Der riskante Blick nach vorn

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Der riskante Blick nach vorn

Predigt zu Luk. 9,57–62, verfasst von Dietz Lange |

Liebe Gemeinde!

Jesus nachfolgen, davon reden die Sätze, die wir eben gehört haben. Nachfolgen, das klingt nicht besonders attraktiv. Man denkt da unwillkürlich an Nachlaufen, Hinterherlaufen, Hinterherdackeln. Wir wollen doch eigenständig sein, selbstverantwortlich. Als Deutsche haben wir die Hinterherläufer der Nazizeit, oder Mitläufer, wie sie in der Sprache der Fragebogen hießen, noch in lebendiger Erinnerung. Zwar haben etliche von denen sich nur deswegen mit dem Regime arrangiert, weil es sie wirklich bedrohte, aber sehr viele waren auch bloß Opportunisten: Man machte mit, um seine Karriere nicht zu gefährden – oder sogar in blinder Begeisterung, ohne genau hinzusehen.

Nun ist aber Nachfolge Jesu nichts von alledem. Daran kann uns eine große Gestalt aus der jüngeren Vergangenheit erinnern, Dietrich Bonhoeffer, der ein Buch mit dem Titel „Nachfolge“ geschrieben hat. Dieses Buch und erst recht das Leben dieses Mannes zeigen, dass Nachfolge Jesu und eigenständige Verantwortung keinen Widerspruch bilden, sondern zusammengehören. Für ihn war solche Nachfolge das Gegenteil von Mitläufertum; sie war gleichbedeutend mit der Entscheidung, in den Widerstand gegen Hitler zu gehen und sein Leben zu riskieren.

Man kann natürlich einwenden, dass wir, die Gemeinde von St. Marien heute morgen, uns nicht in so einer Extremsituation befinden wie Bonhoeffer damals. Trotzdem führt er uns näher an das heran, was die Worte Jesu von damals auch für unsere so ganz andere Lage bedeuten.

Drei ganz verschiedene Menschen lernen wir da kennen. Der erste geht von sich aus auf Jesus zu und bietet ihm seine Mitarbeit an: „Ich will dir bedingungslos folgen, wo immer du hingehst.“ Ihn stelle ich mir als einen noch ganz jungen Mann vor. Er hat Jesus zugehört und ist hell begeistert von ihm. Jesus ist nicht einer von den trockenen alten Lehrern, bei denen man einschläft, auch keiner von den übervorsichtigen Bedenkenträgern, die keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken, sondern jemand, der klare Kante zeigt und Tacheles redet. Wenn der junge Mann heute lebte, würde er Jesus als „tollen Typen“ bezeichnen, als jemanden, mit dem man die alte abgestandene Kirche mal so richtig aufmischen kann, dass sie wieder ordentlich in Schwung kommt. Ich finde diesen jungen Mann durchaus sympathisch, auch wenn er sich natürlich erstmal die Hörner ablaufen muss.

Jesus aber lässt sich nicht schmeicheln. Er will zwar dem jungen Mann sein Engagement nicht ausreden. Aber er muss ihm klar machen, dass überschäumende Begeisterung für ein Leben in seiner Nachfolge nicht ausreicht. Sein ruheloses Wanderleben ist kein Zuckerschlecken. Die Füchse haben ihre Gruben und die Vögel ihre Nester, in die sie sich zurückziehen können. Er aber verzichtet auf eine feste Behausung und zieht von Dorf zu Dorf, um den Menschen Gott nahezubringen und Notleidenden zu helfen. Dabei lauert im Hintergrund immer Gefahr, sei es durch Straßenräuber, sei es durch die religiösen Behörden, die seine Aktivitäten mit Argwohn beobachten. Das trifft seine Jünger genauso wie ihn selber. Jugendliche Schwärmerei ist da fehl am Platz. Das ist eine Arbeit für Erwachsene.

Für uns heute ist Christsein zwar nicht mehr ein solches Wanderleben. Wir haben alle unsere Wohnungen und unsere Privatsphäre. Aber auch für uns bedeutet Christsein, wenn wir es ernstnehmen, dass wir uns exponieren. Wir leben in einer Welt, die genauso wenig wie damals rein christlich bestimmt ist. Wenn wir einem Lästermaul gegenüber für unseren Glauben einstehen, kann das schon mal unangenehm werden. Wenn wir offen gegen Neonazis und für die Aufnahme der an der griechisch-türkischen Grenze festsitzenden unbegleiteten Flüchtlingskinder eintreten, kann es sogar gefährlich werden. Das haben wir in letzter Zeit ja erlebt. Ein Brüder-und-Schwestern-Ärmelgefühl in einem geschützten Gemeindesaal tut’s da nicht. Idealismus und Engagement helfen schon eher, keine Frage, aber nur wenn wir wissen, worauf wir uns damit einlassen.

Der zweite Mensch, der uns in unserer Erzählung begegnet, wird von Jesus aufgefordert, ihm nachzufolgen. Er ist nicht abgeneigt, bittet aber darum, erst seinen Vater beerdigen zu dürfen. Auch er nimmt uns für sich ein, denn er will nicht um einer religiösen Aufgabe willen seine menschlichen Pflichten vernachlässigen. Es ist doch selbstverständlich, dass er seinem Vater die letzte Ehre erweisen muss, auch um der Familie willen. Jesus aber weist ihn barsch zurück: „Lass die Toten ihre Toten begraben!“ Tot hat dabei eine Doppelbedeutung. Jesus meint: Wer seine irdische Pflicht dem Ruf Gottes gegenüber vorzieht, der hat vor Gott sein Leben verwirkt, der ist so tot, als wäre er schon gestorben. Aber auch so ist das unglaublich hart, ja geradezu unverständlich. Jesus hat doch sonst immer darauf gedrungen, dass tiefes Vertrauen zu Gott und menschliches Verhalten im Alltag sich gar nicht voneinander trennen lassen. Wie kann er dann plötzlich verlangen, dass dieser Mann, der ihm doch durchaus gewogen ist, seinem Vater die Trauerfeier verweigert?

Aber mit dieser Frage haben wir die Sache noch nicht richtig verstanden. Das Haken ist das „Erstmal“. Erst das Begräbnis des Vaters, und dann – vielleicht – der gemeinsame Weg durch das Land mit Jesus. Wir Menschen haben eine tiefsitzende Neigung, notwendige aber unbequeme Anforderungen mit einem „Erstmal dies, erstmal das“ von uns wegzuschieben. Je besser die Ausrede, desto sicherer fühlen wir uns. Das fängt schon ganz früh im Leben an. Wer kleine Kinder hat, der weiß, wie das ist, wenn die Familie drauf und dran ist, die Oma zu besuchen, aber der kleine Junge quakt: „Mutti, ich will aber erst noch meinen Teddy zu Bett bringen.“ Das klingt nach vorbildlicher Fürsorglichkeit, bedeutet aber in Wirklichkeit, dass er keine Lust hat mitzukommen. Nun, Sie werden in solchen Fällen schon eine pädagogisch kluge Lösung gefunden haben. Jesus in unserer Erzählung ist freilich überhaupt nicht pädagogisch; er hat es ja auch nicht mit einem Kind, sondern mit einem erwachsenen Menschen zu tun, und Gottes Auftrag für ein ganzes Leben ist wahrhaftig etwas Ernsteres als ein ganz normaler Besuch bei der Oma. Jesus durchschaut sein Gegenüber und macht ihm klar: Mit Gott wird nicht verhandelt und gefeilscht. Der besteht auf einer klaren Entscheidung.

Auf den ersten Blick ganz ähnlich ist der dritte Mann in unserer Geschichte. Jesus hat ihn wohl ebenfalls aufgefordert, mitzukommen, auch wenn das hier nicht erzählt wird. Er antwortet: „Im Prinzip gerne, aber ich will mich vorher noch von meiner Familie verabschieden.“ Das ist nicht so dramatisch wie der Wunsch, seinen Vater zu beerdigen, aber ebenfalls durchaus verständlich. Doch er weckt noch leichter als der andere den Verdacht, dass er sich damit eine Hintertür offenhalten will. Er ahnt nämlich, dass das Leben mit Jesus einen völligen Bruch mit seinen bisherigen Gewohnheiten bedeuten wird. Das lässt ihn zögern. Er ist hin- und hergerissen zwischen der Einsicht, dass er eigentlich Jesus eine klare Antwort geben sollte, und dem Gedanken an die Gemütlichkeit zu Hause bei seinen Leuten. Jesus fertigt auch ihn schneidend scharf ab: „Wer seine Hand an den Pflug legt und blickt zurück, der ist nicht geeignet für das Reich Gottes“ – oder einfacher: den kann Gott nicht gebrauchen. Auch wenn wir Städter von Landwirtschaft zumeist nicht viel Ahnung haben, schon gar nicht von den Bauern von damals, so leuchtet uns dieses Bild vom Pflügen doch unmittelbar ein. Wer dabei nicht auf das Pferd – oder damals eher: den Ochsen – vor sich blickt, sondern nach hinten, der wird eine krumme Furche durch das Feld ziehen. Ein Gleichnis für ein verpfuschtes Leben. Da können wir uns nicht darauf herausreden, dass Gott auch auf krummen Linien gerade schreibt.

Nun sind wir heute morgen hier im Gemeindesaal zu einem großen Teil Menschen, die nicht mehr sozusagen das ganze Feld des Lebens noch vor sich haben. Die Grundentscheidungen sind getroffen. Es kommt jetzt nur noch darauf an, unsere Sache anständig zu einem guten Ende zu bringen, könnte man sagen. Aber auch in so einer Lebenssituation bleibt es wichtig, den Blick klar nach vorn auf das Ziel zu richten, auf das Reich Gottes, wie Jesus das ausgedrückt hat, also auf Gott selbst, dem wir für unser Leben Rechenschaft schuldig sind. Der Satz: „Wer seine Hand an den Pflug legt und blickt zurück, der ist für Gottes Reich nicht geeignet“, gilt sogar den Alten unter uns ganz besonders. Da ich zu denen auch selbst gehöre, weiß ich genau, wie groß für uns die Versuchung ist zu denken: „Ach ja, die gute alte Zeit. Da war alles so viel besser als heute mit dem Elektronikkram, den ich nicht mehr verstehe, und mit den politischen Extremisten, die mich anwidern. In meiner Jugend, gleich nach dem Krieg, da war die Kirche nochmal richtig lebendig, aber heute?“ Nein, liebe Gemeinde, da würde Jesus auch uns Alte aufscheuchen. Denn damit ziehen wir uns genauso aus der Affäre wie der junge Mann am Anfang, der sich auf seine jugendliche Begeisterung verließ und für die Folgen seiner Entscheidung Scheuklappen vor den Augen hatte. Aus der Vergangenheit kann man zwar viel lernen, nicht zuletzt dies, dass wir nicht frühere Fehler wiederholen. Aber als Rückzugsort eignet sie sich nicht. Das Gerede von der guten alten Zeit ist ein Ammenmärchen. Auch wir Alten müssen den Blick nach vorne richten, auf das, was Gott von uns noch erwartet, auch wenn die Wegstrecke, die vor uns liegt, vielleicht nur noch kurz ist.

Nun geht es allerdings Jesus, wenn er zu uns vom Reich Gottes redet, nicht nur um das, was wir darin zu tun haben. Denn die Grundlage dafür ist ja, dass Gott durch ihn selber auf uns zukommt. Gottes Herrschaft ist größer als alles, was wir Menschen mit Begeisterung und jugendlichem Schwung oder auch mit Altersweisheit zustande bringen können. Sie bringt uns die Hoffnung auf eine Gemeinschaft mit Gott, die über den Tod hinausgeht und darum auch unseren Abschied von unseren Toten hinter sich lässt. Sie ist unendlich viel tiefer als selbst die glücklichste Geborgenheit in einer intakten Familie. Sie ermutigt uns, im Namen Jesu unseren privaten Kreis und auch den Schutzraum unserer Gemeinde zu überschreiten und ohne Angst in seinem Namen zu wirken, wo er uns auch hinschickt. Das setzt die scharfen Worte Jesu nicht außer Kraft. Aber erst vor diesem Hintergrund können wir sie so verstehen, wie sie gemeint sind. Bei allem Ernst seiner Anforderungen an unsere Lebensführung: Gott lässt uns damit nicht im Regen stehen. Darauf können wir uns verlassen.

Amen.

 

Prof. em. Dr. Dietz Lange

Göttingen

e-mail: dietzclange@online.de

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