Matthäus 24,23-27

Matthäus 24,23-27

Tag des Gedenkens an die Novemberpogrome | 5. November 2023 | Mt 24,23-27 | Rainer Stahl |

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen!“

Liebe Schwestern und Brüder!

Im Rahmen der Besinnung zu Beginn unseres Gottesdienstes hatte ich uns darauf vorbereitet, dass wir versuchen wollen, uns der besonderen Herausforderung für diesen Sonntag zu stellen. Für heute ist im Pfarrer- und Pfarrerinnenkalender auch angegeben:

„Tag des Gedenkens an die Novemberpogrome“.

Natürlich wird auch empfohlen, heute den Reformationstag nachzufeiern oder ganz einfach den 22. Sonntag nach Trinitatis zu begehen. Bitte aber verstehen Sie, dass ich das Gedenken an die Novemberpogrome aufnehme, also den Blick voraus auf den 9. November werfe – auch, weil ich diese Herausforderung noch nie in einem Gottesdienst bedacht habe, denn dieses Gottesdienstmuster gibt es erst seit dem Kirchenjahr 2018 / 2019!

Zugleich muss ich aber eine Gefährdung für unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger und für uns alle benennen: Am Samstag, dem 7. Oktober, habe ich in meinem Kalender notiert: „Seit heute früh Angriff der Hamas aus Gaza auf Israel – noch ein Krieg.“ Ich kann diese schreckliche Entwicklung, die noch immer nicht überwunden wurde, nicht erklären und deuten. Aber wir müssen uns bewusst machen, dass wir unsere eigenen Überlegungen zum „Tag des Gedenkens an die Novemberpogrome“ auch vor diesem Hintergrund versuchen müssen.[i]

Nie vergesse ich, dass mein Vater mehrmals erzählt hatte, wie er als Lehrer am 10. November 1938 zu seiner Arbeitsstelle in Meiningen gegangen war, zur damaligen Prinz-Friedrich-Schule, heute: der Schule am Pulverrasen, und wie immer an der Synagoge vorbeigehen wollte. Mit Erschrecken hatte er feststellen müssen, dass sie niedergebrannt war… Vor einigen Jahren habe ich bei einem Besuch in meiner Heimatstadt bewusst einen Spaziergang an dieser Schule vorbei gemacht und habe mir auch das Denkmal für die Synagoge angesehen. Dort bin ich einen Moment stehen geblieben und habe still für mich gebetet:

„Šemac Jisrā’el, ’Adonaj ’Älohenu, ’Adonaj ’ächad!“

„Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig!“ (5. Mose 6,4).

Beim Besuch in der Gedenkstätte im Konzentrationslager Auschwitz am 25. März 2000 hatte ich mir eine Veröffentlichung über dieses Konzentrationslager gekauft. Aus einem Bericht in diesem Buch, das ich leider nicht mehr finde, hatte ich gelernt, dass viele jüdische Frauen und Männer in dem Moment, in dem sie begriffen, dass sie ermordet werden würden, dieses Bekenntnis hinausgeschrien hatten:

„Šemac Jisrā’el, ’Adonaj ’Älohenu, ’Adonaj ’ächad!“

„Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig!“

In diesem letzten Moment ihres irdischen Lebens hatten sie sich zu Gott bekannt! Aber die SS-Männer hatten gar nichts verstanden. Was wäre in demjenigen geschehen, der vielleicht verstanden hätte?

In der Zeitschrift FOCUS vom letzten Wochenende gibt es einen Bericht über die Aktivitäten von Israelis zugunsten ihrer Angehörigen, die von der Hamas gekidnappt, entführt worden waren.[ii] Dabei ist ein Foto einer Schauwand in Tel Aviv, auf der die Bilder der Entführten zu sehen sind – immer mit dem Satz „Bring her / Bring him home now!“ / „Bringe sie / Bringe ihn jetzt heim!“ Aber was ist über diesen vielen Bildern geschrieben? In Hebräisch, nur mit Konsonanten geschrieben, ohne Vokale, dieser zentrale Satz:

„Šemac Jisrā’el, ’Adonaj ’Älohenu, ’Adonaj ’ächad!“

„Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig!“

Jetzt wollen wir noch einmal auf den Predigttext hören, der in diesem Jahr für das Thema des Gedenkens an die Novemberpogrome ausgesucht worden war – Matthäus 24, die Verse: 23-27. Wir hatten diesen Text schon als Evangeliumslesung gehört, und zwar nach der Lutherübersetzung. Deshalb lese ich jetzt die Übersetzung der „BasisBibel“:

23Wenn dann jemand zu euch sagt: »Seht her, hier ist der Christus!«, oder: »Dort ist er!«, dann glaubt es nicht!

24Denn mancher falsche Christus und mancher falsche Prophet wird auftreten. Sie werden große Zeichen und Wunder tun. So wollen sie möglichst auch die Menschen in die Irre führen, die von Gott erwählt sind.

25Seht euch vor: Ich habe es euch vorhergesagt!

26Wenn jemand zu euch sagt: »Seht doch: Er ist in der Wüste!«, dann geht nicht hinaus!

Wenn jemand sagt: »Seht doch, er ist im Haus versteckt!«, dann glaubt ihm nicht!

27Denn wenn der Menschensohn wiederkommt, wird es sein wie bei einem Blitz: Unübersehbar leuchtet er auf, vom Osten bis zum Westen.“[iii]

Für mich ist die entscheidende Brücke zu unserem heutigen Thema, dass Jesus aus Nazareth, der wahre Christus, vor falschen Christussen und falschen Propheten warnt. Um den Zeitraum herum, in dem Jesus aus Nazareth aufgetreten war, gab es wirklich immer wieder Männer, die ähnliche Ansprüche erhoben haben. Ich nenne nur einen: Theudas, der in den Jahren 44-46 n.Chr. aufgetreten war. Er hatte versprochen, den Jordan trockenen Fußes durchqueren zu können – also den Einzug Israels in das Gelobte Land nachzuvollziehen – vgl. Sie Jos 3. Er und viele seiner Anhänger wurden getötet.[iv]

Heute aber kann es uns nicht um das Verständnis dieser historischen Phänomene gehen. Uns wird es um heutige Herausforderungen gehen. Ich will mich einmal folgendermaßen an diese Sache heranpirschen: Gibt es nicht auch Männer oder Frauen, die behaupten, dass ihre Ideen geeignet wären, endgültige Lösungen für die Probleme unseres Lebens zu bewirken? Die also ihre eigenen Ideen zu Ideologien hochpushen. Ich war in den Jahren meines Lebens in der DDR-Zeit davor bewahrt worden, solchen Botschaften auf den Leim zu gehen. Denn ich erlebte den Unterschied zwischen den ideologischen Idealen und den alltäglichen Wirklichkeiten. Denn ich begriff langsam, dass die damalige Ideologie scheitern muss, was ich dann miterleben konnte. Auch bei allen anderen Ideologien müssen wir vorsichtig bleiben. Vor ihnen bewahrt uns der Glaube an Christus: dem Weg der Wahrheit.

Ich habe Ihnen heute diese Wahrheit des Glaubens zu predigen. Deshalb unterlasse ich es, jetzt Lügenbotschaften zu benennen und zu analysieren. Die gibt es ja in vielen Ländern! Dazu müssten wir uns nach unserem Gottesdienst oder zu einer anderen Gelegenheit in einer Gesprächsrunde zusammensetzen. Ich will jetzt versuchen, die Grundproblematik anzudeuten:

Natürlich müssen wir als Menschen die Gefahren vor uns überwinden und lösen. Aber wir werden dabei in der Diskussion mit anderen Überzeugungen bleiben. Wir werden nicht eine Richtung für alle vorgeben. Sondern wir werden gemeinsame Wege aus den Unsicherheiten und aus den Gefahren suchen. Dabei ist für uns als Christinnen und Christen Inbegriff des Auswegs aus Schwierigkeiten das Gelingen des Lebens, der Lebenshilfe, die Christus schenkt.

Ich sehe zwei Lösungen.

Die erste: Die Schwierigkeiten des Lebens gemeinsam miteinander anzugehen und hoffentlich zu meistern!

Die zweite: Die große Wende, die grundlegende Lösung aller Probleme nur von Christus her zu erwarten, sie also für heute offen zu halten!

Um meinen Gedankengang abzuschließen, möchte ich die Erinnerung an ein Erlebnis vor vielen Jahren und unsere Möglichkeit heute hervorheben:

Die Erinnerung: Von 1982 bis 1985 konnte ich als Pfarrer aus der DDR in der Zentrale des Lutherischen Weltbundes in Genf arbeiten und die Vollversammlung in Budapest, die 1984 war, mit vorbereiten und mit nachbereiten. Im Programm dieser Vollversammlung gab es eine thematische Zuspitzung, die wohl bisher nie wieder bei einer Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes oder des Ökumenischen Rates der Kirchen aufgegriffen worden ist: „Die Kirche und das jüdische Volk“. Das diesbezügliche Referat hatte damals der frühere Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses gehalten – Dr. Gerhard M. Riegner. Er hatte seinen Vortrag mit zwei Segensformulierungen gerahmt. Ich hatte dann bei ihm nachgefragt, wie wir diese Segensformulierungen richtig verstehen. In seinem Antwortbrief, den er am 9. November 1984 verfasst hatte (beachten Sie dieses Datum!) und den ich noch heute habe (!), hatte er diese Segenwünsche auf Hebräisch und auf Englisch notiert. Wir haben dann diese Wünsche im Berichtsband über die Siebente Vollversammlung des Lutherischen Weltbunds dokumentiert. Jetzt sage ich sie uns, weil sie auch uns gelten:

„Baruch ’attāh ’Adonāj ’Älohenu mäläch hācȏlām, šähähijanu weqimānu wehiggicanu

lazzeman hazäh.“

„Gepriesen seist du, o Herr, unser Gott, König der Ewigkeit, der du uns am Leben erhalten hast, uns bewahrt hast, und uns diese Zeit hast erreichen lassen.“

– So zu Beginn seines Vortrags.

cOśäh šālom bimronau, hu’ jacaśśäh šālom calenu wecal kol bo’e colām.“

„Möge der, der Frieden schafft im Himmel, uns und allen Menschen Frieden bringen.“[v]

– So zum Abschluss seines Vortrags.

Nun die besondere Möglichkeit heute: In diesem Gottesdienst wird uns ein ganz praktisches Angebot gegeben: Christus lädt uns, die wir uns heute in diesem Gottesdienst dem Gedenken an die Novemberpogrome aussetzen, zu Seinem Tisch, zur Gemeinschaft des Heiligen Abendmahls ein und gibt uns so die Möglichkeit, als Entlastete, als Erneuerte im eigenen Leben weiterzugehen! Es ist mein Wunsch für uns alle hier, dass wir an diesem Tisch ein Stück weit Heilung erfahren:

„Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, gib uns deinen Frieden.“

Amen

„Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn!“


Dr. Rainer Stahl

[i]  Ich verweise auf: Alexander Bartl, Gudrun Dometeit, Mareike Enghusen, Pierre Heumann, Josef Hufelschulte, Reinhard Keck und Lukas Stock: Wenn aus Hass Krieg wird, FOCUS 42/2023, S. 22-30. Und ich nenne: Benjamin Lassiwe: Schwierige Solidarität, Glaube und Heimat 41, 15.10.2023, S. 14.

[ii]  Pierre Heumann, Josef Hufelschulte und Amit Shabi (Fotos): Die Schicksalsfrage, FOCUS 44/2023, S. 44-47, das Foto der Fotowand auf den S. 44-45.

[iii]  Vgl. BasisBibel, Altes und Neues Testament, Stuttgart 2021.

[iv]   David B. Levenson: Messianische Bewegungen, in: Das Neue Testament jüdisch erklärt, Stuttgart 2021, S. 670-678, bes. S. 673.

[v]  Budapest 1984. „In Christus – Hoffnung für die Welt“, Offizieller Bericht der Siebenten Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes, Budapest, Ungarn, 22. Juli – 5. August 1984, hrg. von Carl H. Mau Jr., LWB-Report, Nr. 19/20, Stuttgart 1985, S. 151 und 155. Jetzt habe ich bei der Dokumentation des hebräischen Originals einiges gegenüber dem, was damals gedruckt werden konnte, verändert.

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