„Die güldene Sonne“ (EG 449)

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„Die güldene Sonne“ (EG 449)

Predigreihe zu Paul Gerhardt / 2007
„Die güldene Sonne“ (EG 449),
Predigt verfasst von Otto Vogel


Liebe Gemeinde,
die Distanz des beginnenden 3. Jahrtausends zur 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts ist recht groß. Und einen renitenten Pfarrer betrachtet ein Dekan auch nicht nur bewundernd. Aber es sind diese Texte und diese Sprache mit ihrer wunderschönen Melodie, die aufmerken lassen! Distanz der Jahre, Renitenz des Berliner Pfarrers Gerhardt hin oder her: ich mag etliche seiner Gedichte, auch wenn sie mit ihren alten Vokabeln und heutigen Unzeitigkeiten einer so fremden Welt zu entstammen scheinen. Ich mag sie, und das, obwohl ich nicht einmal so richtig angeben kann, warum. Also versuche ich, es zu ergründen.
Da sitzt einer 1666 in Berlin und hat mit seinem obersten Dienstherrn massive Probleme. Seit dem Augsburger Religionsfriede 1555 ist der oberste Kirchenaufseher, im deutschen Vielstaatengemisch der jeweilige Landesherr. Mit diesem seinem obersten Dienstherrn – und das ist in seinem Falle Friedrich Wilhelm, auch der Große Kurfürst genannt – liegt er im Streit. Friedrich Wilhelm baut ihm nach Interventionen breiter Schichten einen goldenen Weg zurück ins Predigtamt; den will er nicht beschreiten: er kündigt 1668 und zieht die Arbeitslosigkeit vor. Nicht mal Hartz IV.
Was seine geliebte Frau Anna Maria dazu wohl gesagt hat? Richtig begreifen konnte ihn keiner mehr, nachdem der Große Kurfürst so konziliant war. Aber ihm ging es um Zentrales, für ihn stand sein Glauben auf dem Spiel. Friedrich Wilhelm hatte zum Spannungsausgleich zwischen Reformierten und Lutheranern ein Toleranzedikt erlassen und wollte per Unterschrift alle Pfarrer darauf verpflichten. Paul Gerhardt war seit seiner Schul- und Studienzeit in Sachsen und Wittenberg Lutheraner. Überzeugt. Kompromisslos. Unbeugsam. Keine Unterschrift. Und als sie ihm erlassen wird, wittert er einen faulen Kompromiss dahinter. Das kann er nicht. Bitte um Entlassung. Das Ende vom Lied: er wird die gut dotierte Stelle in Berlin verlassen, ab in den Spreewald ziehen, ins sächsische Lübben für die letzten paar Jahre. Und dabei hatte er Glück, dass er das tun konnte und nicht mittellos da stand. Seine Frau stirbt noch in Berlin im Jahr vor dem Wechsel; als 62jähriger Witwer zieht er dann mit dem 7jährigen verbliebenen Sohn um. Vier Kinder hatte er in seiner kurzen Ehe mit Anna Maria in den zurückliegenden 14 Jahren beerdigen müssen. Nur Paul Friedrich erreichte das Erwachsenenalter.
1666 – zwei Jahre also vor diesem 2. Berliner Abschied schreibt er seine „Güldene Sonne“; eines seiner 139 Lieder. Inmitten der Schwierigkeiten notiert er es, in denen er sitzt. Zunehmend wird er in seiner Haltung unverständlich im Kollegenkreis und bei denen, die sich so vehement für ihn bei Kürfürsten eingesetzt hatten. Der Fürst wollte ihm die Unterschrift ersparen, ihm, dessen „Befiehl du deine Wege…“ der hohe Herr so besonders mochte.
„Die güldene Sonne … ist im Gesangbuch eingeordnet als „MORGENLIED“. Das ist ja in Ordnung. Aber es doch viel mehr als eine Sonnenhymne. Die Sonne ist ihrem Dichter nur glitzerndes Bild, durch das seine Situation, wie er sie empfindet und deutet, hindurchglitzert. Natürlich kennt er, der Bub vom Lande, alle diese Naturerscheinungen im Tages- und Jahrsablauf. Um Gräfenhainichen, seinem Heimatort, gehörten die Wiesen und Fluren in seinen Alltag. Oft genug nutzt er diesen Anschauungsunterricht in seinen Liedern. So ist die strahlende Sonne für ihn zwar auch das Gestirn, das mächtig aufgeht und wärmt in diesem kalten Jahrhundert. Bei den Klimatologen rubriziert es als die „kleine Eiszeit“. Sonnenstrahlen kräftigen bei allen das Wohlbefinden, die von den kalten Monaten und schwachen Wärmedämmungen jener Zeit mehr als genug hatten.
Die güldene Sonne ist aber andererseits auch seit eh und je das Synonym für Christus und Sein Licht und Seine Wärme und Strahlkraft. Die güldene Sonne, voll Freud und Wonne – schon mit den ersten Wörtlein dieses Lieds ist Paul Gerhardt nicht nur am Tagesanfang, sondern im Zentrum seines Glaubens: Christus. ER ist es, der uns hält und trägt und aufrichtet. Aber er sagt es nicht als dogmatischen Lehrsatz. Hier dichtet ein „ICH“, ein Ich, das seine Gefühle wahrnimmt, sie ausspricht; ein Ich, das dabei seine Empfindungen reflektiert und sie mit seinem Glauben in einen Zusammenhang stellt.
Was sind denn die „Grenzen“ und sein „Haupt und Glieder“, die darnieder liegen anderes als seine augenblickliche Verfasstheit? Wer könnte in dem Konflikt, in dem er lebt, nicht auch depressive Stimmungen kennen, die niederdrücken und einen nur mit gesenktem Kopf dastehen lassen? Seine Grenzen gehen ihm sehr wohl auf. Gegen den Großen Kurfürsten kommt er nicht an; vielmehr: er will ihn ja achten. Aber er kann seine Überzeugung nicht verraten. In diesem Konflikt ist sein Scheitern unausweichlich, und das weiß er. Die Grenzen sind ihm schmerzlich bewusst.
In vielen seinen Liedern wird das deutlich: da sitzt einer und nimmt seine Situation sehr klar wahr. Er leugnet sie nicht, und er leidet darunter. In seinem Glauben aber arbeitet er diese Erfahrungen so durch, dass er ähnlich den Psalmisten, die Situation annehmen kann und zuletzt sagt: „…aber nun steh ich, bin munter und fröhlich, schaue den Himmel mit meinem Gesicht.“ Solche Selbstdeutung verträgt kein gesenktes Haupt.
Noch zweimal richtet er seinen Blick in die Natur. In Strophe 2 ist diese Betrachtung Ausgangspunkt, um auf Gottes Schöpfung zu verweisen. Das ist nicht untypisch für seine Zeit. Es sind aber knappe Striche, die er setzt: Die Schöpfung dient zu Gottes Ehre; sie ist Lehrerin für die Menschen und macht den begrenzten Lebensraum deutlich, der sich von Gottes Ewigkeit – Gott sei Dank – erheblich unterscheidet. Das Motiv stellt er einerseits in den Versen 7 + 8 und dann in seiner Schlussstrophe noch viel deutlicher heraus.
Im vierten Vers taucht die Schöpfung als Tagesrhythmus nochmals auf: Abend und Morgen. Aber der Grundrhythmus der Schöpfung ist hier nicht mehr Anlass zum Staunen des Menschen, sondern Anlass zur Sorge Gottes. Nämlich, dass ER tröstlicherweise unaufhörlich auf uns bezogen bleibt. Tag für Tag. Dieses Gefühl der Geborgenheit ist es, was mich wohl am meisten bei Paul Gerhardts Biographie erstaunt hat. Es trägt seine Lieder, ist deren Tenor.
Seit er 11 Jahre alt war, war Krieg in Deutschland, dreißig Jahre lang, also bis er 41 war. Dreißig Jahre lang währt dieses Hauen und Stechen; durch Jugend, Studium und bis in die Lebensmitte hat er es allzu deutlich vor Augen: nichts als Krieg, Zerstörung, Feuersbrunst, Schändung und Plünderung und in deren Gefolge Pest und andere Seuchen, die den Überlebenden dann noch den Rest geben. Sein Bruder stirbt mit 32, da war er 31 und im nahen Wittenberg. Das Heimatstädtchen Gräfenhainichen wurde zerstört; wie in vielen Orten überlebt nur noch ¼ der Bevölkerung. Und keine Spur von verlorenem Urvertrauen! Er dichtet mit dieser seiner Geschichte im Rücken:
„Wenn wir uns legen, so ist ER zugegen. Wenn wir aufstehen, so lässt ER aufgehen über uns Seiner Barmherzigkeit Schein.“ Bei solchen Sätzen wird mir ganz warm ums Herz und ich weiß nicht: schaut der nicht hin oder verdrängt er alles oder: Ist er in so einer festen Glaubensgewissheit, die ihn einfach trägt, gerade in diesen dunklen Stunden, die er aktuell durch macht und die er bereits durchgemacht hat.
„Ist Gott für mich, so trete gleich alles hinter mich“ ist eines der Lieder dieser Predigtreihe. Diese Worte der Zuversicht und der Gewissheit aus dem Lied, das er 12 Jahren zuvor geschrieben hat, scheinen auch hier durch, wenn auch nicht so kämpferisch. Ob er hier 1666 im Fundamentalkonflikt seiner Laufbahn mit sich ganz im Reinen ist? Oder einfach gelassener? Oder doch resignierter? Und gerade darin sich Gottes Barmherzigkeit ganz gewiss?
Im 5. Vers dann drängt sich nochmals sein Kürfürsten-Konflikt durch: Es ist wieder an die Situation des Morgenlieds angeknüpft, verbunden mit der Bitte um Bewahrung. Insofern ist es dem Morgensegen Luthers nachgedichtet. Die Bitte um das Abtreiben der Tücke und um das Bestehen auf den Geboten Gottes ist aber genau sein Anliegen, dem er hier Gehör verschafft: Er bitte Gott darum, dass er seinen Konflikt durchstehen kann mit dem Beharren auf der reinen Lehre. Er will an ihr festhalten, so wie er sie versteht; alles andere wäre ihm ein äußerst tückisches Verhalten. Und dieses Renegatentum wirft er vielen Mitstreitern vor, die sich dem fürstlichen Ansinnen unterwerfen. So nicht! hofft er, bittet er und betet er.
Es ist in der Strophe darauf nicht nur als allgemeine ethische Haltung gemeint, wenn er bittet, dass „geiziges Brennen und unchristliches Rennen nach Gut mit Sünde“ hinausgeworfen werden möge aus seinem Herzen. Auch hier ist es seine Lage, die den Horizont zum Verstehen bietet. Gewiss war es verführerisch, die Pfründe in Berlin zu behalten; er kannte ja andere Zeiten. Zeiten voller Armut und angefüllt mit Mangel. 1651 war er auf seine erste Pfarrstelle in Mittenwalde berufen worden. Das Töchterchen seines Berliner Brotgebers, bei dem er seit 1643 Hauslehrer war, konnte er aber erst vier Jahre nach Amtsantritt heiraten. Im zerstörten Städtchen musste erst eine Bleibe geschaffen werden und die Leute waren arm; der Pfarrer auch. So hatten Braut und Bräutigam lange warten müssen: 48 Jahre zählte er bei dieser Hochzeit, und sie war 32. Was ihm seine Anna Maria in der Frage des Beharrens auf der Überzeugung gesagt hat, ist nicht überliefert. Dass es ein Druck gewesen sein wird, die Familie wieder in die Armut zu stürzen, wenn er das Amt an St. Nikolai aufgeben würde – das darf wohl angenommen werden.
Ach, Paul Gerhardt, was für Dich so richtig geschienen hat, war es das, wenn Du jetzt vom himmlischen Garten drauf schaust?
Die Festigkeit seiner Entscheidung ist aber gewiss auch die Festigkeit seiner Theologie. Im Zentrum seines Liedes steht sie in den Versen 7 und 8. Wie oft in der Barock-Lyrik wird die Vergänglichkeit artikuliert. Paul Gerhardt hält sich aber damit nicht lange auf, sondern setzt sie in den schroffsten Gegensatz: Alles! Alles vergeht.
Elend, Tod, Abschiede ohne Maßen – das sind ja die Lebenserfahrungen seines damals 59jährigen Lebens. (Ich werde inne: Als er die Güldene Sonne dichtet war er so alt, wie ich in diesem Jahr werde.) Aber er bleibt nicht bei einem Lamento über die Vergänglichkeit allen Daseins. Im Gegenteil: Alles vergeht – im Vers 12 wird darin auch eben das Elend eingeschlossen. Alles vergeht. Gott sei es gedankt! Alles. Die Menschen, die Erde und der Himmel und auch das Elend. Alles.
Demgegenüber steht das klare „Aber“: „Gott aber stehet ohn alles Wanken. Sein Wort und Wille hat ewigen Grund.“ Es gibt ihn nicht, den archimedischen Punkt auf dieser Welt, der fest stünde und von dem aus, die Welt aus den Angeln gehoben werden könnte. Nur Gott wankt nicht. Was ER sagt, hat Bestand. Was ER will, bleibt in Geltung. Gott sei Dank! Denn darin ist unser Heil beschlossen, in dem, was Bestand hat ohne Ende, was nie und nimmer zu Schaden kommen wird. Gott sei Dank. Unser Bitten um Gesundung und die Hoffnung auf Genesung hat darin den bleibenden Grund; und die Zuversicht auf Frieden in Ewigkeit bei Gott ist darin verankert.
In den vier letzten Versen hebt Paul Gerhardt zu einem große Gebet an, in dem er seine Gedanken nochmals ganz auf sich bezieht. Da ordnet er sich ein vor Gott. Es sind demütige Worte, die atemberaubend sind. Konsequent richtet er sich an Gott aus; er, der so stark seine Worte als ein Subjekt formuliert, kann sich zurücknehmen auf das Maß, als der er sich vor Gott erkennt und glaubt. Und gerade so kann er stehen lassen, was er nicht ändern kann. Er lamentiert nicht, sondern sieht Gottes Hand in allem, was er erlebt. Und er lebt eigentlich gerne und die Schöpfung ist ihm etwas sehr Wertvolles, das er würdigt und genießen kann.
Jammertal und Lebensort – es gehört beides zusammen. Vielleicht ist das ein Grund für die Wirkung seiner Lieder. Wer machte nicht die Erfahrung von Schwierigkeiten, von Belastungen, die niederdrücken bis auf den Boden, und Erfahrungen von Verlusten, von Ängsten und von leiblichen oder seelischen kargen Zeiten? Hier formuliert einer vor, wie sich damit leben lässt, fern davon, einen Ratgeber zu schreiben. Er redet nur von sich und trifft mit seinen Worten doch so viele andere in ihren Lebenslagen damit. Aber dann können auch seine Selbstinterpretationen Hilfen werden für viele in solchen Lagen, sich zu besinnen und sich zu begreifen. Sie können beitragen, eigene Widrigkeiten im Leben zu überwinden, und Quelle werden, aus denen neue Hoffnung und Zuversicht fließen. „Willst Du mir geben, womit mein Leben ich kann ernähren…“, „Willst Du mich kränken … Wohlan! so mach es, wie Dir es beliebt.“ So oder so – für Paul Gerhardt sind seine Wege allezeit eingezeichnet in Gottes Hand, und daraus will er sein Leben annehmen. „Ich habe gestellet alles in Deine Beliebung und Hand.“
Wie man das kann, nach alledem, was er erlebt hat? Ich weiß es nicht. Es fällt mir nur das Pauluswort ein, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist. Aber das gilt ja nicht nur für unseren Liederdichter. Es gilt für uns alle. Im Schlussvers kommt Paul Gerhardt nochmals auf sein Eingangsmotiv der Sonne zurück. Über den weiten Weg seines Gedichts hat es keine Rolle mehr gespielt. Aber Christus ist der tragende Grund seiner Gedanken. So wie er IHN zu Beginn einführt als den Bezwinger aller Niedergeschlagenheit und Selbstzweifel, so ist ER der Horizont der Zukunft, in dem alles Leid und Elend ein Ende haben wird.
Wie es einem Landkind entspricht, ist es nicht das neue Jerusalem, die himmlische Stadt, die da vor seinem Auge steht. Er sieht vielmehr den befriedeten Bauerngarten hinterm Haus vor sich, voller Freude und seliger Stille, also: das Refugium ohne Hauen und Stechen und brandschatzen und Folterschreie. Auf diesen Horizont hin lebt er. Von ihm her gewinnt er die Kraft zu einer Daseinsbewältigung, die nicht freudlos ist, aber voller glaubender und kraftvoller Zuversicht. „Dahin sind meine Gedanken gericht.“ Er flüchtet nicht ins Jenseits und nicht in die Innerlichkeit. Er bleibt in seiner Welt und auf dieser Erde, mit beiden Beinen. Aber die Perspektive ist sein Kraftquell, inmitten aller Einschränkungen das Leben zu führen, wovon er seinem einzig überlebenden Sohn, Paul Friedrich, im Testament sagt:
„Summa Bete fleißig, studiere was Ehrliches, lebe friedlich und diene redlich und bleibe in deinem Glauben und Bekenntnis beständig, so wirst Du einmal auch sterben und von dieser Welt scheiden: willig, fröhlich und seliglich.“
Ich gestehe, den Grundton solcher Ergebenheit ist mir bisher eher fremd. Aber ich beginne zu verstehen und hoffe von meinem Gleichaltrigen gelernt zu haben und nochmals ganz neu nachzudenken. Und werde nachher fröhlich und bewegt und hoffentlich auch zuversichtlich singen:
„Kreuz und Elende, die nehmen ein Ende. Nach Meeresbrausen und Windessausen leuchtet der Sonnen gewünschtes Gesicht.“ Amen


Otto Vogel

Dekan
Karlsruhe
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