Das Wichtigste wird…

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Das Wichtigste wird…

Das Wichtigste wird uns geschenkt | Predigt am 5. Sonntag n. Tr. – 12. Juli 20 | über Lk 5,1-11 | von Bernd Giehl |

Liebe Gemeinde!

Eigentlich ist das ja eine unkomplizierte Geschichte. Jesus kommt zum See Genezareth, er trifft auf ein paar Fischer, die womöglich schon von ihm gehört haben, was ja anzunehmen ist, weil schon gleich am Anfang erzählt wird, dass eine große Menschenmenge ihn hören will. Damit er besser zu ihnen reden kann, bittet er die Fischer, ein Stück auf den See hinauszufahren. Das tun sie und danach sollen sie ihre Netze auswerfen. Die Fischer sagen, sie hätten die ganze Nacht gefischt aber nichts gefangen. Anscheinend kann man mit einfachen Mitteln nur in der Nacht fangen. Sie tun es aber trotzdem und fangen eine große Menge an Fischen. Natürlich kann man sich darüber wundern, dass ihr vermutlich größter Fang zugleich auch ihr letzter ist und dass sie nachher den Beruf an den Nagel hängen und Jesus nachfolgen, aber das ist wohl der Überwältigung geschuldet. Nicht nur Misserfolg kann ein Leben verändern. Erfolg kann das offenbar auch.

So weit, so einfach. Nur wenn man dann die Parallelstellen bei Matthäus und Lukas machschlägt, merkt man, dass dort anders als bei Lukas nicht von einem Wunder erzählt wird, sondern dass Jesus den Fischern einfach sagt „Folge mir nach“ und dann gehen sie tatsächlich mit ihm.

Eigenartig, nicht wahr? Ob Lukas, anders als die anderen beiden, der Wirkung Jesu nicht völlig traut? Ob er deshalb meint, noch ein Wunder hinzufügen zu müssen? Nun kann ich nicht sagen, dass das Wunder mich groß stören würde; es ist nicht so spektakulär wie die Speisung der Fünftausend oder der Gang auf dem See. Ja, man muss es vielleicht nicht einmal als Wunder auffassen.

Aber wie auch immer. Wichtig ist eigentlich nicht so sehr, was Lukas gemeint haben könnte. Viel wichtiger ist, was diese Geschichte uns zu sagen hat. Um das herauszubekommen, möchte ich sie mit einer anderen Geschichte konfrontieren, die aus unserer Zeit stammt und ebenfalls von einem Fischzug handelt.

II

„Er war ein alter Mann, der allein in einem kleinen Boot im Golfstrom fischte, und er war jetzt vierundachtzig Tage hintereinander hinausgefahren, ohne einen Fisch zu fangen. In den ersten vierzig Tagen hatte er einen Jungen bei sich gehabt. Aber nach vierzig fischlosen Tagen hatten die Eltern des Jungen ihm gesagt, dass der alte Mann jetzt bestimmt für immer salao sei, was die schlimmste Form von Pechhaben ist, und der Junge war auf ihr Geheiß in einem anderen Boot mitgefahren, das in der ersten Woche drei gute Fische gefangen hatte.“ Mit diesen Worten beginnt Ernest Hemingway letzte und wahrscheinlich auch berühmteste Novelle „Der alte Mann und das Meer“. Santiago, der aber eigentlich immer nur „der alte Mann“ genannt wird, ist schon mit diesen ersten Sätzen meisterhaft beschrieben: ein alter Mann, dessen große Zeit vorüber ist, abgeschrieben von den anderen Fischern, ein Mann im Unglück, der aber nichtsdestoweniger dem Schicksal die Stirn bietet. Als er jung war, haben sie ihn den Champion genannt. Einen Tag und eine Nacht lang hatte er mit einem Schwarzen, dem stärksten Mann aus dem Dorf, einen Wettkampf ausgefochten. Jeder hatte versucht, den Arm des anderen auf die Tischplatte zu drücken. Nach zwanzig Stunden waren die Zuschauer müde geworden und hatten ein Unentschieden verlangt, nicht zuletzt, weil sie schon bald wieder zur Arbeit mussten. Aber Santiago hatte schließlich den stärkeren Willen gehabt, und er hatte es geschafft, die Hand des Schwarzen auf die Tischplatte zu drücken, noch bevor es Morgen wird.

Jetzt jedoch ist er alt und ein Mann im Unglück. „Salao“ eben. Jeder andere, so steht zu vermuten, hätte sich in sein Schicksal gefügt. Der alte Mann jedoch steigt auch am 85. Tag in sein kleines Boot und fährt aufs Meer hinaus, in der Hoffnung, diesmal den Fisch seines Lebens zu fangen. An diesem Tag scheint er endlich Glück zu haben: tatsächlich zieht etwas an seiner Angel. An der Kraft, mit der die Leine ins Meer gezogen wird, merkt der alte Mann, dass dies tatsächlich ein großer Fisch sein muss: eine Beute, die seine ganze Kraft und Aufmerksamkeit fordern wird. Fast spielerisch zieht er den alten Mann in seinem kleinen Boot ins Meer hinaus. Zwischen dem Fisch, der länger ist als Santiagos Boot und dem alten Mann beginnt ein Kampf auf Leben und Tod. Drei Tage und drei Nächte dauert dieser Kampf, doch der alte Mann gibt nicht auf. Er hat so gut wie nichts zu essen, nur eine Wasserflasche zu trinken, seine linke Hand verkrampft sich so sehr, daß er sie für Stunden nicht mehr gebrauchen kann, aber am Ende schafft er es, den Fisch so nahe an sein Boot heranzuziehen, dass er ihn mit seiner Harpune töten kann. Sechs Meter lang ist er; der größte Fisch, den der alte Mann in seinem Leben gefangen hat. Ein Jahr lang wird er vom Verkauf seiner Beute leben können.

Doch dann kommen die Haie. Auf den ersten schießt er seine Harpune ab, die nächsten bekämpft er mit seinem Messer; als die Klinge abbricht, schlägt er mit der Ruderpinne nach ihnen. Aber sie sind zu zahlreich, als daß er – ein Einzelner – seine Beute gegen sie verteidigen kann. Stück für Stück fressen sie den Fisch des alten Mannes, ohne daß der sie daran hindern könnte.

Gegen Ende der Erzählung kommt Santiago wieder in seinem Heimathafen an: „Er nahm den Mast heraus und schlug das Segel drum und band es fest. Dann schulterte er den Mast und begann hinaufzuklettern …  Er blieb einen Augenblick stehen und blickte zurück und sah in der Spiegelung der Straßenlaterne den großen Schwanz des Fisches hoch über das Heck des Bootes ragen. Er sah die nackte weiße Linie seines Rückgrats und die dunkle Masse des Kopfes mit dem hervorstehenden Schnabel und all die Nacktheit dazwischen.“ Gleich wird er nach Hause gehen und sich schlafen legen. Was er tun konnte, hat er getan.

III

Eine wunderbare Geschichte, liebe Gemeinde. Womöglich passt sie ja nicht mehr in unsere Zeit, die so sehr von der Oberfläche der Dinge fasziniert ist. Passt nicht mehr in diese Zeit, die alles Schwere verdrängt und nur im hier und jetzt leben will. Passt nicht mit ihrem ganzen existentialistischen Pathos, mit ihrer Botschaft von der Vergeblichkeit und dass man dagegen ankämpfen muss, egal wie viel es kostet. Diese Geschichte ist ebenso die Lebensgeschichte des alternden Ernest Hemingway, der erleben muss, wie seine Attraktivität bei den Frauen nachlässt, wie seine Kräfte schwinden, und wie die Worte sich ihm nicht mehr fügen, wie es auch eine exemplarische Geschichte menschlichen Lebens ist. So kann man das Leben sehen. Als einen einzigen großen Kampf, und am Ende steht unausweichlich die letzte Niederlage: der Tod. Aber alles kommt darauf an, sich nicht unterkriegen zu lassen. Dem Schicksal die Stirn zu bieten. Nicht nur Hemingway hat es so gesehen; auch andere Schriftsteller aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts haben sich dieser Sichtweise angeschlossen: Albert Camus zum Beispiel oder William Faulkner. Und Camus hat von der Heiterkeit gesprochen, die daraus entsteht, dass man es so annimmt. Hat vom Glück des Augenblicks gesprochen, das es wahrzunehmen gilt. Wenn man das Leben so sieht, kann man Niederlagen leichter einstecken und wächst doch zugleich an ihnen. Man lernt womöglich, dass das große Glück eine Illusion ist, der nachzujagen sich nicht lohnt, weil sie immer schon um die Ecke verschwunden ist, wenn man kommt. Man begreift, dass es nur das kleine Glück des Augenblicks ist, vielleicht die Freude an einem Sonnenstrahl, der durchs Zimmer tanzt, und man lernt, diese Freude zu genießen, weil der Wechsel auf die Zukunft ja doch nie eingelöst wird. Sogar die Heiterkeit kann man dann lernen; die Heiterkeit, die allmählich aus dem Verzicht und der Weisheit entsteht.

Ich denke, es steckt viel Lebensklugheit hinter dieser Haltung. Und auch Tapferkeit. Aber die Frage ist doch, ob es nicht auch noch eine andere Möglichkeit gibt, das Leben zu sehen.

IV

Womit ich also nun wieder bei der Geschichte wäre, von der ich meinen Ausgang genommen habe. Als erstes sieht man wohl, dass diese beiden Geschichten völlig unterschiedlich ausgehen. Der alte Mann erleidet die schlimmste Niederlage seines Lebens; die Fischer vom See Genezareth machen einen unerwartet großen Fang. Nun könnte man, wenn man den Schluss nicht kennen würde, denken, dass sie diesen großen Fang möglichst bald zu Geld machen und sich womöglich größere Boote kaufen. Boote, mit denen sie mehr fangen können. So würden wir diese Geschichte wohl fortsetzen, aber die Geschichte selbst verläuft anders. Die Fischer verlassen alles, was sie haben und folgen Jesus auf seinem Weg ins Ungewisse. Und daran merkt man nun, dass es in dieser Geschichte nicht um materielle Reichtümer geht. Sondern es geht um die Fülle des Lebens in der Begegnung mit Jesus.

Und dann macht man noch eine weitere Entdeckung. Nämlich, dass es sich hier zwar um eine Wundergeschichte handelt, aber dass das Wunder eigentlich woanders liegt als im Materiellen. Die Fische, die sie fangen sind eigentlich nur ein Symbol. Und alleine würden sie es wohl tatsächlich nicht schaffen. Sie brauchen einen, der ihnen dabei hilft.

Und das ist dann wohl der entscheidende Unterschied zu Hemingways Novelle vom alten Mann und dem Meer. In Hemingways Novelle ist der alte Mann allein. Er hat niemanden, der ihm hilft. Die Geschichte bewundert seine Einsamkeit und seine Größe. „Ein Mann kann besiegt werden, aber er gibt nicht auf“, das ist die Botschaft, die ganz explizit in dieser Geschichte vorkommt.

Genau hier liegt nun auch der Unterschied. In der Geschichte vom Fischzug sind die Jünger die Empfangenden. Sie selbst können nicht tun. Nichts außer Jesus zu gehorchen. Und dann machen sie den Fang ihres Lebens.

Und nun glaube ich, dass diese Geschichte genauso exemplarisch ist wie die vom alten Mann und dem Meer. Beide versuchen auf ihre jeweils eigene Weise ihrem Leser oder Hörer eine Botschaft zu übermitteln. Hemingways Novelle sagt, dass das Leben ein Kampf mit der Natur und dem eigenen Schicksal ist und dass einem nichts geschenkt wird. Die Geschichte vom wunderbaren Fischfang sagt genau das Gegenteil: Alles, was wichtig ist im Leben wird dir von Gott geschenkt.

Vielleicht erleben wir es nicht ganz so exemplarisch wie in der Geschichte vom wunderbaren Fischfang. Aber wir können es in unserem Leben erfahren. Alles, was wichtig ist, können wir uns nicht erarbeiten. Es wird uns geschenkt. Die Liebe eines anderen Menschen, die Tatsache, dass wir uns selbst annehmen können. All das ist wichtig, aber wir können es uns nicht verdienen. Ich denke, das ist ein zentrales Element der Botschaft Jesu. Gott ist unser Schöpfer; er schenkt uns alles, was zu unserem Leben wichtig ist.

de_DEDeutsch