Daniel 12,1b-3

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Daniel 12,1b-3

„Leuchten wie des Himmels Glanz“ | Letzter Sonntag des Kirchenjahres – Totensonntag | 26.11.2023 | Daniel 12,1b-3 | Rainer Stahl[i] |

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,

die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sei mit Euch allen!“

Liebe Leserin, lieber Leser!

Liebe Schwestern und Brüder!

Nie vergesse ich, dass ich in der Schule, wohl gemerkt: in der „sozialistischen“ Schule, das Theaterstück „Antigone“ von Sophokles gelesen hatte. Das Theaterstück, das die Beerdigung Toter als höchstes Kulturgut verteidigt und bewirbt: Dort die Beerdigung des Bruders Polyneikes durch seine Schwester Antigone gegen das Verbot ihres Onkels Kreon:

„Antigone: Doch ihn begrab ich. Schön ist mir nach solcher Tat der Tod. Lieb werd ich bei ihnen liegen dann, den Lieben, nach frommer Freveltat; denn länger ist die Zeit, da denen drunten ich gefallen muss als denen hier. Denn dort lieg ich für immer…“[ii]

Verstorbene können wir nicht einfach irgendwo liegen lassen, gar auf Müllhalden werfen. Wo das geschieht, zeigen die Verantwortlichen, dass sie zutiefst „entmenschlicht“ sind. Das Stück „Antigone“ zeigt nach meiner Erinnerung auch, dass es dabei nicht nur um Verstorbene der eigenen Sippe, des eigenen Dorfes, der eigenen Stadt, des eigenen Landes geht, sondern auch um die Verstorbenen auf Seiten der Feinde. Auch ihnen ist eine Beerdigung zu gewähren. Und das war eine Geisteshaltung unter den vorchristlichen Griechen, unter Menschen, die andere Menschen als Menschen achteten, ohne, dass sie etwas von Glaubenspositionen des Christentums wissen konnten. Hier wird also eine humane Grundhaltung deutlich, der auch wir als Christen nur folgen können.

Dazu darf ich eine moderne Frage aufnehmen:

In einem Bibelkreis in meiner Gemeinde in Altenburg etwa im Jahr 1987 fragte eine Dame, ob ich ihre Entscheidung billigen könnte, dass sie nach dem Ableben verbrannt wird. Denn sie habe keine Angehörigen, die ein großes Grab pflegen könnten. Meine spontane Antwort war sogar für mich überraschend: „Sie glauben doch auch, dass Gott die Verbrannten der Kriege auferwecken kann.“ Ihre Antwort: „Danke, Herr Pfarrer.“

Als die Freundin meiner Mutter im Jahr 2018 103-jährig verstorben war, wurde ihr Leib entsprechend ihres Wunsches verbrannt und die Asche auf dem Weg einer Meerbestattung der Welt zurückgegeben. Ich konnte auf diesem Schiff nicht mitfahren, war aber im Altenheim bei dem gemeinsamen Gedenkkaffee aller Angehörigen und Freunde dabei gewesen. Besonders bewegt hatte mich, dass ihr Neffe als über Achtzigjähriger aus Paris hatte kommen können – der Sohn der Schwester, den die Freundin meiner Mutter aus einem Heim herausgeholt und dann großgezogen hatte. Denn nach der Besetzung Frankreichs war die dorthin geflohene Familie ihrer Schwester auseinandergerissen worden: Der Junge war in ein Heim gekommen, die Mutter war inhaftiert worden, der Vater war nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden. Das Einzige, was die Freundin meiner Mutter tun konnte, war, sich des Neffen anzunehmen…

Im August las ich einen interessanten Essay zum Thema „Ohne den Tod wäre das Leben die Hölle“.[iii] Wenn wir das Datum unseres Todes kennten, dann würden wir neu und anders leben: „Denn Ihnen wäre klar: Morgen ist ein unwiederholbarer Tag weniger auf der Rechnung. Diesen Tag bekomme ich nie wieder, damit mache ich jetzt keinen Unsinn.“ Der Autor, Manfred Lütz, Psychiater und Theologe, meint: „Wenn wir nicht sterben könnten, das wäre die Hölle. Dann wäre alles gleichgültig: Wir könnten irgendjemanden schwer beleidigen, doch das wäre nicht schlimm, weil wir uns in 500 Jahren ja entschuldigen könnten. […] Nichts wäre wirklich wichtig, alles wäre egal […].“ Und er fasst zusammen: „Nur dadurch, dass wir alle sterben, wird jeder Moment wichtig, wird jede Entscheidung ein ernsthafter Entschluss mit einmaligen Folgen, bekommt unser Leben, das Leben jedes einzelnen Menschen, seine einzigartige Substanz und Würde.“ Gibt es die Möglichkeit, diese Würde, die wir durch die Begrenztheit unseres Lebens gewinnen, noch zu übertreffen? Manfred Lütz findet dies in folgender Beobachtung: „Immer schon haben Menschen […] angesichts des Todes von geliebten Mitmenschen zugleich eine Ahnung von Unsterblichkeit über den körperlichen Tod hinaus entwickelt. Nicht von unendlichem Leben, das wäre wie gesagt die Hölle, aber von so etwas wie ewigem Leben, das die Zeit sprengt, in der wir leben.“ Und er erwähnt auch unsere christlichen Einsichten: „Das Christentum beansprucht, die positive Antwort Gottes auf diese Sehnsucht zu verkünden.“ Es lohnt sich also, unsere christlichen Antworten deutlicher durchzubuchstabieren.

An dieser Stelle meines Nachdenkens muss ich zuerst eine Verwunderung aussprechen: Für den Letzten Sonntag des Kirchenjahres haben wir zwei Schwerpunktsetzungen: „Ewigkeitssonntag“ und „Totensonntag“. Ich hatte mich entschlossen, dieser zweiten Schwerpunktsetzung nachzugehen. Als ich aber das Bibelwort, das Evangeliumslesung ist, und das Bibelwort, das Epistellesung / Brieflesung ist, ansah, erkannte ich, dass die entscheidende Botschaft dieser Worte auch die Hoffnung auf das ewige Leben ist:

Johannes 5,25: „[…] Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören, die werden leben“.

Und Paulus in 1. Korinther 15,44: „Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib“.

Das sind doch die entscheidenden Wahrheiten, wenn wir unserer Toten gedenken! Wer christlich auf die Herausforderung des Todes reagieren will, kann die Hoffnung auf die Auferstehung, auf „neues“ Leben verkündigen!

Das Besondere, das für den „Totensonntag“ als Predigtwort vorgeschlagen wird, besteht nun darin, dass dieses Bibelwort aus dem Daniel-Buch einen vorchristlichen Text, einen Text aus der letzten Phase der Bearbeitung und Aktualisierung innerhalb der Daniel-Tradition darstellt. Dass es ein Wort ist, das geistgeführten Denkern der Zeit vor 164 v.Chr. als neueste Einsicht bewusst geworden war. Sie verstanden: als von Gott offenbart worden war:

„[…] Und es wird sein Zeit der Not,

wie nie sie war seit dem Bestehen des Volkes – bis zu jener Zeit.

Und in jener Zeit wird gerettet werden dein Volk,

jeder einzelne, der gefunden wird als verzeichnet im Buch.

Und viele derer, die im Staubland schlafen – aufwachen werden sie.

Diese zu ewigem Leben.

Und jene […] zu ewiger Abscheu.

Und die Einsichtigen werden glänzen wie der Glanz des Firmaments.

Und die, die Vielen zu Rechtschaffenheit verhalfen, wie die Sterne für Ewigkeit und Zukunft ohne Grenze“ (Daniel 12,1b-3).[iv]

Natürlich eignet diesem Wort eine besondere Begrenzung: Zwar haben ihre Denker ihre Einsichten über allgemeine Aussagen über das Volk der Judäer hinausgeführt zu Aussagen über jede Einzelperson ihres Volkes. Aber sie denken eben über die Toten ihres Volkes nach:

„Und in jener Zeit wird gerettet werden dein Volk,

jeder einzelne, der gefunden wird als verzeichnet im Buch.“

Da könnte gesagt werden: Das betrifft uns doch gar nicht. Wir sind doch keine Judäer des 2. Jahrhunderts vor Christus und gehören auch nicht zu den jüdischen Nachbarn heute. Was können wir tun?

Ich sehe eine starke, belastbare, stabile, haltbare Brücke zu uns: Jesus, unser Herr, der Christus, hat sich auch als „Menschensohn“ verstanden, als diese Einzelperson, von der im Daniel-Buch die Rede ist:

„Und siehe: Mit den Wolken des Himmels kam er wie ein Mensch.

Und bis zum Uralten gelangte er, und näherte sich ihm, wurde zu ihm gebracht.

Und ihm wurden gegeben die Herrschaft und die Ehre und die Staatsgewalt.

Und alle Völker, Nationen und Sprachen – ihm werden sie dienen.

Und seine Staatsgewalt ist eine ewige, die nicht zerstört werden wird.

Und sein Reich eines, das nicht zugrundegehen wird“ (Dan 7,13-14).[v]

Wenn das stimmt, dann können wir uns als Christen (!) zu diesem Volk hinzuzählen, über dessen Schicksale hier nachgedacht wird! Wir werden die Hoffnungsbotschaften dem judäischen und dem jüdischen Volk in keiner Weise wegnehmen. Aber wir können es wagen, auch unter den Schirm dieser Botschaften zu treten!

Im Sinne unserer anfänglichen Überlegungen dürfte das heißen: Weil wir sterben müssen, hat für uns jede Entscheidung ihre grundlegende Bedeutung. Weil ich sterben muss, hat für mich jede Entscheidung ihre grundlegende Bedeutung:

Hatte für mein nachfolgendes Leben Bedeutung und wird vielleicht über mein Leben hinaus Bedeutung haben, dass ich im Februar 1985 nach der Arbeit für den Lutherischen Weltbund in Genf wieder in die DDR zurückgekehrt und Pfarrer in Altenburg, südlich von Leipzig, geworden war? Ich wage zu denken: Ja! Prüfen auch Sie Ihre Erinnerungen: Was würden Sie als eine ähnlich wichtige Entscheidung ansehen, durch die Sie Ihrem Dienst für Christus konkret treu geblieben waren?

Und allen, die besondere Treue benennen können – besser gesagt: die ahnen können, dass sie Mut aufgebracht hatten, in ähnlicher Weise Treue für Christus zu leben –, wird das Schlussbild unseres Bibelwortes eine überzeugende Chance, der sie vertrauen können. Oder – hoffentlich darf ich das sagen –: Wir alle, die wir ahnen, dass wir Mut zur Treue hatten und immer wieder aufbringen werden, wird das Schlussbild eine Chance, der wir vertrauen können:

„Und die Einsichtigen werden glänzen wie der Glanz des Firmaments.

Und die, die Vielen zu Rechtschaffenheit verhalfen, wie die Sterne für Ewigkeit und Zukunft ohne Grenze.“

Amen.

„Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn!“

Liedvorschläge:

EG 518: „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“

EG 526: „Jesus, meine Zuversicht und mein Heiland, ist im Leben.“

EG 533: „Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand…“

EG 535: „Gloria sei dir gesungen mit Menschen- und mit Engelzungen…“

Dr. Rainer Stahl

Erlangen

rainer.stahl.1@gmx.de

[1951 geboren, Studium der Theologie in Jena, Assistent im Alten Testament, 1981 ordiniert, Pfarrer der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen, zwei Jahre lang Einsatz beim Lutherischen Weltbund in Genf, dann Pfarrer in Altenburg, dann Alttestamentler an der Kirchlichen Hochschule in Leipzig, dann Referent des Thüringer Landesbischofs in Eisenach, von 1998 bis 2016 Dienst als Generalsekretär des Martin-Luther-Bundes (des evangelisch-lutherischen Diasporawerks) in Erlangen, seit April 2016 im Ruhestand.]

[i]  Vgl. Sie auch: Rainer Stahl: Das Alte Testament. Der aktuelle Stand für den Kirchlichen Fernunterricht zusammengefasst, Fromm Verlag 2023, S. 179-183, dort eine frühere Fassung der Predigt.

[ii]  Vgl. Sophokles: Antigone, Reclam XL. / Text und Kontext / Nr. 19244, S. 9, Zugriff am 3.9.2023 auf: https://www.reclam.de/data/media/978-3-15-019244-3.pdf .

[iii]  FOCUS 35/2023, S. 72: Manfred Lütz: Echt irre.

[iv]  Hierbei handelt es sich um meine eigene Übersetzung: Rainer Stahl: Von Weltengagement zu Weltüberwindung. Theologische Positionen im Danielbuch, Contributions to Biblical Exegesis and Theology 4, Kampen 1994, S. 116.

[v]  Wiederum meine Übersetzung: Rainer Stahl, a.a.O., S. 53.

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