Der auferweckte Gemordete…

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Der auferweckte Gemordete…

Der auferweckte Gemordete als Kraft für alle | Ostermontag | 5.4.2021 | Offenbarung des Johannes 5,6-14, | verfasst von Rainer Stahl |

 

Predigt:

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,

die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sei mit Euch allen!“

Liebe Leserin, lieber Leser!

Liebe Schwestern und Brüder!

Um tief in die geistlichen Dimensionen des Osterfestes eindringen zu können, werden uns heute Verse aus dem 5. Kapitel des Buches der Offenbarung des Johannes aufgegeben, Verse, die wir nur verstehen können, wenn wir auch einige frühere Sätze zur Kenntnis nehmen:

2a        „Und ich war sehend einen starken Engel,

der war verkündigend mit lauter Stimme:

2b        »Wer ist würdig, die Buchrolle zu öffnen und ihre Siegel loszumachen?«

3          Und niemand, weder im Himmel noch auf der Erde, noch unterhalb der Erde,

konnte weder die Buchrolle öffnen noch in sie hineinsehen.

4a        Und ich war sehr klagend,

4b        weil niemand für würdig angesehen wurde,

4c        die Buchrolle zu öffnen [und zu lesen], noch in sie hineinzusehen.

5a        Und einer der Presbyter sagt mir:

5b        »Klage nicht!

5c        Siehe, überwunden hat der Löwe, der aus dem Stamm Juda, der Wurzel Davids, ist,

um die Buchrolle zu öffnen und [loszumachen] ihre sieben Siegel.«

6a        Und ich sah mitten zwischen den Thronen und den vier Lebewesen

und mitten zwischen den Presbytern ein stehendes Lamm –

wie geschächtet / geschlachtet / geopfert […].

7a        Und es {nämlich das Lamm} kam

7b        und nahm [die Buchrolle] aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron thront.

8a        Und als es die Buchrolle genommen hatte,

8b        fielen die vier Lebewesen und die vierundzwanzig Presbyter vor dem Lamm nieder […].

9a        Und eine neue Ode singend, sagten / bekannten sie:

9b        »Würdig bist du,

9c        zu nehmen die Buchrolle und zu öffnen ihre Siegel.

9d        Denn geschächtet / geschlachtet / geopfert bist du

9e        und hast [unserem] Gott mit deinem Blut {Menschen} erkauft –

9f         aus allen Stämmen und Sprachen

sowie aus dem einen Volk und aus den Völkern / Nationen.

10a      Und gemacht hast du sie für unseren Gott zu Königen und Priestern.

10b      Und sie werden herrschen auf Erden.«

11a      Und ich sah

11b      und hörte […]

12a      Redende mit großer Stimme:

12b      »Würdig ist das geschächtete / geschlachtete / geopferte Lamm zu nehmen

12c      Macht und Reichtum und Weisheit und Kraft und Ehrfurcht und Herrlichkeit und

Segen.«

13a      Und jedes Geschöpf, das im Himmel ist und auf der Erde und unter der Erde

und auf dem Meer und in ihm – jedes hörte ich sagen:

13b      »Dem auf dem Thron Thronenden und dem Lamm:

Segen und Ehrfurcht und Herrlichkeit und Herrschaft

von Ewigkeiten zu Ewigkeiten.« [Amen.]“[i]

Zu Beginn sei Ihnen ein Hinweis für einen zukünftigen Besuch Berlins gegeben – oder können Sie an einen früheren Besuch Berlins erinnert werden: Vor wenigen Jahren habe ich dort gleich gegenüber des unter Renovation stehenden Pergamon-Museums „Das Panorama“ von Yadegar Asisi besucht:[ii] Eine beeindruckende Inszenierung des Lebens in Pergamon im Jahr 129 nach Christus zum Dionysos-Fest im Frühjahr. Zu jenen Dionysien waren sogar Kaiser Hadrian und seine Begleitung in die Stadt gekommen. Obwohl ich natürlich theoretisch gewusst hatte, was es heißt, täglich im Tempel Opfertiere zu schlachten und Teile von ihnen zu verbrennen, machte mir erst dieses Panorama-Bild bewusst, was das Opfern von Tieren auf dem Großen Altar von Pergamon wirklich bedeutete! Vor der Freitreppe, die zum Altar hinaufführt, wird ein Stier niedergezwungen und liegen zwei geschlachtete Lämmer. Genauso war das ja bis zum Jahr 70 nach Christus auch in Jerusalem gewesen. Hier, für Pergamon, können wir sehen, was es bedeutete, geschächtetes / geschlachtetes / geopfertes Lamm zu sein.

Übrigens: Erst nachdem ich das Panorama nach intensiver Betrachtung verlassen hatte, fiel mir auf, was ich nicht entdeckt hatte, was Yadegar Asisi vielleicht gar nicht inszeniert hatte: Die kleine christliche Gruppe, die es damals gab und die sich mit Sicherheit in einem Privathaus versammelte. Die fehlte! Die Gemeinde also, an die der Seher Johannes schon vor 70 nach Christus seinen vielleicht fiktiven Brief geschrieben hatte – ich verweise auf Offenbarung 2,12-17: „Und dem Engel der Gemeinde in Pergamon schreibe!“

Wenn wir uns das Jahr 138 nach Christus vor Augen führen, das Jahr, in dem Kaiser Hadrian gestorben war, dann entsteht vor unserem geistigen Auge der eigentliche Gegensatz auf diesem riesigen Panorama: Auf der oberen Sitzreihe im Theater tritt der Kaiser vor die begeisterten Menschen, jener Kaiser, der dann neun Jahre später vergöttlicht werden wird. Weit rechts davon vor der großen Treppe zum Altar aber liegt ein geopfertes Schaf. Erst, wenn wir uns diesen Gegensatz bewusst machen, begreifen wir, was Johannes geschrieben hatte:

6a        „[…] ein stehendes Lamm – wie geschächtet / geschlachtet / geopfert […]“.

Dagegen haben wir zu denken: einen Herrscher, dessen Psyche von einem Adler in einer Apotheose („zurück zu Gott“) in die göttliche Sphäre hinaufgetragen wird.

Dazu muss ich jetzt eine besondere Gesprächssituation während meines Archäologiekurses in Jordanien im August 1989 erinnern, den Prof. Dr. Herbert Donner geleitet hatte: Er berichtete einmal, dass er vor Jahrzehnten irgendwo zwischen Halle und Leipzig unterwegs gewesen war und auf einem Bahnhof wegen der Verspätung des Anschlusszuges warten musste. Da konnte er sich im Bahnhofsrestaurant aufhalten. Dort wurde eine Radiosendung eingespielt. Plötzlich wurde die Musiksendung unterbrochen und eine Ansage zum Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR, Josef Wissarionowitsch Stalin, eingeblendet, eröffnet mit der Bemerkung: „Er möge ewig leben!“. „Da wusste ich“, so sagte uns Prof. Donner: „der ist tot!“ Und wirklich, es war die Nachrichtensendung zum Ableben des Diktators, also am 5. oder am 6. März 1953, gewesen.

Damit haben wir den eigentlichen Gegensatz vor Augen:

Den einen erwartet nur der Tod – den Stalin, oder wie die anderen alle heißen, die ihre Völker in Angst und Schrecken gestürzt, unterdrückt, gemordet haben oder es jetzt tun, genauer: es tun lassen, denn ohne bereite oder gezwungene Unterdrücker geht es ja nicht.

Und es gibt den einen gemordeten Retter, den die Auferweckung erwartete, die Erhöhung als einen und einzigen Gott.

Das ist die Botschaft, die der Seher Johannes ausspricht – als Machtübertragung an den Erweckten benennt: Künftig werden sich alle Mächtigen an diesem messen lassen müssen, der für würdig gefunden wurde. – Nicht, weil er Gewalt ausüben konnte und angewendet hatte, sondern weil er sich zum Opferlamm hatte machen lassen:[iii]

9b        „»Würdig bist du,

9c        zu nehmen die Buchrolle und zu öffnen ihre Siegel.

9d        Denn geschächtet / geschlachtet / geopfert bist du

9e        und hast [unserem] Gott mit deinem Blut {Menschen} erkauft – […].«“

Das ist die Spannung, die unser Bibelwort aufgibt: Wir könnten so viele Gemordete benennen. Ich würde schon bei denen beginnen, die in unserer Welt moderner Medien gemobbt werden – wie Christus gesagt hatte: „Wer aber [zu seinem Bruder] sagt: ‚Narr!‘, der ist schuldig des Feuers der Gehenna / Hölle“ (Matthäus 5,22c). Und würde weiter an diejenigen denken, die auch heute durch ideologische Vorherrschaften ausgegrenzt oder in Lager verbracht werden Und natürlich diejenigen erinnern, die wirklich um ihres christlichen Glaubens willen gemordet wurden:

(Fotografiert am 18. November 2016.)

2016 war ich durch dieses Plakat an der Koptischen Kirche im Bereich des Komplexes um das Grab Jesu in Jerusalem, die Anastasis, die Auferstehungskirche, auf ein solches Verbrechen aufmerksam geworden und hatte in einem Adventsgottesdienst damals im Dezember 2016 wirklich alle Namen der 20 ägyptischen und des einen ghanaischen Arbeiters laut gelesen, die am 15. Februar 2015 von IS-Kämpfern hingerichtet worden waren. Inzwischen waren sie von der Koptischen Kirche heiliggesprochen worden.[iv] Alle diese Namen in jenem Gottesdienst zu lesen und hören zu lassen, das war mir Ausdruck der inneren Konfrontation mit denen, die Leidende und die Zeugen geworden waren! Und auch jetzt seien sie in unser Bewusstsein gehoben – mit Hilfe jenes Plakats, das sie als solche deutete, die dem leidenden Christus nachfolgten.

In diesem Sinn sei jetzt festgehalten: Das Lamm, das würdig ist, das Buch der Geschichte, den Daten-Stick über die Vergangenheit und die Zukunft, die Weisheitserzählung von der gesamten Existenz zu öffnen, jenes ist nur dieser eine: Christus, der Gott.

12b      „»Würdig ist das geschächtete / geschlachtete / geopferte Lamm zu nehmen

12c      Macht und Reichtum und Weisheit und Kraft und Ehrfurcht und Herrlichkeit und

Segen.«“

Kann ich dazu aus unserem Leben ein Beispiel nennen? Für uns in Deutschland, oder in der Schweiz, oder in Österreich seien alle diejenigen Vorbild, die eine Krankheit überwunden haben – mit dem Entstehen oder dem Wachsen des Glaubens an diesen Christus. Weil die Ahnung aufkam und sich verstärkte und übermächtig wurde, dass er es ist, der einem zur Seite steht, der mitgeht, der nicht allein lässt, der hält, der aus der Not herausführt. Die Bekenntnisse, die der Seher Johannes hier zitiert oder entwickelt hat, verherrlichen vor allem Christus und benennen an einer Stelle – in Vers 9 – die besondere Leistung für uns Menschen:

9d        „»Denn geschächtet / geschlachtet / geopfert bist du

9e        und hast [unserem] Gott mit deinem Blut {Menschen} erkauft –

9f         aus allen Stämmen und Sprachen

sowie aus dem einen Volk und aus den Völkern / Nationen.«“

Hier wird also gedankt für jede einzelne Person, die in diese Glaubensgemeinschaft geführt wurde, die sich ihr zugehörig fühlt, die sie mit allen anderen zusammen bildet. Dabei wird aber eine ganz besondere Überzeugung angedeutet: Der judenchristliche Seher Johannes hatte nach den „Stämmen und Sprachen“ von „dem einen Volk und von den Völkern“ gesprochen. Was hatte er hier gesagt? An zwei Stellen in seinem Buch hatte er ähnliche Formulierungen gefunden:

7,9:                  „[…] aus allen Völkern / Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen […].“

Und 11,9:         „[…] aus den Völkern und Stämmen und Sprachen und Völkern / Nationen […].“

Aber dort hatte er wirklich das Wort „Volk“ in der Mehrzahl verwendet. Hier aber, in Kapitel 5, hatte er diesen Begriff nur in der Einzahl verwendet. Diese Einzahl wird nur in einer mir vorliegenden Übersetzung, in der Zürcher Bibel, angedeutet: „[…] aus jedem Volk und jeder Nation“. Sie wird aber mit dem zugesetzten „jedem“ gleich wieder irgendwie aufgehoben. Aber der judenchristliche Seher Johannes hatte doch wirklich nur die Einzahl des Wortes „Volk“ verwendet, also nur von einem bestimmten Volk gesprochen. Von welchem?

Das lehrt uns ein Zitat aus dem 5. Buch Mose, das der Apostel Paulus im Jahr 56 in seinem Brief an die Gemeinde in Rom verwendet hatte, ein Zitat, das wirklich aus der griechischen Übersetzung dieses Buches stammt und so gar nicht im hebräischen Text steht:

Römer 15,10:   „[…] Freut euch ihr Völker / Nationen mit seinem Volk!“

Das ist es, was auch der Seher Johannes meint:

Es geht zuerst um die für den christlichen Glauben gewonnenen Frauen und Männer aus der Gemeinschaft der Juden, aus, wie er sagte: „dem einen Volk“. Also gerade um diejenigen, die in der Nazizeit als Getaufte, als Mitchristen sogar von Kirchenleitungen diskriminiert worden waren! Aber: Diese Menschen „aus dem einen Volk“ kann ich nicht benennen, ohne an dieser Stelle die vielen Opfer aus demselben Volk zu erinnern, die der damalige deutsche Staat vernichtet hatte – waren sie nun Mitchristen, waren sie glaubende Juden, waren sie Atheisten!

Und es geht um die zum christlichen Glauben gewonnenen Frauen und Männern aus all den anderen Völkern, also um Personen aus dem tatarischen Volk, aus dem mordowischen Volk, aus dem baschkirischen Volk – um einmal nur diese drei Beispiele von verschiedensten Völkern zu nennen, die zum europäischen Teil der Russischen Föderation gehören.

Diese Dimension ist es, um die es hier geht. Diese Gemeinschaft eröffnet uns der christliche Glaube. Diese Gemeinschaft ist für uns das Erleben der Wahrheit des Osterfestes. Das dürfen wir heute voll Begeisterung feiern!

Amen.

„Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre Eure Herzen und Sinne bei Christus Jesus, unserem Herrn!“

Lied nach der Predigt: „Ich hör die Botschaft: Jesus lebt!“ – EG 558,1-4. Ich unterstreiche:

„[…] Doch seh ich nur: Die Welt erbebt, weil Krankheit herrscht und Tod und Krieg.

Wo find ich Jesu Ostersieg? […]

[…] Ob dem nicht alles widerstrebt, was täglich unsre Welt bedroht:

der Bosheit Trug, Gewalt und Not. […]

[…] Herr, hilf, daß sich mein Herz erhebt aus Kummer, Zweifel, Angst und Leid!

Mach es für deinen Trost bereit! […]

[…] Ihr Boten, die ihr Hoffnung gebt, führt mich zum Auferstandenen hin,

daß ich bei ihm geborgen bin! […]“

Dr. Rainer Stahl

Erlangen

rainer.stahl.1@gmx.de

[1951 geboren, Studium der Theologie in Jena, Assistent im Alten Testament, 1981 ordiniert, Pfarrer der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen, zwei Jahre lang Einsatz beim Lutherischen Weltbund in Genf, dann Pfarrer in Altenburg, Alttestamentler an der Kirchlichen Hochschule in Leipzig, Referent des Thüringer Landesbischofs in Eisenach, seit 1998 Dienst für den Martin-Luther-Bund (das lutherische Diasporawerk) in Erlangen, seit 2016 im Ruhestand.]

[i]   Diese Übersetzung ist von mir. Mit / werden Übersetzungsmöglichkeiten voneinander unterschieden, Begriffe in zwei [ ] geben textkritische Varianten an, zwei { } kennzeichnen Ergänzungen von mir.

[ii]   Vgl. Pergamon. Meisterwerke der Antiken Metropole und 360o-Panorama von Yadegar Asisi, Berlin 2018.

[iii]   Vgl. Gottfried Schille: Die Hochzeit hat begonnen. Eine Hinführung zur Offenbarung des Johannes, Erlangen 2002, S. 87.

[iv]    Vgl. jetzt: Martin Mosebach: Die 21. Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer, Hamburg 2018.

de_DEDeutsch