Wahrheit im Wein

Wahrheit im Wein

(Eher eine Lese-)Predigt über Joh 15,1-8 zum Sonntag Jubilate am 3.5. 2020 für Göttinger Predigten im Internet

Friedensgruß

Der Predigttext für den Sonntag Jubilate steht Joh 15, 1-8:

„Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner. Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, nimmt er weg; und eine jede, die Frucht bringt, reinigt er, dass sie mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt die Reben und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen. Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger.“

Liebe Schwestern und Brüder,

Abstand. – – – –

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Abstand. – – – –

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Abstand. – – – –

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Mindestens vier Schritte zum nächsten Fußgänger mit einer Maske.

Das buntgescheckte, selbstgenähte Stück Stoff, das Mund und Nase bedeckt, ist zum Symbol der Corona-Krise geworden. Masken verhindern die Verbreitung der Viren, aber sie verbergen auch Gesichter, manchmal erkenne ich die Nachbarn nicht mehr. Passanten auf der Straße vermeiden es, dem Freund, den sie treffen, die Hand zu schütteln. Gemeinschaft besteht darin, Gemeinschaft zu vermeiden. Wie die Maske zum Symbol des Abstands geworden ist, so nehmen Jesu Weinworte den Glaubenden jeden Abstand. Der Prediger aus Nazareth hat Weinstöcke, -trauben und den Wein selbst zum Symbol christlicher Zusammenseins gemacht. Reden wir also über Jesu Weinseminar, über eine Weinprobe mit Aussicht auf die Ewigkeit.

Liebe Schwestern und Brüder, wie viele andere Traubenliebhaber freue ich mich nach den Sommerferien auf den September, wenn  im Supermarkt zum ersten Mal frische Trauben aus der Region angeboten werden. Dann dauert es nicht mehr lange, bis an der Tankstelle die freundliche alte Dame aus der Pfalz ihren Stand mit verschiedenen Sorten Federweißem aufbaut. An den Wochen füllt sie den angegorenen Traubensaft in weiße Plastikkanister. Dann backen wir Zwiebelkuchen, der am besten zu neuen Wein paßt.

Federweißer schmeckt vor allem süß, er enthält kaum Alkohol. Reife, durchgegorene Weine brauchen kleine Schlucke, Geduld und Abwarten, bis sich im  Gaumen ein überwältigendes Geschmackerlebnis entfaltet, von Aprikosen und Pfirsichen über Sommerwiesenduft bis zu waldigen, erdigen Tönen. Leser lächeln über die blumige Sprache von Weinkritikern, aber diese scheitern an der Komik der Sprache, die vor den vielen Geschmacksnuancen schlicht versagt. Liebe Schwestern und Brüder, ich will niemanden zum übermäßigen Weinkonsum verführen, der enthaltene Alkohol bleibt eine Gefahr für Leber und Verstand. Wer ein Glas hastig herunterkippt, dem geht beim Herunterspülen aller Geschmack im Gaumen verloren. Der betrunkene Noah muß nach dem erfolgreichen Törn auf der Arche bitter für sein Trinkgelage bezahlen. Paulus mahnt in seinen Briefen zu einem gemäßigten Umgang mit der Weinamphore.

Im September ist die Zeit für den leichten Rosé auf dem Balkon schon fast vorbei, die Blätter färben sich schon gelb und rötlich. Es wird kühl am Abend. Es ist die Zeit, am Sonntagnachmittag in den Weinbergen spazieren zu gehen und am Abend in einer Besenwirtschaft einzukehren und schließlich ein paar Flaschen mitzunehmen. Wer Wein probiert, der schult seinen Geschmackssinn und lernt, kleinste Nuancen zu unterscheiden: Trollinger aus Lauffen am Neckar, Portugieser und Dornfelder aus Edenkoben, Müller-Thurgau und Riesling aus Traben-Trarbach, Gutedel aus Auggen, Sylvaner aus den fränkischen Orten Iphofen und Volkach. Die regionale deutsche Weinkarte läßt sich grenzenlos europäisch erweitern, vom Rosé aus der Provence über Barolo aus dem Piemont, Retsina aus Griechenland bis an den östlichen Rand des Mittelmeers und über Europa hinaus nach Israel.  In diesem kleinen Land wird heute wie schon vor Jahrtausenden (Rot-)Wein angebaut.

Wenn Jesus von Weinstöcken und Reben spricht, dann bettet er sich in eine größere Tradition ein. Im alten Israel bauten die Menschen Wein an, tranken ihn und sahen in ihm ein besonderes Bild. Im Wein liegt nicht nur Wahrheit, im Wein liegt die besondere Wahrheit des Glaubens. Schon für den Psalmendichter gehörte der Wein zusammen mit Brot und Olivenöl zu den unverzichtbaren Nahrungsmitteln, die in guter Qualität das Herz des Menschen erfreuen (Ps 104,15). Und im fünften Buch Mose werden die sieben Früchte der Thora aufgezählt, auf die Israel nicht verzichten kann: Weizen, Gerste, Weintrauben, Feigen, Granatäpfel, Oliven und Datteln. Das Alte Testament erzählt in Gleichnissen davon, daß Gott sich um das Volk Israel kümmert wie ein Winzer um seinen Weinberg. Für Jesus von Nazareth war der Wein wie für alle Menschen des antiken Israel ein Symbol des Friedens. Nur in Friedenszeiten hatten die Menschen Geduld und Ruhe, Rebstöcke zu kultivieren, Trauben zu lesen und zu keltern, den Saft gären zu lassen und den Wein in Krüge, Schläuche und Amphoren abzufüllen.

Das erste und wichtigste Wunder, das Jesus im Johannesevangelium vollbringt, gilt dem fehlenden Wein bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1-12), keinem blinden Bettler, keinem von Dämonen besessenen Kranken, keiner blutflüssigen Frau. Bei der Hochzeit zu Kana wundern sich die Gäste, wieso der beste Wein erst am Ende der Feier serviert wird. Und Maria wundert sich über ihren Sohn, der dieses Wunder mit einer Selbstverständlichkeit und Gelassenheit vollbringt als handele es sich um das Entkorken einer Reihe von verstaubten Flaschen, die er eben tief unten im Weinkeller entdeckt hat.

Wein kann für Wunder begeistern. Wein regt an, sich frei zu sprechen. Und Jesus spricht in seiner Weinrede mitten in Feld von Bildern und Vergleichen, die seinen Zuhörern damals sehr vertraut waren. Wein bedeutet Frieden, Wachstum, Genuß und Wohlstand. Wein ist Segen. Wenn ein Prophet vom Weinberg redete, so meinte er oft das Volk Israel. Als Winzer oder Weingärtner liest Gott selbst die Trauben von den Reben, die er einmal gepflanzt hat. Jesus geht durch einen ganz bekannten sprachlichen Raum und setzt dennoch eigene Akzente. Seine Weinrede fällt mindestens so sehr aus dem Rahmen wie das Weinwunder von Kana.

Der wahre Weingärtner oder Winzer ist mein Vater, sagt Jesus. Er kümmert sich das ganze Jahr um seinen Weinberg. Penibel achtet er auf das Wachstum der Reben, sorgt sich um jeden einzelnen Weinstock. Er lockert den Boden auf, jätet Unkraut, reißt die  alten Weinstöcke aus und pflanzt neue. Gott ist wie ein Weingärtner, der seine Schöpfung pflegt. Gott sorgt – auch in Corona-Zeiten – für diese Welt, seine Schöpfung. Er läßt kranke, isolierte, ängstliche Menschen nicht allein. Gott verläßt seine Schöpfung nicht. Er hält sich an seine Verheißungen und Versprechungen.

Ein Weinberg benötigt das ganze Jahr über Pflege. Im biblischen Israel galt der Weinstock deswegen als Pflanze des Friedens. Wer zu allen vier Jahreszeiten mit seinen Weinbergen beschäftigt war, der besaß weder Zeit noch Kraft, um in den Krieg zu ziehen. Die Voraussetzung für Weinanbau war ein Leben im Frieden. Nach einer Wüstenwanderung von vierzig Jahren waren die Männer und Frauen Israels ermüdet. Mose schickte Kundschafter aus, die jenseits des Jordans die Lage sichten sollten. Sie kehrten mit Weintrauben zurück. Ich erinnere mich noch, wie sehr ich als Kind von dem Bild fasziniert war, das in der Schulkinderbibel, dem „Schild des Glaubens“ zu dieser Geschichte abgedruckt war: Zwei der zurückkehrenden Kundschafter tragen schwer an zwei geschulterten Stangen. Daran hing eine einzige riesige Weintraube, und die Früchte schienen groß wie Fußbälle.

Wer Trauben erntet, Saft preßt und Wein keltert, der lebt in Frieden. Und wer in Frieden lebt, der kann sich freuen und jubeln. Das Volk Israel jubelt, weil es endlich an seinem Ziel, dem gelobten Land Kanaan angekommen ist. Die Jünger freuen sich, weil sie seit einiger Zeit zusammen mit Jesus durch Galiläa gewandert sind. Nur heute steht die Gemeinde mit Masken auf Abstand und kann sich nicht einmal die Hand zum Friedensgruß reichen. Jubilate heißt der heutige Sonntag: Freut euch. Die Freude gilt dem auferstandenen Jesus. Aber in der Gegenwart ist das Jubeln der Glaubenden hinter Masken verborgen. Die Verbindung von Wein, Freude und Frieden erschließt sich nicht von selbst und nicht auf den ersten Blick.

Und sie kann auch ganz anders erschlossen werden. Die antiken Griechen verbanden den Wein mit dem Gott des Dionysos. Er stand weniger für den Frieden als für Ekstase, Orgien und Rausch. Nach einem Mythos haben die Titanen Dionysos getötet, aber die Götter haben ihn wieder auferweckt. Deswegen verglichen die ersten Christen Dionysos gerne mit dem auferstandenen Christus. Für Friedrich Hölderlin, dessen 250.Geburtstag wir in diesem Jahr feiern, fielen der griechische Dionysos und der auferstandene Christus zusammen. Er sprach in seiner Hymne „Brot und Wein“ von dem „kommenden Gott“, auf den die Menschheit wartet.

Die Worte über Wein und Reben, die Jesus im Predigttext spricht, gehören zu den Abschiedsreden des Johannesevangeliums. Der Evangelist, für den der Adler als Zeichen steht, wollte seine Gemeinde trösten. Denn der auferstandene Christus war gleichzeitig ein abwesender Christus. Abwesenheit sollte durch Verbindung, Freude und Jubel überbrückt werden, so lange, bis mit dem kommenden, wiederkehrenden Christus Gottes Reich anbricht.

Was die Verbindung zwischen Jesus und der Gemeinde ausmacht, ist die Liebe Gottes, von der Jesus so nachhaltig und eindrücklich gesprochen hat.  Der entscheidende Vers des Predigttextes lautet so: „Bleibt in mir und ich in euch.“ Das ist die wichtigste Bestimmung des Glaubens und des Christseins: In der Liebe Jesu bleiben. Dort ist Gemeinde, wo die Liebe Jesu Christi in Gemeinschaft weiterlebt. Diese Gemeinschaft und dieses Vertrauen übersteigen alles Berechnen, Planen. Sie übertreffen fromme Wachstumsprognosen und klerikale Fünfjahrespläne.

In der Liebe Jesu bleiben, das kann ganz Unterschiedliches bedeuten: Ich versuche, Streit zu überwinden und alte Konflikte beizulegen. Ich will versöhnen anstatt unbedingt Recht haben. Ich bestehe nicht auf meiner Wahrheit, sondern gehe auf Interessen und Ziele des anderen, der anderen ein. Ich spreche mit jemandem, dem ich vorher aus dem Weg gegangen bin, weil er mir unsympathisch war. Ich behalte nicht alles für mich, sondern ich kann weitergeben und teilen. Und besonders heute: Ich sehe hinter der Maske für den Virenschutz den anderen Menschen, dem ich die später wieder die Hand geben werde, mit dem ich spreche. Ich sehe hinter der Maske nicht den Konkurrenten um Klopapier und Tiefkühlpizza und den letzten Hefewürfel im Kühlregal.

Liebe Schwestern und Brüder, Glaube stiftet eine dauerhafte Beziehung, eine Beziehung zu Jesus. Solch eine Beziehung hat immer zwei Seiten, so wie sie mindestens zwei Personen voraussetzt, die an ihr beteiligt sind. Auf der Seite von Jesus bleibt diese Beziehung konstant: Jesus wartet auf uns, er bleibt der Heiland und Messias, der Gekreuzigte und Auferstandene, derjenige, der für uns Menschen alles getan hat, was zu einem Leben in Vertrauen und Gewissheit wichtig ist.

Wir Menschen, nicht nur die Konfirmanden, auch diejenigen Konfirmierten, die schon älter sind, bewegen uns manchmal aus dieser Beziehung heraus, manchmal absichtlich, manchmal unabsichtlich, wir entfernen uns von Gottes Barmherzigkeit. Auch das gehört zum Leben: Zweifel am Glauben, Zweifel an Gott, aber auch Zweifel an sich selbst. Aus dem Johannesevangelium lernen wir: Für die Rückkehr zum Vertrauen, für die Rückkehr zu dieser Beziehung ist es nie zu spät. Bei aller Distanz, die wir vielleicht noch lange Zeit aus guten medizinischen Gründen sinnvoll halten müssen, bleibt die Gewißheit, daß die Liebe Jesu zu den Menschen nicht aufgehoben werden kann. Amen.

 

Nachbemerkungen

Für den kulturgeschichtlichen Kontext von Wein und Glaube fand ich hilfreich: Heidrun Dörken, Der Wein erfreut des Menschen Herz. Der Rebensaft und der Glaube, Deutschlandfunk Kultur 2011, https://www.deutschlandfunkkultur.de/der-wein-erfreut-des-menschen-herz.1124.de.html?dram:article_id=177080.

Biblische Informationen zum Thema Wein, Wasser und Trinken finden sich bei: Jakob Wöhrle, Art. Getränke (AT), Wibilex 11/2008, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/19484/ .

Die in der Predigt erwähnte Hymne von Friedrich Hölderlin kann man im Internet hier nachlesen:

Friedrich Hölderlin, Brot und Wein,  http://www.zeno.org/Literatur/M/H%C3%B6lderlin,+Friedrich/Gedichte/Gedichte+1800-1804/%5BElegien%5D/Brot+und+Wein.

 

 

 

 

PD Dr. Wolfgang Vögele

Karlsruhe

wolfgangvoegele1@googlemail.com

 

Wolfgang Vögele, geboren 1962. Privatdozent für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er bloggt über Theologie, Gemeinde und Predigt unter www.wolfgangvoegele.wordpress.com.

 

 

 

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