Deuteronomium 32,1-7

Deuteronomium 32,1-7

Evensong | 5. Mose 32,1-7 | 01.11.23 | Esther Meyer |

Deut. 32, 1-7

1 Höre, Himmel, ich will reden, Erde, vernimm die Worte meines Mundes!

2 Wie der Regen soll meine Lehre rieseln, meine Rede soll träufeln wie der Tau, wie Schauer auf das Gras und wie Tropfen auf das Kraut.

3 Den Namen des HERRN will ich verkünden: Gebt unserem Gott die Ehre.

4 Der Fels! Vollkommen ist sein Tun, denn alle seine Wege sind Recht. Ein Gott der Treue, ohne Trug, er ist gerecht und aufrecht.

5 Eine verkehrte und verdrehte Generation hat gegen mich gefrevelt, in ihrer Schande wollen sie nicht mehr seine Kinder sein.

6 Ist das euer Dank an den HERRN, du törichtes und unweises Volk? Ist er nicht dein Vater, der dich geschaffen hat, ist er es nicht, der dich gemacht und gefestigt hat?

7 Denke an die Tage der Vorzeit, begreift die Jahre der vergangenen Generationen. Frage deinen Vater, dass er es dir kundtut, deine Betagten, dass sie es dir sagen.

In Erfahrungen von anderen laufen

Sie wollte sich nur schnell ihre Jacke holen, um mit ihrem Sohn einen Spaziergang im Garten zu machen. Nun ist sie hier gelandet und fragt sich, ob sie hier richtig ist. Annegret Meyer wohnt auf der Demenzstation in Goldenstedt und hat sich mal wieder nicht in ihrem eigenen, sondern in einem fremden Zimmer wiedergefunden. Es ist niemand anderes da. Irgendwie wirkt das Zimmer anders auf sie, aber es kommt ihr dennoch vertraut vor. Sie schaut zur Garderobe. Könnte dieser Mantel dort ihr gehören? Er ist ziemlich groß geschnitten, fühlt sich aber weich an und die schöne braune Farbe gefällt ihr gut…

Und schon hat sie den Mantel von der Garderobe geschnappt und etwas mühsam beide Arme durch die Ärmel gesteckt. Er ist wirklich groß, aber schön warm 🙂

Als sie aus dem Zimmer tritt weiß sie schon nicht mehr, wo sie eigentlich hinwollte.

Bis sie auf ihren Sohn trifft, der ihr entgegenkommt. „Was für eine Überraschung!“, denkt sie und freut sich riesig über seinen Besuch. Er schlägt erneut vor, dass sie einen Spaziergang im Garten machen. Die Idee gefällt ihr. Und wie praktisch – sie hat ja bereits einen Mantel an. Den Besuch im fremden Zimmer hat sie schon wieder vergessen.

Regelmäßig vergisst das Volk Israel die eine Sache, die es nicht vergessen darf:

Gebt unserem Gott die Ehre. Der Fels! Vollkommen ist sein Tun, denn alle seine Wege sind Recht.

Sie haben es erlebt: Gott führte sie aus der Sklaverei in Ägypten, das Meer wurde geteilt, Wasser kam aus dem Felsen, Manna und Wachteln vom Himmel. Gott stand ihnen treu zur Seite, versorgte sie und begleitete sie. Was dieses Volk nicht alles mit Gott erlebt hat!

Aber 40 Jahre Wanderung durch die Wüste können einen diese Dinge vergessen lassen. Nicht so, dass man nicht mehr weiß, was passiert ist. Aber so, dass es einfach so weit weg scheint. So unwirklich. So wie von jemand anderem erlebt. Die einst so sichere Erfahrung wurde unsicher, die Erkenntnisse wie abgelaufen.

Im zu großen Mantel spaziert Annegret mit ihrem Sohn durch den Garten. Gespräche fallen ihr oft schwer. Wenn ihr Mann mit ihren Kindern über Politik oder Neuigkeiten der Verwandten spricht, sitzt sie daneben und versteht nichts. Die Informationen finden keinen Platz in dem Wirrwarr in Kopf. Sie kann es nicht mehr begreifen und einordnen. Sie kann es nicht mehr verknüpfen mit anderen Informationen. Die Themen sind ihr zu groß, alles zu komplex.

Darum sagt es ihr nichts und rauscht an ihr vorbei.

Wenn Menschen an Gott erinnert werden, besteht die Gefahr, dass auch hier Worte einfach an ihren Ohren vorbeirauschen. Weil sie zu groß sind

Der Fels! Vollkommen ist sein Tun, denn alle seine Wege sind Recht. Ein Gott der Treue, ohne Trug, er ist gerecht und aufrecht.

Vollkommenheit, Gerechtigkeit, Treue, Güte, Wahrhaftigkeit. Wie soll ein einzelner Mensch das bitte begreifen?

In einem Leben voller halber Sachen – halb fertig geschriebene Seminararbeiten, halb fertig gelesene Bücher, halbe Aufmerksamkeit für Gespräche und Themen – da ist das Konzept von Vollkommenheit oft fremd.

In einer Welt, in der ich an allen Ecken und Enden Ungerechtigkeit identifizieren kann, schaffe ich es nicht mir vorzustellen, was denn eigentlich Gerechtigkeit ist.

Und was bedeutet eigentlich Treue in einem Leben, das so schnelllebig ist und jedes Jahr ganz anders aussieht?

In einzelnen Momenten kann ich erahnen, was mit diesen Worten gemeint ist, aber oft hängen sie auch einfach nur zusammenhangslos in der Luft.

Als Annegret mit ihrem Sohn wieder das Foyer betritt, will sie den fremden Mantel nicht ausziehen. Er gefällt ihr, sie fühlt sich darin gerade warm und sicher.

Sie setzt sich neben das Klavier und bittet ihren Sohn zu spielen. Die Musik klingt schön. Und da gibt es auch einen Text dazu. Ohne groß nachzudenken singt sie mit. „Lobe den Herren den mächtigen König der Ehre“.

Mit einem Mal vergisst sie, was sie alles vergessen hat. Die Zeit, in der sie sich immer verirrt, spielt in diesem Moment keine Rolle. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind in eins. Annegret singt, wie sie schon als Kind gerne gesungen hat. Sie kann die Texte denkerisch nicht mehr begreifen und sie kann sich auch nicht mehr genau erinnern, woher sie diese eigentlich kann. Aber die Worte und Melodien fallen ihr irgendwie wieder ein und auch ohne den Text zu verstehen, versteht sie die Freude dieser Musik.

Diese Musik vermittelt ihr eine Wahrhaftigkeit und Schönheit, die eigentlich viel zu groß für sie ist. Aber es passt ihr, so wie der Mantel, den sie gerade noch trägt.

Denke an die Tage der Vorzeit, begreift die Jahre der vergangenen Generationen. Frage deinen Vater, dass er es dir kundtut, deine Betagten, dass sie es dir sagen.

Die Israeliten erinnern sich an Gott beim Feiern. Sie essen besonderes Essen, zünden Kerzen an, singen Lieder. Die Erfahrung, wie Gott Gebete erhört, wie er segnet, wie er begleitet, wird vergegenwärtigt. Die großen Worte über Gott entfalten ihre Kraft. Die unverfügbaren Erkenntnisse werden begreiflich, die Erfahrungen von damals wieder präsent.

Es ist schon erstaunlich, dass die Erinnerung des Glaubens seit Jahrhunderten nicht abgerissen ist. Die Ereignisse auf die auch wir uns beziehen, sind uralt! Wir hätten sie längst vergessen können. Die Erfahrungen sind uns oft fremd und unverständlich. Wir hätten sie längst abtun können. Relikte einer vergangenen Zeit.

Aber als wir letztes Weihnachten bei uns in der Stube saßen und auf Wunsch meiner Oma Osterlieder sangen, da spielte Zeit plötzlich keine Rolle.

Ich hörte meine Oma von der Größe Gottes singen. Ich glaube sie erinnerte sich in diesem Moment nicht nur an die Melodien und Texte, sondern auch an ihren Gott. Daran, wie er sie begleitet hatte. Wie er ihre Eltern begleitet hatte. Und die alten Texte wurden wieder gegenwärtig. Sie strahlte eine besondere Freude und Frieden aus. Sie spürte vielleicht etwas von Gottes Größe – ich glaube ich konnte den großen Gott in ihr wirken sehen.

Wenn ich jetzt Osterlieder singe, erinnere ich mich daran: Wie meine Oma ihren Gott erlebt und versteht.

In meinem kurzen Leben, kann ich gar nicht selber genug Dinge mit Gott erleben, die mir helfen ihn ganz zu begreifen. Und mit meinem kleinen Gehirn habe ich gar nicht die Kapazität alleine diesen Gott zu durchdingen und verstehen.

Aber Glauben muss man eben nicht alleine! Man muss nicht alles selbst erleben. Man muss nicht immer alles selbst verstehen. Im Glauben ist man ein Teil von etwas Großem.

Ich kann mir die Erfahrungen und Erkenntnisse von anderen wie einen Mantel überziehen. Der ist vielleicht zu groß, aber wärmt trotzdem. Ich kann die Worte und Geschichten von anderen übernehmen und wissen:

Sie Gelten Auch Mir!

Ich kann darauf vertrauen, dass Gott da zu finden ist. Wo wir uns von ihm erzählen. Wo wir uns gemeinsam an ihn erinnern.

Dann wird Vergangenes in die Gegenwart wiederholt.

Denn bei Gott verschränken sich die Zeiten.

Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft sind eines.

Gott ist in Jesus Christus derselbe: gestern, heute und in Ewigkeit (Heb 13,8).

Die alten Aussagen aus 5. Mose gelten auch heute genau gleich:

Der Fels! Vollkommen ist sein Tun, denn alle seine Wege sind Recht. Ein Gott der Treue, ohne Trug, er ist gerecht und aufrecht.

Verstehen können wir das nicht. Es ist uns viel zu groß. Aber wir können uns diese Erfahrungen und Worte von anderen wie einen großen Mantel anziehen, damit es uns wärmt. Dann ist der große Gott uns ganz nahe, und dann leben wir in ihm. Amen.

de_DEDeutsch