Die Heilung eines Blindgeborenen

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Die Heilung eines Blindgeborenen

Predigt am 2.8.2020 – 8. Sonntag nach Trinitatis | Predigt über Johannes 9,1-7 | verfasst von Dr. Hansjörg Biener |

 

„Die Heilung eines Blindgeborenen“ – der heutige Predigttext hat es in sich. Es geht nicht nur um ein unglaubliches Wunder. Es geht auch um unsere Hilflosigkeit vor solchen Schicksalen. Nicht zuletzt berühren Heilungsgeschichten ja auch unsere eigene Angst vor Blindheit und Behinderung. [Hinweis: Der Autor dieser Predigt ist selber von Kindheit an im Sehen eingeschränkt.]

 

Die Heilung eines Blindgeborenen (Joh. 9,1-7)

1 Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. 2 Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? 3 Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. 4 Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. 5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. 6 Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden 7 und sprach zu ihm: Geh zu dem Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.

 

Vorschau

 

Diese biblische Geschichte lässt uns zunächst spüren, was wir können und was nicht. Darum möchte ich mit Ihnen erst einmal für den medizinischen Fortschritt dankbar sein. Dann werden wir verstehen, welch ein Schock die Geburt eines Blindgeborenen war und welch ein Wunder hier aus damaliger Sicht erzählt wird. Wir werden hören, wie beide Ereignisse nach Deutung schreien. Und vielleicht werden wir dann besser hören können, welch andere Reaktion auf Leid Jesus von uns will: Nicht Ursachenforschung oder Schuldzuweisung, sondern Zuwendung mit Blick auf die Zukunft.

 

„Kugelrund und sorgenvoll“

 

Lassen Sie uns zunächst auf eine schwangere Frau in Deutschland schauen. Bei der ersten Vorsorgeuntersuchung wird ein Mutterpass ausgestellt (https://www.familienplanung.de/index.php?id=299). In ihm werden die Ergebnisse aller Untersuchungen und Behandlungen eingetragen. Hier kann eine Schwangere selber sehen, welche Untersuchungen staatlich vorgesehen sind und welche nicht. Im dritten Monat könnte sie ein Ultraschallbild herumzeigen. Insgesamt drei Ultraschall-Untersuchungen gehören zur Routine: Im dritten, sechsten und achten Monat.

 

Nicht zur Routine gehören weitere Verfahren der Pränataldiagnostik. Diese neueren vorgeburtlichen Untersuchungen sind nicht ganz risikofrei, manchmal aber doch angeraten. Nicht immer tragen sie zur Beruhigung bei. Nehmen wir nur den Fall, dass eine Behinderung zu vermuten ist. Dann stehen Überlegungen an, die Nerven und Nächte kosten. Und vor allem: Es muss entschieden werden. Das Gute: In Deutschland haben wir zahlreiche Beratungsstellen. Sie sollen betroffenen Frauen und Paaren zur Seite stehen, auch wenn die Entscheidungen im stillen Kämmerlein fallen.

 

Trotz aller Unwägbarkeiten des Lebens erwarten wir in Deutschland, dass medizinisches Handeln gelingt. Vor einigen Wochen habe ich mir im Blick auf diese Predigt einen Artikel aus meiner Tageszeitung aufgehoben. Er war mir wegen folgender Frage und Antwort eines Mediziners auf der Geburtsstation aufgefallen: „[Frage] Sie praktizieren Hochleistungsmedizin. Muss dann auch das Kind perfekt sein, dass da geboren wird? Darf da aus Elternsicht überhaupt noch etwas schiefgehen? [Antwort] Die Sicht, dass das nicht sein darf, hat etwas zugenommen. Eltern haben sich perfekt vorbereitet, akribisch Vorsorge gemacht und fragen bei Komplikationen manchmal: Wer ist daran schuld? Wer hat etwas falsch gemacht? Wir haben durch das Internet viel Halb- oder sogar gefährliches Nicht-Wissen, das Eltern verunsichert. Leider erleben wir auch eine Abwertung von Experten, mehr als früher.“ [Manchmal weint auch der Arzt, in: Nürnberger Nachrichten 20. Juni 2020, S. 12.]

 

Und berührt hat mich die Überschrift des Artikels: „Manchmal weint auch der Arzt.“

 

Deutungen

 

„Kugelrund und sorgenvoll“, so hat meine Tageszeitung in einem anderen Artikel das Befinden von Schwangeren beschrieben. [Kugelrund und sorgenvoll, in: Nürnberger Nachrichten 4. Juni 2020, S. 22.] In Deutschland wohlgemerkt. Denken wir uns nun alles weg, was in Deutschland für eine Schwangere getan werden kann. Gehen wir in die biblische Vergangenheit, die in vielen Ländern der Welt noch Gegenwart ist. Schwangerschaft: Überstanden. Geburt: Überlebt. Ja, es ist ein Junge. Aber bald zeigt sich: Er sieht nichts. Sofort steht das weitere Schicksal vor Augen. Wie für uns heute kann Unglück auch für die Menschen der Jesus-Zeit nicht einfach Zufall sein. Im Bibeltext wird eine von vielen möglichen Deutungen genannt: Blindheit sei eine Strafe Gottes. „Seine Jünger fragten ihn und sprachen: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“ (Joh. 9,2)

 

Ich drehe die Antwortmöglichkeiten um. Zuerst also die Eltern. In der Jesus-Zeit dachte man nicht so individualistisch wie wir. Darum hieß es auch bei Sünden: Mitgehangen – mitgefangen. Auch wir heutigen finden durchaus solche Antworten auf die Behinderung eines Babys. Alkohol und Drogen in der Schwangerschaft. Inzest. An denen ist das Kind ja auch nicht schuld und muss trotzdem die Folgen tragen.

Die andere Idee der Jünger ist schwerer nachzuvollziehen: Kann ein Kind schon vor der Geburt Gott erzürnen? Könnte man das etwa aus Psalm 58,4 herauslesen? „Die Frevler sind abtrünnig vom Mutterschoß an, die Lügner gehen irre von Mutterleib an.“ Die wissenschaftlichen Bibelausleger sind sich nicht einig. Manche sagen: Ja, es gab die Vorstellung, dass ein Kind schon im (!) Mutterleib sündigen konnte. Andere sagen: Nein, diese Vorstellung gab es, jedenfalls zur Jesus-Zeit, nicht. Doch hätte die Vorstellung eine gewisse Plausibilität. Jede Schwangere, die die Bewegungen eines Fötus spürt, wird ein gewisses Eigenleben unterstellen. Und wenn wir unterstellen, dass ein Kind schon im Mutterleib spüren kann, ob es willkommen ist oder nicht; wer weiß, ob es nicht umgekehrt einen frühen Bezug des Kindes zum Leben-sollen gibt.

 

Eine Antwort jedenfalls ist definitiv unmöglich. Manche nehmen Johannes 9 als Beleg für die Reinkarnation, eine Vorstellung aus Hinduismus und Buddhismus. Ihr Modell klingt zunächst ganz schlüssig. Sie behaupten: Eine Seele habe ein schwereres Schicksal bekommen oder gewählt, um schlechtes Karma aus einem früheren Leben abzuarbeiten. Und dann zeigen sie auf diese Bibelstelle und sagen, die Reinkarnation sei schon in der Bibel zu finden. Nur hätte die Kirche den Gedanken unterdrückt. Die Idee eines Kreislaufes der Geburten passt aber nicht mit dem Monotheismus des Judentums zusammen. Gott ist der Schöpfer und der einzige Ewige. Alles andere hat einen Anfang und ein Ende; alles andere ist nicht ewig.

 

Für Umstehende kann es etwas Entlastendes haben, Gründe zu finden, Schuld zuweisen zu können. Den direkt Betroffenen hilft es natürlich nicht. Jesus hat in unserem Predigttext noch eine andere Antwort: „Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.“ (Joh. 9,3)

 

Wunder

 

Und Jesus machte eine Heilpaste, und es wurde gut. (Joh. 9,6-7) So einfach steht das im Johannes-Evangelium. Aber so einfach ist es für uns nicht, weil wir naturwissenschaftlich geprägt sind. Wir sehen in Wundern nicht das Wunderbare, sondern zuerst die Durchbrechung der Naturgesetze.

 

Glücklicherweise gibt es wissenschaftliche Experten für die Erforschung der Bibel. Nach ihrer Auskunft kann als sicher gelten, dass Jesus Heilungswunder getan hat. Wunder aus der Perspektive seiner Zeitgenossen wohlgemerkt. Laut wissenschaftlicher Auskunft hat der Evangelist Johannes die Heilung eines Blindgeborenen in einer Sammlung von sieben besonders großen Wundern vorgefunden. Für ihn waren die Wunder Jesu kein Problem. Auch von Kaisern und Königen seiner Zeit erwartete man Wunder bzw. erzählte man Wundergeschichten. Es hätte die Zeitgenossen gewundert, wenn die Christen nichts Wunderbares von ihrem Jesus erzählt hätten. Zugleich wusste der Evangelist, dass Wunder nicht einfach von sich aus die Bedeutung Jesu erkennbar machen. Sie waren Zeichen, die im Besonderen das wirklich Wichtige durchscheinen lassen, wie wenn der Blinde „zu dem Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt“ gehen und sich waschen soll. (Joh. 9,7) Da erkennt der Gläubige den Gesandten Gottes am Werk, den Messias, den Christus. Andere erkennen das nicht. Sie sind blind für das Heil, das sich ereignet hat. Das kann man sehr gut an der Fortsetzung unseres Predigttextes im ganzen Kapitel Johannes 9 sehen. Was sind also die Wunderüberlieferungen der Bibel wert? Zeichen? Ja! Beweise? Eher nicht!

 

Kehren wir zum Wunderbaren der Jetzt-Zeit zurück. Es ist schon angesprochen worden: Für uns sind die Fähigkeiten der Ärzte so selbstverständlich, dass Prozesse über Kunstfehler geführt werden, wenn die Behandlung nicht funktioniert. Während wir im Westen die medizinische Kunst eher entzaubern, erscheint sie in anderen Ländern immer noch wunderbar. Manche Ärzte und Ärztinnen, Krankenschwestern und Pfleger erkennen ihre Profession auch als Aufgabe an der Dritten Welt. Sie spenden einen Teil ihres Einkommens und Urlaubs, um im Ausland zu helfen. Und so bringen sie in den armen Ecken der Welt Dinge in Ordnung, die bei uns selbstverständlich sind, in diesen Ländern aber nicht.

 

Manchmal werden auch Blinde wieder sehend, – weil das eben in bestimmten Fällen mit medizinischem Wissen möglich ist. Nur ein geringerer Teil der Blindheit ist angeboren oder genetisch vorprogrammiert. Grauer Star, Grüner Star, Augenentzündungen bedrohen erst im Laufe des Lebens das Sehen. Die Hälfte der 40 Mio. Blinden weltweit leidet unter einer Eintrübung der Augenlinse, die operativ relativ leicht und preiswert zu beheben ist. Für diese Blinden können „Wunder“ geschehen. Für andere nicht. Immer wieder muss so ein tapferes Ärzteteam einer hoffnungsvollen Person und Familie sagen: Nein, da können auch wir nichts tun. Und bitter ist es, wenn man dazu setzen müsste: Wir können jetzt nichts mehr tun.

 

Änderung der Perspektive

 

Und da kommt noch einmal der Satz Jesu zum Tragen: „Es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.“ (Joh. 9,3) Jesus wendet unseren Blick weg von der Ursachenforschung, hin zu dem, was man tun kann. Und das gilt auch dann noch, wenn man medizinisch nichts mehr tun kann oder das ehrenamtliche Medizinteam wieder abgereist ist. Hier sind dauerhafte Einrichtungen nötig, die Blinden neue Perspektiven eröffnen. Schulen und Berufsausbildungen für Kinder und Jugendliche, Werkstätten für ältere. Auch wenn sie nicht überall helfen kann, ist dies ein traditionelles Arbeitsfeld der christlichen Blindenmission. Ich möchte zwei Werke nennen, die Hildesheimer Blindenmission und die Christoffel-Blindenmission. Die eine ist älter, die andere bekannter.

 

Zunächst die ältere von beiden. Die Hildesheimer Blindenmission wurde 1890 von Luise Cooper begründet. Sie war mit der Berliner Mission in Hongkong gewesen, musste aber nach zwei Jahren aus Krankheitsgründen nach Deutschland zurück. Das Schicksal der blinden Mädchen, die sie in Hongkong gesehen hatte, ließ sie nicht los. Ich zitiere aus der Darstellung im Internet: „Nach dem volkstümlichen buddhistischen Verständnis Chinas richtet sich die Qualität des gegenwärtigen Lebens nach der mehr oder weniger großen Schuld des Vorlebens. Man glaubte an die ständige Wiedergeburt. Als Mädchen geboren zu werden, galt als Strafe für böse Taten im Vorleben – waren sie dann auch noch blind oder behindert, so deutete das auf eine weitere, noch größere Schuld hin. Das Schicksal blinder Mädchen war es, verachtet und verstoßen oder vor den Türen buddhistischer Tempel abgelegt zu werden. […] Als Christin konnte sie an diesem Leid nicht einfach vorübergehen, ohne etwas zu tun. Sie war der Überzeugung, Gott habe sie berufen, diesen Kindern zu helfen. Gewiss würde er ihre Arbeit segnen, wenn sie nur anfinge. Und so begann sie zu schreiben, hielt Vorträge und gründete den Hildesheimer Missionshilfeverein.“ Fünf Jahre später war genug Geld zusammen, um jemanden nach Hongkong zu schicken. Die Johanniterschwester Martha Postler war dazu bereit. 1896 wurde sie in Hildesheim ausgesandt. Wenige Monate später zeigten ihre Briefe, dass sie sich in Hongkong eingelebt hatte und ihre Arbeit von der Bevölkerung angenommen wurde. Die Briefe zeigen Martha Postler als Frau mit Tatkraft, Mut und Verstand.

 

Die Hildesheimer Blindenmission ist immer noch in Ost- und Südostasien tätig, mit Schulen, Projekten und Bildungseinrichtungen für blinde Kinder und Jugendliche. Die Christoffel-Blindenmission ist sicher bekannter. Sie wirbt aktiver um Spenden und ist auch in viel mehr Ländern aktiv. Die Christoffel-Blindenmission ist heute eine der zehn größten Hilfsorganisationen in Deutschland.

 

Ernst Jakob Christoffel war 1904 nach seiner theologischen Ausbildung in den Orient gegangen. Im Nordosten der Türkei übernahm er mit seiner Schwester Hedwig die Leitung zweier Waisenhäuser. Dabei fiel ihm das Elend der Blinden auf. Christoffel beschrieb es so: „Die materielle, moralische und religiöse Lage der Blinden ist furchtbar. Der größte Prozentsatz bettelt. Blinde Mädchen und Frauen verfallen vielfach der Prostitution.“ Christoffel und seine Schwester beschlossen 1906, sich ganz in den Dienst dieser Behinderten zu stellen. Die Anfänge waren schwierig. Der Erste Weltkrieg, der Völkermord an den Armeniern, der Zerfall des Osmanischen Reichs bzw. die Gründung der Türkei taten ihr weiteres. Als Christoffel nicht mehr in der Türkei arbeiten konnte, ging er nach Persien, in den heutigen Iran. Hier kam der Zweite Weltkrieg dazwischen. In der Nachkriegszeit war Christoffel einige Jahre in Deutschland, wo er ein Heim für Kriegsblinde einrichtete. Seine Mission lag aber im Nahen Osten. 1951 ging er wieder nach Persien, wo er 1955 starb. Seine Schule für blinde und andere schwerstbehinderte Männer wurde 1979 nach der islamischen Revolution von den Behörden geschlossen.

 

Schlussgedanke

 

Ich komme zum Schluss. „Die Heilung eines Blindgeborenen“ rührt an unserer Angst vor Blindheit und Behinderung, aber auch an unserer Hilflosigkeit, wenn es andere getroffen hat. Aber wie immer auch die Ursachen für fremdes Leid sind. Wir sollten als Christen eine besondere Perspektive auf das Unglück anderer Menschen einnehmen. Nicht die Distanzierung mithilfe von Erklärungen und Schuldzuweisungen. Jesus sucht Menschen mit offenen Augen und offenen Herzen, mit Tatkraft und Zuversicht, die im Blick auf die Zukunft dieser Menschen das christliche Zeugnis sehen. „Die Werke Gottes sollen offenbar werden“.

 

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Dr. Hansjörg Biener (*1961) ist Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und derzeit als Religionslehrer am Melanchthon-Gymnasium Nürnberg tätig. Außerdem ist er außerplanmäßiger Professor für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

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