Wir sind bedürftig!

Home / Bibel / Altes Testament / 23) Jesaja / Isaiah / Wir sind bedürftig!
Wir sind bedürftig!

14. Februar 2021, Estomihi | Jesaja 58, 1 – 8a | von Ulrich Pohl |

Am kommenden Mittwoch beginnt die Fastenzeit. Und der Bibelabschnitt für den heutigen Sonntag stimmt uns auf diese sieben Wochen ein. Er sagt uns, wie wir das richtig machen sollen, fasten. Das Lied 420 aus unserem Evangelischen Gesangbuch fasst das, was Jesaja uns dazu sagt, in fünf Zeilen zusammen: „Brich mit den Hungrigen dein Brot, sprich mit den Sprachlosen ein Wort, sing mit den Traurigen ein Lied, teil mit den Einsamen dein Haus. Such mit den Fertigen ein Ziel.“ Wir sollen uns nicht auf das konzentrieren, was wir besitzen oder anhäufen können. Sondern darauf, wo andere uns brauchen. Wenn wir das tun, bekommen wir wieder ein Gespür dafür, das, was uns umgibt ist ein Geschenk, ist nicht selbstverständlich. Es ist wertvoll und kostbar.

So war es bisher, so haben wir die Fastenzeit immer verstanden.

In diesem Jahr ist es anders. In diesem Jahr haben wir nicht nur „Sieben Wochen Ohne“ vor uns. Sondern eine bald zwölfmonatige Zeit der Entbehrung hinter uns. Wir haben Dinge entbehren müssen, die wir uns bis dahin nicht haben vorstellen können.

Vor allem haben wir die Nähe zu den Menschen entbehrt, mit denen unser Leben eng verbunden ist. Unsere Eltern, unsere Geschwister, unsere Kinder, unsere Freunde, wir begegnen ihnen so gut wie gar nicht mehr. Die wenigen Telefonate oder Gespräche am Bildschirm, die kurzweiligen Nachrichten per WhatsApp oder Instagram sind kein Ersatz. Wir sehnen uns danach, sie sollen leibhaftig zugegen sein. Wir vermissen es, zusammenzusitzen und zu lachen. Wir vermissen es, einander zu umarmen. Mit einem Wort, uns fehlt Liebe, praktisch gelebte und körperlich gespürte Liebe. Denn dabei fühlen wir uns selbst. Wir spüren, wer wir sind, weil wir für die Menschen, die wir lieben, eben die sind, die wir sind. Was sind wir ohne sie?

Und auf Freiheit haben wir verzichtet. Nein, nicht nur auf Freiheiten, sondern auf Freiheit. Mehr als eine Generation lang war es für uns alle selbstverständlich, für manche ein Leben lang: Wir dürfen hingehen, wo wir wollen. Wir dürfen reisen. Das Recht auf Freizügigkeit nennt unser Grundgesetz das, und es steht dort sehr weit oben. Und nun? Monatelang hat man uns dringend geraten, in unseren Wohnungen zu bleiben. Kinder blieben eine Zeit lang ganz eingeschlossen. Es ist verboten, Besucher von auswärts zu beherbergen. Erholungsgebiete werden gesperrt. Natürlich, das alles geschieht mit guten Gründen. Trotzdem: Wir entbehren es. Ehepaare merken es daran, sie müssen die feine Balance aus Nähe und Distanz neu justieren. Familien merken es daran, der Druck wächst, der Druck der Eltern auf die Kinder und der Druck der Kinder auf die Eltern. Eigentlich müssten wir alle einmal raus. Aber wir können nicht. Wir möchten uns bewegen, wie wir wollen. Aber wir dürfen nicht. Die Freiheit, sie fehlt uns.

Was uns noch mehr fehlt: Das Gefühl, Herr über das eigene Leben zu sein, Selbstbestimmung. Je länger die Pandemie anhält, desto stärker breitet sich ein Ohnmachtsgefühl aus. Zunehmend werden wir gewahr: Das, was wir zum Leben brauchen, bekommen wir nicht mehr. Aber wir können auch nicht selbst dafür sorgen! Am schlimmsten fühlt es sich an, wenn man an den Impfstoff denkt. Stets war das der Hoffnungsschimmer: Wir halten dieses Jahr der Einschränkungen durch, und dann wird man uns impfen, so schnell es geht. Es ist ein Notstand, und man wird alle Anstrengungen unternehmen, um der Katastrophe Herr zu werden. Nun sehen wir, wie sich das, worauf wir uns verlassen haben, zwischen den Fingern zerrinnt. Wir fühlen uns betrogen, umso mehr, als der Impfstoff in unserem Land entwickelt worden ist. Jetzt bleibt uns nur noch übrig, den Schuldzuweisungen derer zuzuhören, die die Sache vermasselt haben. Wir fühlen uns ohnmächtig, und dieses Gefühl macht uns traurig. Manche macht es auch wütend. Es wächst viel Unfrieden daraus.

Liebe, Freiheit, Selbstbestimmtheit. Und natürlich die oft genannten Werte Friede, Gerechtigkeit, Verlässlichkeit: Es ist eine Zeit der Entbehrungen, die wir hinter uns haben, seit fast 12 Monaten schon. Und anders als bei den Fastenprojekten Sieben-Wochen-Ohne, die wir bisher kannten, hatten wir diesmal nicht die Wahl, worauf wir denn verzichten wollten. Wir konnten es uns nicht aussuchen. Wir waren gezwungen und wir sind gezwungen, Lebensnotwendiges zu entbehren.

Wozu soll da jetzt zu allem Überfluss noch die Fastenzeit gut sein?

Einen kleinen Rest Antwort auf diese Frage bewahrt der Bibelabschnitt des Propheten Jesaja auf. Wir sollen Gott suchen und täglich nach seinen Wegen fragen.

Das haben wir lange nicht mehr gemacht. Besser gesagt: Wir könnten es wieder einmal intensiver tun. Die übrigen Vorschläge des Propheten haben wir ja durchaus beherzigt, Bedürftige gespeist, unser Brot mit den Hungernden geteilt, die auf der Flucht waren, in unser Haus aufgenommen. Schon lange haben wir in unserer Gesellschaft davon sehr vieles befolgt. Es hat uns ein gutes Gefühl gegeben, von ganzem Herzen mit denen teilen zu können, die uns brauchen. Vielleicht hat es uns auch ein wenig mit Stolz erfüllt, so selbstlos für andere da sein zu können. Nun ruft uns die Fastenzeit dazu auf, etwas von diesen

Stolz loszulassen. Sie ruft uns dazu auf, zu erkennen und anzuerkennen: Wir sind selbst bedürftig. Das ist unangenehm, und es stößt auf Widerstand, denn das hohe Selbstbild, das wir von uns hatten, gerät ins Wanken. Aber es ist so: Vieles, was wir zum Leben unverzichtbar brauchen, haben wir im Moment nicht, bekommen wir im Moment nicht. Über vieles von dem, was in den vergangenen 12 Monaten an uns und mit uns geschehen ist, hatten wir keine Verfügungsgewalt. Was das in uns auslöst, ist kaum noch anders als spirituell zu verarbeiten.

Was ich sagen will: Fasten in diesem Jahr heißt, wir sollen anerkennen, wir sind bedürftig. Und wir sollen erkennen, wie bedürftig wir sind. Jaja, das Geld fließt noch, wenigstens das, und viele von uns entdecken im Moment noch einen vielversprechenden Saldo auf dem Konto. Aber täuschen wir uns nicht, das sind Zahlen, das ist welkes Laub, nicht mehr. Wir halten nichts in Händen. Wir sind Bettler. Und so sollen wir vor Gott treten.

So sollen wir vor Gott treten, in den sieben Wochen, die nun vor uns liegen. Wir sollen täglich zu ihm kommen, ihm zeigen, wie es um unser Herz bestellt ist und um unsere Seele. Wir sollen ihn täglich suchen und ernsthaft danach fragen, was seine Wege sind. Und wir sollen nicht zu stolz sein, ihn zu bitten, er möge und das schenken, was wir zum Leben brauchen. Denn wir sind Bettler. Das ist wahr.

Vielleicht kommt auf diese Weise der Friede Gottes zu uns zurück. Der ist höher als alle Vernunft und bewahre unsere Herzen und Sinne.

Pfarrer Ulrich Pohl, geb. 1961, Gemeindepfarrer, Autor, Mediator, Gefängnisseelsorger, 2010 – 2014 Sprecher beim Wort zum Sonntag in der ARD, seit 2014 Pfarrer im Projekt Pastoraler Dienst im Übergang der evangelischen Kirche im Rheinland.

de_DEDeutsch