Im Zentrum der Macht

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Im Zentrum der Macht

Ostermontag | 5.4.21 |Predigt zu Offenbarung 5,6-14 |verfasst von Eberhard Busch |

Ostermontag 5. April 2001 

Im Zentrum der Macht ein Lamm? Wer kann das fassen, was wir soeben aus dem letzten Buch der Bibel, dem Buch der Offenbarung, hörten! Was bringt uns auf solche Gedanken?! Lassen wir uns das heute erklären durch eines der aufwühlendsten Gemälde: das Bild vom Isenheimer Altar [1], entstanden in jahrelanger Arbeit, wenig vor Anbruch der Reformation. Man sieht in der Mitte den qualvoll hingerichteten Jesus am Kreuz. Sein Körper ist bespickt mit Dornen. Seine Haut ist grünlich verfärbt. Der Balken, an dem er hängt, ist wie von einer entsetzlichen Last nach unten gebogen.

Heute ist das Bild im Museum Unterlinden im elsässischen Colmar zu sehen. Für ein Kloster der Antoniter im nahe gelegenen Isenheim ist es von dem sonst wenig bekannten Matthias Grünewald gemalt worden. Dort hatten sich die Mönche der Krankenpflege verschrieben. Und wenn die körperlich und seelisch Leidenden in ihr Spital aufgenommen wurden, führte man sie zuerst vor dieses Bild. Man tat es in der Überzeugung, dass das für sie heilsame Medizin sei: der Anblick des herabgekommenen Gottes, der mitleidet mit ihnen (Hebr 4,15). So ist alles Leiden schlussendlich in seine Hände gelegt. „Unsre Krankheiten hat er getragen und unsre Schmerzen auf sich geladen“, heißt es im Buch Jesaja (53,4).

Der jüdische Dichter Paul Celan ist bekannt durch seine Todesfuge über die grauenhafte Ermordung der zahllosen Juden in Auschwitz. Der hat auch vor diesem Isenheimer Altar gestanden. Ihm gab dort die Inschrift oben am Kreuz zu denken: „INRI“, das heißt: Jesus von Nazareth, der König der Juden. Und er verstand: Hier zeigt sich nicht bloße Ohnmacht. Hier stellt sich die Macht des Ohnmächtigen dar. Derart ist Jesus der Repräsentant des Volkes, aus dem er stammt. Pilatus fragt ihn ja: „Bist du dennoch ein König? Jesus antwortet: Du sagst es“ (Kap. 18,37)

Was Celan da gesehen hat, das wird in dem Bild vom Isenheimer Altar belegt durch den langen Zeigefinger, mit dem Johannes der Täufer auf den Gekreuzigten hinweist  Er tut es nicht aus beliebigem Einfall. Er tut es mit der Heiligen Schrift in der andren Hand. Und über jenem Finger steht geschrieben, was der Hinweis bedeutet – der Satz im Johannes-Evangelium: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“ (3,30). Es lässt sich auch so übersetzen: Er, der Gekeuzigte, muss regieren und dem habe ich mich nachzuordnen. Nicht einer der Glanzlichter und Gernegroß unsrer Welt, nein, Er, dieser Geschlagene, hat im Mittelpunkt zu stehen, und von da aus hat man all das andere im nahen und fernen Umkreis zu sehen. Der Berliner Rabbiner Leo Baeck nannte 1935 diesen Zeige-Finger „das Eigentümliche der jüdischen Existenz“. Das war im Jahr der Nürnberger Gesetze gegen die Juden.

Und jetzt haben wir noch ein Wichtiges bei dem Bild zu beachten: Zu Füßen jenes Johannes steht ein Lamm. Es blutet und sein Blut fließt in einen Abendmahlskelch, nämlich um uns der Teilnahme des Heilands an dem unter uns herrschenden Unheil zu versichern. Seine Teilnahme wird seit Jahrhunderten veranschaulicht mit dem Gleichnis von einem Lamm, einer Kreatur, die in stiller Geduld auf sich nimmt, was ihr angetan wird: „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, erbarm dich unser“, wie es in dem von Martin Luther überlieferten Gesang gebetet wird. Schon im 1. Petrusbrief (1,18f) lesen wir von unsrer Erlösung „mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes“. So sieht ihn ja auch der Seher Johannes im letzten Buch unserer Bibel (5,12). So wird er auch auf dem Isenheimer Altarbild gezeigt.

Und schauen wir noch genauer hin auf das Bild von Matthias Grünewald! Dieses Lamm hängt nicht an einem Kreuz. Dieses Lamm trägt ein Kreuz. Es ist zum Verwundern: das Lamm trägt das Kreuz wie eine hochgereckte Siegesfahne. Ist das nicht wunderbar? Er, Jesus, ist in seiner Ohnmacht nicht ins Abseits gestellt. In der Tat, so wie es Paul Celan dort gesehen hat: Er hat in seiner Ohnmacht Macht, – eine bezwingende Macht, in der er allem Widrigen zum Trotz sich am längeren Hebel befindet, eine Macht, in der steter Tropfen höhlt den Stein, eine Macht, in der er dem, was sonst Macht hat, die Stirn bietet. Schon seit alters gibt es in der Christenheit das Bekenntnis: „Das Lamm Gottes ist Sieger.“ Der Unterlegene hat einen gewinnenden Charakter. Wahrhaftig, „König der Juden“ und weit über sie hinaus! Den Karfreitag gibt es für uns nicht ohne den krönenden Ostertag.

Einst fand ein interessantes Zwiegespräch statt zwischen einem weltbekannten Theologen und seinem Basler Kollegen Karl Barth. Der erstere führte aus, dass wir Christen es mit einem ärmlichen Gott zu tun hätten. Und er wies dabei hin auf jenes Bild vom Isenheimer Altar; das hing seit Jahren direkt über dem Schreibtisch des Basler Gelehrten und angesichts dessen verrichtete er seine Arbeit. Der aber schüttelte darauf seinen Kopf: wie könne der Andere so etwas sagen! „Der Gekreuzigte, er gerade in dieser Armut ist ja die Offenbarung des Reichtums Gottes. Gerade er und kein anderer ist der ewig reiche Gott.“ Und er wies nun seinerseits hin auf das Bild und darauf, dass uns hier das Lamm Gottes als Sieger vorgehalten wird, der Aufgeopferte als der Auferstandene, der Gekreuzigte als der, der alles in seinen Händen hält. Beides gehört unbedingt zusammen. Ostern gibt es für uns auch nicht ohne den Karfreitag. In dem Osterbild, das auf dem Isenheimer Altar dem Passionsbild beigefügt ist, sieht man eine in helles Licht gehobene Gestalt. In Wahrheit ist es derselbe wie der Gekreuzigte, für immer erkennbar an seinen Wundmalen an Händen und Füßen.

Wer sich auf ihn beruft, der wird lernen müssen, was das heißt, dass Jesus sagt: „Wer mir will nachfolgen, der nehme sein Kreuz auf sich“ (Lk 9,23) Christen, die das im 16. Jahrhundert ernst genommen haben, sind im so genannten christlichen Abendland blutig verfolgt worden. Das ist offenbar ein gefährlicher Satz. Und damit man nicht auf solche ernsten Gedanken kommt, hat man das Schmähwort vom „dummen Schaf“ in Umlauf gesetzt. Ist denn ein Leben, das verletzlich und wehrlos ist, ein Leben, das eintritt für „Frieden schaffen ohne Waffen“, darum auch dumm? Jedoch sind wir von früh an geschult, einen Schlag möglichst mit einem Gegenschlag zu parieren. Denn, wie das Sprichwort lautet: „Wer sich zum Lamm macht, den fressen die Wölfe.“

Aber jetzt wird uns auf dem Isenheimer Altar in dem Lamm mit der Siegesfahne eine fabelhafte Gegenwelt vor Augen gestellt, eine Welt, der wir entgegenhoffen dürfen, eine Welt, in der die zwei Begriffe zusammenrücken: „Geduld und Revolte“, mit Kurt Marti zu reden. Es ist die Welt, die schon der Prophet Jesaja (11,6) in Aussicht genommen hat: „Wölfe werden bei den Lämmern wohnen.“ Es ist die Welt, von der Maria in der Erwartung Jesu gesungen hat: „Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen“ (Lk 1,52). Es ist die Welt, in der die Vielen nach dem Buch der Offenbarung jubeln, unter Begleitung von Harfengesang: „Das Lamm, das erwürgt ist, ist würdig zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob“ (V12). Dieses Lamm ist es wert, dass ihm all dies zugesprochen ist, was irdische Herrscher für sich dreist in Anspruch nehmen. Nun werden diese Auszeichnungen aus ihrer Fremdbestimmung in ihre gültige Wahrheit überführt. Denn ein wehrloses Lamm zeigt sich uns an Ostern im Zentrum der Macht.

Vielleicht zögern wir. Ist das nicht allzu weltenfern? Ist es nicht zu unrealistisch? Man blamiert sich doch mit solchen Friedensträumen!? So haben Christen fatalerweise allzu oft gedacht und haben sich dann verschämt den herrschenden Gewalten angepasst. Und sie haben so das Licht ihrer Botschaft in den Schatten gestellt. Aber jene seltsamen Wesen, von denen unser Bibeltext redet, jene vier Tiere und die 24 Ältesten und dann gar jene vieltausenmal tausend Beteiligten, sie lassen uns aufhorchen. Sie singen ein Lied, nicht die alte Leier, nicht einen allzu beliebten Ohrwurm. Es ist ein neues, das neue Lied, das Oster-Lied von dem neuen Zeitalter, in dem unsre Welt nicht mehr bleibt, wie sie leider ist, in dem ein Neuanfang stattfindet. Ein Neuanfang im Geist jenes Lamms.

Solcher Neuanfang ist das, was der Philosoph Friedrich Nietzsche „die Umwertung aller Werte“ genannt hat und Dietrich Bonhoeffer „die Neuordnung aller Dinge auf Erden“ und Karl Barth „die Revolution Gottes“. Und das ist die heilsame Medizin, wie sie die Elenden in Isenheim geschaut haben in ihrem Blick auf das Bild im Kloster der Antoniter. Die uns Vorangegangenen laden uns ein, den Stimmen in ihrem neuen Lied zu lauschen. Ja, sie laden einen jeden und eine jede ein, mit einzustimmen in ihre Melodie. Greifen wir sie auf mit dem Lied von Friedrich Rückert:  „O mächt’ger Herrscher ohne Heere, gewalt’ger Kämpfer ohne Speere, o Friedefürst von großer Macht! Es wollen dir der Erde Herren den Weg zu deinem Throne sperren, doch du gewinnst ihn ohne Schlacht“!

In dem Schweizer Ort, In dem ich lange lebte, nannte man das Einüben des Chores vor der öffentlichen Aufführung die „Vorprob“. Ist denn all unser Singen, ja, all unser bestes Reden und Tun gegenwärtig mehr als eine Einübung, eine „Vorprobe“? Aber das soll uns nicht hindern, wieder und wieder unsere Stimme zu erheben – zum Lobe Gottes und zu Gunsten unsrer Mitmenschen, zu Gunsten der vielen leidenden Kreatur, – im Namen des mitleidenden Siegers Jesus, den wir bitten: „Lamm Gottes, der du fortträgst das Verkehrte in der Welt, gib uns deinen Frieden.“ Amen

Eberhard Busch

37133 Friedland

<ebusch@gwdg.de>.

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Isenheimer_Altar#/media/Datei:Isenheimer_Altar_(Colmar)_jm01221_(retouched).jpg

 

de_DEDeutsch