Der wahre Weinstock

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Der wahre Weinstock

Predigt zu Joh 15,1-8, verfasst von Thomas Muggli-Stokholm |

Predigttext Johannes 15,1-8:

Jesus spricht: Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weinbauer. Jede Rebe an mir, die nicht Frucht bringt, nimmt er weg, und jede, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie noch mehr Frucht bringt. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich euch gesagt habe. Bleibt in mir, und ich bleibe in euch. Wie die Rebe aus sich heraus keine Frucht bringen kann, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so könnt auch ihr es nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht, denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Wer nicht in mir bleibt, wird weggeworfen wie die Rebe und verdorrt; man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen. Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, dann bittet um alles, was ihr wollt, und es wird euch zuteil werden. Dadurch wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und meine Jünger werdet.

Predigt:

Jesu Worte wecken in mir die Erinnerung an Spaziergänge durch die Rebberge des Schaffhausischen Weinbauerndorfs Buchberg. Golden strahlt die Sonne vom tiefblauen Himmel. An sorgfältig gepflegten Weinstöcken, deren Blätter bereits in allen Herbstfarben leuchten, hängen erntereife Trauben. Die Luft ist voll süsser Düfte. Mit all dem stellt sich eine Ahnung des Paradieses ein: Friede, Freude, Fülle und eine Schönheit, die einem die Sprache verschlägt.

Der estnische Komponist Arvo Pärt hat die Worte Jesu in «I am the True Vine» für vierstimmigen Chor vertont (vgl: https://www.youtube.com/watch?v=OCYSuwPAZ30). Auch seine Musik wirkt vollkommen idyllisch: Fast keine Dissonanzen, eine kreisende Melodik ohne Entwicklung, ein in sich ruhender Wohlklang, der den Ohren schmeichelt, sofern der vortragende Chor die unbedingt erforderliche Reinheit hinbringt.

Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich euch gesagt habe. Bleibt in mir, und ich bleibe in euch.

Der Weinstock ist ein wunderbares Bild für den Glauben an Jesus Christus: Vertrauen wir ihm, hängen wir uns an ihn, dann müssen wir uns um nichts sorgen. Wir müssen nur bleiben, uns reinigen und pflegen lassen – dann bringen wir viel Frucht, die von alleine reift in der goldenen Sonne von Gottes Liebe. Da ist nichts von mühsamer Arbeit im Schweiss des Angesichts, nichts von Schmerz, Not und Tod, die Gott einst Adam und Eva auferlegte, weil sie ihm im Paradies nicht gehorchten.

Bleibt in mir, und ich bleibe in euch.

Johannes 15 ist der Paradetext zum Thema «Bleiben». Das Wort begegnet uns in diesem Kapitel weit über zehnmal. Bleibt – und es kommt gut.

«Schön wärs!», sagen sich nun bestimmt die meisten von Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer. Das «Bleiben» hat gerade jetzt, in Zeiten von Corona, eine zentrale Bedeutung, aber alles andere als eine positive: Wir müssen zuhause bleiben, damit die Ausbreitung des Virus möglichst stark gebremst werden kann. Ja, Bundesrat Alain Berset hat uns so eindringlich und wiederholt zum Zuhause-Bleiben gemahnt, dass die Macher von «Zwei am Morge» vom Schweizer Radio und Fernsehen srf dazu einen Techno Song kreierten (vgl: https://www.youtube.com/watch?v=yGX4u5XfzVs) Hier finden wir völlig andere Klänge als die ungetrübte Harmonie bei Arvo Pärt. Der harte Beat und die wummernden Bässe geben die Not wieder, in welche gerade die Älteren unter uns durch die einschneidenden Massnahmen geraten: Keine physischen Kontakte mehr, nicht mehr selbst Einkaufen, Spazieren nur noch eingeschränkt und unter Beachtung grösster Vorsichtsmassnahmen. Möglichst da bleiben, wo man ist, in den eigenen vier Wänden, im Zuhause, das mehr und mehr zum Gefängnis wird.

Das idyllische Bild Jesu vom treuen Bleiben und die ohrenschmeichelnde Musik Arvo Pärts wirken da fehl am Platz. Allerdings – und das ist auch der Grund, weshalb ich persönlich nur wenig anfangen kann mit der Musik Pärts – liefert Jesus gar nicht so einen verklärten Blick aufs Dasein, wie es zunächst scheint:

Zum einen ist das Bild vom Weinstock in seine grosse Abschiedsrede an die Jünger eingebettet, wo Jesus den Seinen unmissverständlich klarmacht, dass schwere Zeiten auf sie zukommen: Jesus wird leiden und sterben. Die Jünger bleiben alleine auf der Welt zurück, voller Kummer, Not und Angst, wie es weitergeht.

Zum andern begegnen uns im Text unharmonische Passagen, die Pärt mit seiner Vertonung grosszügig überspielt und über die auch wir als aufklärte, modern denkende Christinnen und Christen gerne hinweglesen:

Jede Rebe an mir, die nicht Frucht bringt, nimmt mein Vater weg. Denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Wer nicht in mir bleibt, wird weggeworfen wie die Rebe und verdorrt; man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen.

Der Schein der Idylle trügt. Für Jesus ist das Leben aus dem Glauben eine ernste Sache. Treu in ihm bleiben, das ist nicht mit wohliger Passivität zu verwechseln.

Gleich, wie goldener Herbstsonnenschein über Rebbergen mit optimalen Bedingungen für das Wachsen und Reifen mehr die Ausnahme als die Regel darstellt. Gleich sind die Zeiten, wo wir uns ungetrübt am Glauben freuen, innig verbunden mit Jesus und miteinander, im besten Fall Momente, Augenblicke, die leider nicht verweilen, so sehr wir uns das auch wünschen. Und ebenso, wie Frost und Dürre den Reben zusetzen und die monatelange Arbeit der Winzerinnen und Winzer innert weniger Stunden zunichtemachen können. Ebenso muss der Glaube ständig neu dem stürmischen Alltag abgerungen werden.

«Bleiben Sie zuhause!» Jesus und seine Jünger könnten diesen Aufruf unseres Bundesrats nicht befolgen. Sie sind stets unterwegs, haben keinen Ort zum Bleiben und wissen am Morgen noch nicht, wo sie die kommende Nacht verbringen können.

Trotzdem: Zwischen der Nötigung, zuhause zu bleiben und dem Bleiben am Weinstock existiert ein Zusammenhang: Wir staunen, wie unglaublich rasch Zustände eingetreten sind, die noch vor wenigen Monaten undenkbar schienen. Alles scheint anders, nicht nur jetzt. Beinahe wie ein Mantra wiederholen die Medien, dass diese Krise unsere Gesellschaft nachhaltig verändern wird.

Zuhause, einsperrt in den eigenen vier Wänden, haben wir viel Zeit zum Überlegen, was anders werden – und was bleiben soll.

Die dunklen Seiten unseres Textes spielen da eine überraschend wichtige Rolle: Jesus spricht davon, wie die Schosse, die nicht an ihm bleiben, auch keine Frucht bringen und darum weggeworfen und verbrannt werden. In der Tat wird in unserer Gesellschaft enorm viel weggeworfen und verbrannt, konkret und im übertragenen Sinn: In der Schweiz werden nur schon von den privaten Haushalten jährlich eine Million Tonnen Lebensmittel weggeworfen. Die Hälfte davon landet im Kehricht und wird verbrannt. Diese neudeutsch «Food waste» genannte Lebensmittelverschleuderung ist ein Bild für das, was heute als normal und gut gilt: Wer modern sein will, lässt nichts so bleiben, wie es ist. Er entledigt sich dessen, was mühsam geworden ist, seien dies veraltete Geräte und Gegenstände, seien es Beziehungen, die nicht mehr optimal harmonieren.

Ohne mich könnt ihr nichts tun! Was für eine verrückte Behauptung. Wer es heute zu etwas bringen will, muss sich möglichst unabhängig von allen anderen machen. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!  Ich bin der Unternehmer meines Lebens und habe nur Erfolg, wenn ich meine Ressourcen und Kompetenzen optimiere und effizient nutze.

Und nun das: «Bleibt zuhause!» Corona sperrt uns ein und zwingt uns zum Nachdenken darüber, ob das Konzept des Wegwerfens, des sich ständig neu Erfindens wirklich Zukunft hat.

Im Zusammenhang damit werden Stimmen laut, welche das Wiedererstarken der Landeskirchen heraufbeschwören: Ja, waren Krisenzeiten nicht schon immer die Chance, dem Glauben zu neuer Aktualität zu verhelfen? Passen wir auf, dass wir hier nicht in die Falle treten! Wenn sogar wir Christinnen und Christen im Glauben nur noch eine Art Notfallapotheke für den schlimmsten Fall sehen, dann werfen wir uns über kurz oder lang selbst weg.

Und eine solche Sicht widerspricht ganz und gar dem, was Jesus uns mit dem Bild vom Weinstock naheliegt. Dieses Bild ist nicht bloss alles andere als idyllisch. Es trägt auch viel mehr Potential in sich, als es auf den ersten Blick scheint:

Jesus der Weinstock mit den Glaubenden als Schosse, die reiche Frucht tragen, weil sie an ihm bleiben. Das ist nicht gedacht als Trostbild für eine kleine Sondergruppe unverzagt Glaubender. Das Johannesevangelium beschreibt uns das Wirken Jesu in einer Dimension, welche alle anderen Evangelien weit übertrifft: In der Einleitung hält Johannes fest, dass Jesus als Wort Gottes schon vor der Schöpfung gegenwärtig war und alles durch ihn geworden ist.

In diesem Licht erhält der Weinstock eine weltweite Dimension: Seine Schosse bestehen nicht nur aus der Handvoll Jünger, welche glauben. An ihm hängt der ganze Kosmos. Alles Geschaffene ist mit ihm verbunden, lebt aus ihm und empfängt Kraft von ihm. Damit führt das Bild des Weinstocks uns vor Augen, was Paulus meint, wenn er im 1. Korintherbrief schreibt, dass Gott am Ende der Zeit alles in allem ist (1. Kor 15,28).

Gott alles in allem – Christus, der Weinstock, an welchem der ganze Kosmos hängt. Das ist auch und ganz besonders eine Vision des Friedens: Im Bewusstsein, dass alle am selben Weinstock hängen, wird der Kampf und Zank zwischen den Konfessionen und Kirchen undenkbar. Ohne Jesus können die Kirchen und Gemeinden nichts tun. Nur wenn sie in ihm bleiben und sich durch ihn miteinander verbunden wissen, tragen sie Frucht.

Bleibt in mir, und ich bleibe in euch.

Die Zeit des Zuhause-Bleibens, der erzwungenen Entschleunigung bietet die Chance, neu den Zugang zum Glauben zu finden, zur Erkenntnis, dass wir immer schon am Weinstock Jesus hängen. Diese Erkenntnis schenkt uns Frieden, Trost und Gelassenheit: Alles, was in der Welt gilt, Reichtum, Erfolg, Ansehen, ist vergänglich und muss einmal weggeworfen und verbrannt werden. Was am Weinstock reift, hat Zukunft. Wenn wir in Jesus bleiben, dann trägt unser Leben Frucht, die bleibt.

Paulus konkretisiert dies im Galaterbrief und schreibt: Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Güte, Rechtschaffenheit und Treue. (Gal 5,22).

Hoffen und beten wir, dass unsere Gesellschaft nach der Krise in diesem Sinn menschlicher wird. Wir müssen hoffentlich bald einmal nicht mehr zuhause bleiben. Doch wir können dran bleiben und die Frucht des Geistes reifen lassen in unseren Beziehungen zu Christus und zu den Menschen. So kann eine Gemeinschaft wachsen, die durch alle Dissonanzen hindurch immer neu zur Harmonie findet. Eine Gemeinschaft, die Halt und Frieden schenkt und schön anzusehen ist, wie ein Rebstock im Licht der goldenen Herbstsonne.

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Gott lasse seine Hoffnung in dir blühen, damit du deinen Weg aufrecht und entschlossen gehen kannst.

Gott lasse seine Liebe in dir blühen, damit du andere trägst und selbst getragen wirst.

Gott lasse seine Freude in dir blühen, damit immer wieder ein Lachen deinen Alltag verzaubert.

Gott lasse seinen Frieden in dir blühen, damit du Ruhe findest und anderen die Hände reichen kannst.

Es segne dich der lebendige Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.

de_DEDeutsch