, die
ich kenne. Zwischen ihr und dem Unser-Vater-Gebet steht der eigene Vater
im Weg, der sie als Kind sexuell missbraucht hat: der „Vaterfeind“,
der „Kinderschänder und Seelenmörder“.

Ach, wir irdischen Väter – wie viele widersprüchliche Erfahrungen
sind mit uns verbunden!

*

Jesus aber heißt uns beten zum „Vater im Himmel“. Für
ihn ist Gott ein Vater, aber ganz anders, unvergleichlich anders als irdische
Väter. Der Himmel ist in der Sprache der Bibel der Ort – ach, „Ort“
ist kein gutes Wort – , die Sphäre, die Zeit, in der Gott wohnt,
in der sein Wille heute schon geschieht, in der die Widersprüche
und dunkeln Rätsel des Lebens und der Welt gelöst sind. Himmel
– das ist der weite, offene Horizont der Gnade. Himmel – das ist die Zukunft
Gottes für die Erde.

„Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen“,
heißt es in Friedrich Schillers „Ode an die Freude“, und
so tönt es im Finale von Beethovens Neunter Symphonie. Wie anders
heißt es beim Propheten Jesaia (57,15): „Ja, so hat gesprochen
der Hohe und Erhabene – wohnend auf Dauer und heilig ist sein Name: Ich
wohne in der Höhe und als Heiliger u n d bei dem Zerschlagenen und
Gedemütigten, um aufleben zu lassen die Gedemütigten, um aufleben
zu lassen das Herz der Zerschlagenen.“

So hat Jesus es verkündet, so hat er es gelebt, so hat er es andere
erfahren, spüren lassen: Nicht überm Sternenzelt „muss
ein lieber Vater wohnen“ – Gott, der im Himmel wohnt, wohnt auch
bei den Zerschlagenen und Bedrückten. Und deshalb kommt der Himmel
in ihr Leben. Bei Jesus und mit ihm leben sie auf: Hungernde teilen das
wenige, was sie haben, und sie werden satt. Stummgemachte finden ihre
Sprache, Geblendeten gehen die Augen auf, Gelähmte fichten sich auf
und gehen auf eigenen Füssen. Von niederdrückenden Mächten
Besessene und Fremdbestimmte erwachen zu freien Menschen. Verachtete,
Vergessene und Ausgestoßene sind eingeladen und aufgenommen in gesellige
Tischgemeinschaft. Das Herz der Zerschlagenen und Gedemütigten lebt
auf. Sie erfahren die Nähe und Gegenwart des Vaters im Himmel mitten
in ihrem kleinen Leben. Sie sehen den offenen Himmel der Gnade. Sie spüren
die Allmacht von Gottes Liebe mitten in ihrer eigenen Ohnmacht und Schwachheit.

Denn der, der sie das Unser Vater beten lehrt, lebt selber aus dieser
Nähe und Gegenwart des himmlischen Vaters. Das Unser-Vater-Gebet
ist uns im Neuen Testament in der griechischen Sprache überliefert.
Jesus hat es aber nicht griechisch gebetet, sondern in seiner aramäischen
Muttersprache. Er hat Gott mit „Abba“ angeredet. Das ist eine
vertrauliche Anrede, kein distanziertes „Vater“, eher ein zärtliches,
liebevolles „Papa“. Noch in der Stunde seiner schwersten Entscheidung,
Getsemane, kurz bevor man ihn verhaftet, zum Tod verurteilt und ans Kreuz
gehängt hat, im Wissen darum, was auf ihn zukommt, hat Jesus gebetet:
„Abba“ – das Markusevangelium überliefert uns hier das
aramäische Wort – „Abba, lieber Vater, du kannst alles. Lass
diesen Leidenskelch an mir vorübergehen. Aber es soll geschehen,
was du willst, nicht was ich will.“ (Mark. 14,36) Jesus hat seinem
Vater bis zum letzten gehorcht, er hat dessen Wille über seinen eigenen
gestellt – aber nicht aus Furcht vor einem strengen, strafenden und fordernden
Vater, sondern aus einem unbedingten, grenzenlosen Vertrauen, im Wissen
und Vertrauen, dass der Vater im Himmel für seine Kinder nur das
Gute will: das Leben, nicht den Tod.

*

Jesus lehrt uns beten “ U n s e r “ Vater im Himmel“.
Wir sagen das so leichthin und haben vielleicht gar nicht gemerkt, was
für eine integrierende Kraft in diesem Wörtlein „unser“
liegt. Jesus versteht es umfassend, alle ein-, niemanden ausschliessend.
Für ihn ist Gott nicht nur der Gott der Juden und der Christen. Er
ist der Vater aller Menschen. Und so sind alle Menschen Kinder des Vaters
im Himmel. Wenn wir beten „Unser Vater im Himmel“, dann schliessen
wir sie ein. Sie kommen uns nahe, werden zu unseren Geschwistern. Das
gilt auch für den albanischen Asylbewerber, der Muslime ist. Es gilt
für den Tamilen mit seinem hinduistischen Hintergrund. Es gilt für
den aus der Kirche ausgetretenen Agnostiker. Es gilt für die unangenehme
Nachbarin oder Schwägerin. Es gilt für den persönlichen
und den politischen Gegner. Sie merken, liebe Gemeinde, das Unser-Vater-Gebet
ist darauf aus, unsere Einstellungen und Haltungen zu verändern.
Es geht uns ganz schön ans Lebenige!

*

Auch mit den ersten drei Bitten verändert das Unser Vater unsere
Perspektive. Jesus beginnt sein Gebet nicht mit den Wörtern „ich“,
„gib mir“, auch nicht mit „uns“. Erst an vierter Stelle
kommt die Bitte um unser tägliches Brot. Dreimal heißt es zunächst
„dein“: „Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein
Wille geschehe.“

Ein paar Verse später im Matthäusevangelium (6,25-33) finden
sich die Worte Jesu über das Sorgen. „Sorgt euch nicht um euer
leben, was ihr essen oder was ihr trinken, noch um euren Leib, womit ihr
euch kleiden sollt.“ Und er schliesst seine Rede über das Sorgen
mit den Worten: „Sucht zuerst nach dem Königreich eures himmlischen
Vaters und seiner Gerechtigkeit, dann wird euch das alles hinzugefügt
werden.“ Dorothee Sölle hat einmal geschrieben, Beten heisse,
die grossen Wünsche lernen. Das würde z.B. heissen: nicht nur
wünschen und darum beten, dass i c h morgen zu essen und zu trinken
habe, sondern dass a l l e Menschen genug zu essen und zu trinken haben.
Es wäre das Wissen oder die Weisheit, dass ich, meine Familie, meine
Nachkommen, mein kleines Land auf Dauer nur in Frieden leben können,
wenn der Friede auf Erden Zukunft hat. Sie merken, liebe Gemeinde, Das
Wörtlein „Unser“ in der Anrede „Unser Vater im Himmel“
hat seine Konsequenzen!

So lehrt uns Jesu zunächst um das Grosse, das Ganze bitten. Er legt
uns die g r o s s e n Wünsche ans Herz: „Dein Name werde geheiligt.“
Ich habe in den letzten paar Jahren, bei der intensiven Beschäftigung
mit biblischen Texten, manche hinzugelernt, neu gelernt. Ander haben mir
dabei geholfen. Etwas vom Schönsten, was ich entdeckt habe, betrifft
das Wort „Segen“. Ich habe gelernt, dass in der Bibel „segnen“
etwas Reziprokes, Gegenseitiges ist: Gott segnet Menschen und Menschen
können Gott segnen. Jemanden segnen heißt, ihm Lebenskraft,
Glück, Gelingen, ja – warum nicht? – Erfolg zu sprechen, zuwünschen,
zutrauen. So bitten wir etwa bei der Taufe um Gottes Segen für ein
Kind: dass es seine Gaben und Fähigkeiten entfalten kann, dass es
ein freier Mensch werden darf, dass es von Menschen geleitet wird, die
es gut mit ihm meinen und ihm vielleicht den Segensspruch mit: „Gesegnet
ist der Mensch, der auf den Herrn vertraut und dessen Zuversicht der Herr
ist. Er ist wie ein Baum, der am Wasser gepflanzt ist. Auch in trockenen
Jahren wird er seine Früchte tragen.“ (Jer. 17,7f).

Und so können, dürfen und sollen nun ihrerseits wir Menschen
Gott segnen: ihm zuwünschen, zutrauen, zusprechen und zumuten. Dass
er tun kann, was er tun will. Im Unser-Vater-Gebet geht es um dieses gegenseitige
Segnen: Die Kinder segnen den Vater im Himmel und sie bitten ihn um seinen
Segen für sich und ihre Geschwister.

In den ersten drei Bitten geht es um den Segen, mit dem wir Gott segnen,
ihm zusprechen. Und das gilt ganz besonders für die erste Bitte:
„Dein Name werde geheiligt.“ Jesus legt uns den grossen, leidenschaftlichen
Wunsch ans Herz, dass der Name Gottes zu Ehren kommt, dass er, der tausendfach
missbrauchte, nicht missbraucht wird, um im Namen Gottes andere Menschen
zu verurteilen. Dass wir ihn nicht zu Intoleranz und Rechthaberei missbrauchen.
Dass wir den vergessenen und verachteten Namen Gottes sorgfältig,
liebevoll und zärtlich auf uns tragen. Dass wir uns in seinem Namen
Frieden wünschen und Frieden stiften. Dass wir erkennen, wie schön
und gut es ist, dass wir in Seinem Namen getauft sind, unser Leben also
geprägt und gezeichnet sein darf durch diesen Namen.

Ich denke, liebe Gemeinde, auch unser Gottesdienst am Sonntagmorgen hat
etwas zu tun mit der Heiligung des Gottesnamens, mit dem Segen, den wir
Gott zusprechen. Wir können gar nicht ermessen, was für eine
verborgene Kraft in die Welt kommt, wenn ein paar Menschen überall
auf der Erde durch ihr Beten und Singen, ihren Dank und Lobpreis den Namen
Gottes in Ehren halten.

Im Unser-Vater-Gebet geht es um die gemeinsame Sache des Vaters im Himmel
und seiner Kinder auf der Erde. Gott ist für uns da, und wir sind
für ihn da. Wir können uns aufeinander verlassen. Wir stehen
für einander ein. Wir gehören zusammen. Wir brauchen einander.
Wir helfen einander. Wir vertrauen einander. Wir sind aufeinander angewiesen.
Wir hoffen aufeinander, wir erwarten viel voneinander. Wir lieben einander.
Wir freuen uns aneinander. Wir geben einander Zukunft. Wir, unser Vater
im Himmel, und seine Kinder auf der Erde.

Klaus Bäumlin
Pfarrer der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Nydegg in Bern
E-Mail: klaus.baeumlin@mydiax.ch


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