Der Blick nach vorne

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Der Blick nach vorne

Predigt zu Lukas 9,57-62, verfasst von Dr. Sven Keppler |

 

I. Liebe Gemeinde,

wir erleben gerade einen Einschnitt von historischem Ausmaß. Man muss das wohl so sagen. Kommentatoren in den Medien rücken die Corona-Pandemie in den Rang der großen Wendepunkte. Wie den Anschlag auf die New Yorker Zwillingstürme oder die Wende von 1989.

Wir leben ja ohnehin schon in dem Gefühl eines Umbruchs. Der Klimawandel ist im Bewusstsein von allen angekommen, die den Kopf nicht in den Sand stecken. Und dazu jetzt noch dieses weltumspannende Virus! Die Angst um die eigene Gesundheit. Um die der Mitmenschen. Und die Sorge vor den wirtschaftlichen Folgen, die die Schockstarre mit sich bringen wird.

Wer es angesichts des Klimawandels noch nicht verstanden hatte, merkt es spätestens jetzt: Wir leben in einer Krisenzeit! Und es wird sich zeigen, ob die besonnenen Menschen die Richtung vorgeben werden. Oder die Verführer. Diejenigen, die die Stimmung für ihre eigenen, autoritären Interessen nutzen wollen.

Es gilt also, einen kühlen Kopf zu bewahren. Orientierung zu suchen. Ich hoffe, dass uns die Bibel dabei hilft. Ich möchte mit Euch und Ihnen auf den Text hören, der für heute als Predigttext vorgeschlagen ist. Er steht bei Lukas. Drei Sätze, die Jesus sagt.

Ich gebe zu, in der momentanen Situation stoßen sie beim ersten Hören vor den Kopf. So, wie diese Sätze das eigentlich immer tun. Aber bei genauerem Nachdenken geben sie doch eine hilfreiche Orientierung. Ich lese aus dem Evangelium nach Lukas, das Ende des 9. Kapitels [Lk 9,57-62].

 

II. Was ist bloß in Jesus gefahren? Anscheinend wirft er alle unsere Werte über Bord. Wir wollen doch in unseren Gemeinden Geborgenheit vermitteln. Einladen in unsere Kirchen und Häuser. Wir wollen den Menschen helfen, auf gute Weise ihre Verstorbenen zu bestatten. Uns liegt an Respekt und guten zwischenmenschlichen Beziehungen – zu denen auch gehört, sich wertschätzend und verbindlich zu verabschieden. Durch das Virus erleben wir doch, wie sehr es uns fehlt, zusammenzukommen und uns nahe zu sein.

Ganz besonders jetzt in Versmold. Wir haben neben der Kirche ein neues Gemeindehaus gebaut. Es soll vom Sommer an ein Ort der Begegnung werden. Alle Generationen sollen sich dort wohl fühlen und miteinander leben.

In einer Woche werden wir uns verabschieden von Menschen, die sich als Presbyter für unsere Gemeinde eingesetzt haben. Eine von ihnen mussten wir im letzten Jahr bestatten: Annegret Ruwisch. Und heute wollen wir einem Menschen danke sagen, der 50 Jahre lang unser Presbyter war: Hartmut Fromme.

Heute genau vor 50 Jahren wurde er als Presbyter eingesegnet. 30 Jahre lang war er unser Baukirchmeister. 40 Jahre lang Finanzkirchmeister. Er hat die Gemeinde mehr geprägt als viele Pfarrer. Immer in einem guten Miteinander. Ausgleichend. Verlässlich. Und unendlich engagiert. Die Sanierung der Petri-Kirche, das alte Gemeindezentrum und jetzt das Entstehen des neuen Hauses hat er verantwortlich begleitet.

Und jetzt legt uns Jesus nahe, unbehaust zu sein?! Keine würdigen Abschiede zu nehmen, ohne Blick zurück voranzuschreiten? Wie irritierend! Jesus selbst lebte ohne die Geborgenheit eines Zuhauses. Er forderte dazu auf, das Begraben den Anderen zu überlassen. Und auf Abschiede zu verzichten. Ist Jesus ein Bürgerschreck? Ein Provokateur? Ein ungebundener Wanderprediger, der den Sesshaften zeigt, wie konventionell sie sind?

 

III. Liebe Gemeinde, es gibt etwas, das diese drei Aussprüche von Jesus verbindet. Dreimal ruft er dazu auf, sich auf die Zukunft auszurichten. Nicht an dem festzuhalten, was ist. Sondern sich auf Neues einzulassen. Nicht halbherzig. Sondern mit ganzem Herzen, mit Haut und Haar.

Das Haus steht für Beständigkeit. Wer ein Haus bewohnt, ist an einen Ort gebunden. Er hat sich eingerichtet. Hat vielleicht lange für dieses Haus gearbeitet. Das Haus ist Heimat. Es soll irgendwann an die Erben weitergegeben werden. Es steht für Dauer: Erworben in der Vergangenheit. Bewohnt in der Gegenwart. Und verlässlich auch in der Zukunft. Einer Zukunft, die das Gewesene fortführt.

Die Bestattung steht für Erinnerung. Wer von einem Menschen Abschied nimmt, erinnert sich an dessen Leben. An gemeinsame Erlebnisse. An Gründe zur Dankbarkeit. Oder auch an Streitigkeiten, die behoben wurden oder offen geblieben sind. Am Grab wird das Gedächtnis an einen Menschen gepflegt. Und Ähnliches geschieht auch, wenn Menschen sich im Laufe ihres Lebens voneinander verabschieden.

Beständigkeit. Bewahren. Pflege. Erinnerung. All das ist wichtig für die bürgerliche Kultur. Natürlich geht es ihr auch um die Zukunft. Denn der Zukunft soll der Schrecken genommen werden. Ungesicherte Zukunft kann ja Angst machen wie das offene Meer. So, wie viele es gerade erleben angesichts von Virus und Klimawandel.

Wie ermutigend sind dann beständige Regeln, ein Vermögen, eine Bleibe. Sie helfen, sich die Zukunft auszumalen mit vertrauten Farben und Formen.

Jesus lässt sich völlig anders auf die Zukunft ein. Ihm geht es in seinen drei Aussprüchen gerade nicht darum, das Bestehende zu bewahren. Oder der Zukunft die bedrohliche Offenheit zu nehmen. Er blickt nicht zurück. Er blickt so konsequent nach vorne, dass es anstößig wirkt.

Mit seinen schroffen Worten öffnet Jesus die Augen. Er sagt: Achtet auf die Richtung Eures Lebens. Geht es Euch vor allem um das Gewesene? Seid ihr festgelegt durch das, was ihr habt? Oder richtet Ihr Euch auf das Neue aus? Auf die offene, ungesicherte Zukunft, die vor Euch liegt? Denn die Zukunft ist mehr als das, was Ihr schon kennt. Sie bringt das Reich Gottes.

 

IV. Im Moment erleben wir ungewollt eine Zeit des Innehaltens. Am Freitag hat die Landesregierung vorgegeben: Schulen, Kindergärten und kulturelle Einrichtungen bleiben geschlossen. Altenheime dürfen nicht besucht werden.

Die Vorgaben des Landes NRW werden auch von uns umgesetzt. In den Häusern der Kirchengemeinde finden daher ab sofort keine Veranstaltungen mehr statt. Eine Ausnahme bilden die Gottesdienste als Orte des Trostes und der Hoffnung.

Auch Geburtstagsbesuche werden ausgesetzt. Wer seelsorgerliche Begleitung sucht, wird aber selbstverständlich nicht allein gelassen. Das Pfarrteam steht für alle bereit. Am besten ist es wohl, telefonisch den ersten Kontakt zu suchen.

Wir erleben eine Zeit des Innehaltens. Das kann etwas Lähmendes haben. Oder etwas Grüblerisches: Ist das, was gerade geschieht, eine Strafe? Eine Strafe Gottes? Oder eine ganz sachliche Strafe, nämlich die Folge unseres Verhaltens? Der rücksichtslosen Ausbeutung und Vermüllung unserer Welt. Dort, wo das Virus besonders stark ist, gehen auch die CO2-Belastungen spürbar zurück. Steckt dahinter ein planender Wille? Ein strafender Wille? Der Wille Gottes sogar?

Liebe Gemeinde, wenn solche Fragen kommen, dann ist es hilfreich, auf Jesus zu schauen. Er möchte, dass wir nach vorne blicken. In den Evangelien finden wir kaum den Blick zurück. Auch die Vorstellung, dass Gott Völker oder Gesellschaften für ihr Verhalten bestraft, prägt zwar das Alte, aber nicht das Neue Testament.

Sondern für Jesus ist der Blick nach vorne typisch. Manchmal sogar so radikal, dass es verletztend wirkt. Wie in unserem Predigttext. Jesus will kein Bürgerschreck sein. Er will auch nicht, dass wir die Augen schließen vor den Fehlern der Vergangenheit. Nicht, dass wir unsere Schuld einfach überspringen. Aber das Entscheidende ist für ihn etwas Anderes. Was die Welt bewegt, was von Gott her zählt, das ist die Zukunft. Auf diese Zukunft sollen wir uns ausrichten.

 

V. Gott will diese Welt erneuern. Er will, dass wir Menschen nicht festgelegt sind durch die Fehler, die wir begangen haben. Gott will uns neue Lebensräume eröffnen. Neue Möglichkeiten.

Dafür ist es jedoch entscheidend, dass wir uns von unserer Vergangenheit lösen können. Dass wir wagen, neue Wege zu gehen. Dass wir unser Verhalten ändern. Das muss nicht heißen, keine Häuser mehr zu bewohnen. Aber wir sollen es wagen, anders in dieser Welt zu wohnen.

Nur, wenn wir unsere Lebensweise grundlegend ökologisch verändern, haben wir Menschen auf diesem wundervollen Planeten eine Zukunft. Nur, wenn wir viel stärker auf die Folgen unseres Handelns achten. Wenn wir die Zukunft in den Blick nehmen. Ressourcen schonen. Und die Verschmutzung unserer Welt verringern.

Für die Corona-Pandemie ist das keine Lösung. Aber sie zwingt uns zum Innehalten. Sie verordnet uns einen Stillstand. Nutzen wir ihn, um in uns zu gehen. Um unser Verhalten zu überdenken. Um in Jesu Sinn in die Zukunft zu blicken. Er macht uns dazu Mut. Denn das Reich Gottes kommt aus der Zukunft zu uns. Amen.

 

 

Pfarrer Dr. Sven Keppler

Versmold

sven.keppler@kk-ekvw.de

 

Sven Keppler, geb. 1968, Pfarrer der Evangelischen Kirche von Westfalen. Seit 2010 Pfarrer in der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Versmold. Autor von Rundfunkandachten im WDR.

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