Er lernt, seinen Augen zu trauen

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Er lernt, seinen Augen zu trauen

Predigt über Johannes 9, 1-7 am 8. Sonntag nach Trinitatis 26.7.2020 | verfasst von Manfred Mielke |

 

Liebe Gemeinde,

 

Der Evangelist Johannes berichtet von einer Blindenheilung durch Jesus so, als wäre er dabei gewesen. Jahrzehnte später schreibt er auf: Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Eine Zwischenfrage der Jünger erwiderte er mit dem Hinweis: Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. Daraufhin spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. Dann sagte er zu ihm: Geh zum Teich Siloah und wasche dich! Da ging der Blinde los und wusch sich und kam sehend wieder. (Johannes 9,1–7 gekürzt)

 

Liebe Gemeinde,

mich interessiert, als gedankliches Experiment, neben dem Blinden mitzugehen. Vom Anfang der Episode bis zum Schluss. Vom Entdecktwerden bis zum Entdeckenlernen. Meine Aufmerksamkeit ruht darauf, wie Jesus den Brei anrührt und auf die Augen streicht, wie der Blinde geht, sich wäscht und sehend wird. Selbst wenn ich die Episode nur kurz nacherzähle, spüre ich, wie sie mich in den Bann zieht, auch jetzt. Dennoch bemerke ich die Unterbrechung und auch das Drumherum der Heilung. Die Unterbrechung entsteht durch die Frage der Jünger zur Familiengeschichte, zum Drumherum gehören die Anfeindungen der Person Jesu.

 

Zu Beginn ist es doch ernüchternd, dass die Jünger nicht auf Heilung drängen, sondern nach der Ursachenschuld fragen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus aber wickelt ihre Frage ein, wie man Kartoffelschalen in Altpapier einwickelt. Anstelle dessen lenkt er ihre Sicht auf sich selbst als handlungsfähige Person. Zumal als Licht der Welt, bevollmächtigt, jedwede Finsternis aufzuhellen.

 

Zwischen der Wahrnehmung des Blinden und der Anfertigung der Paste hat der Evangelist Johannes die Klarstellung Jesu so gehört: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. – Was macht Jesus in seiner Erwiderung? Er kehrt ihre rückwärtsgewandte Schuldfrage hin zur nun beginnenden Zukunft. Er blendet die Eltern des Blinden aus und bezieht dafür seinen himmlischen Vater mit ein. Er öffnet einen Verantwortungskorridor hin zu den Werken Gottes und dem eigenen Tun. Und er wagt, „Ich“ zu sagen. „Ich, Jesus, bin das Licht der Welt“ – mit aller Effizienz und Energie. Damit verwehrt er den Jüngern ihr Rollenspiel als Staatsanwälte. Vielmehr schiebt er sich als Anwalt des Lebens nach vorne. Das ist zielführend. Aber bewirkt er auch etwas damit?

 

Liebe Gemeinde,

mich fasziniert weiterhin das Geschehen zwischen den Beiden. Der Blinde, der mit präzisem Gehör alles Störende überhört, und Jesus, der mit präzisem Blick seine ganze Biographie erfasst. So begegnen sich die Zwei. Jesus kniet stumm vor ihm nieder und ist mit irgendwas beschäftigt, dann erhebt er sich und bestreicht dessen Augen mit einer Paste. Zuletzt befiehlt er ihm auf Augenhöhe: „Geh und wasch dich!“ Umgehend setzt der Blinde die Befehle Jesu um; er geht los, wird sehend und kommt zurück.

 

Das hält mein Glaubensinteresse wach. Vom Zwischenstreit speichere ich ab, dass Jesus wieder die Initiative ergreift. Und auch der Intrigenstreit gehört dazu, der dann folgt: Wie die Heilung angezweifelt wird; wie der Ex-Blinde abgewertet wird und wie dessen Eltern verhört werden; wie dabei die Pharisäer die Strippen ziehen, damit sie bald Jesus steinigen können. „Sie“ sind bei Johannes „die Juden“, und in dieser Verallgemeinerung wird er ihnen feindselig. Johannes hat wohl angesichts vieler Konflikte in seiner Generation nach einer alten Hoffnung gesucht. Den Plan der Pharisäer, Jesus wegen Gotteslästerung zu töten, hört er als hoffentlich „letzten Aufschrei einer sterbenden Religionsdiktatur.“ (1) Doch bis heute hat sich die Hoffnung nicht erfüllt, dass der religiöse Rigorismus abstirbt. Andere Bibel-Schreiber haben es besser verstanden, Juden und Christen auf einem gemeinsamen Weg darzustellen. Auf dem Weg, der uns gemeinsam zum Ziel führt.

 

Liebe Gemeinde,

ich kehre zurück zu den Einzelszenen und den Zutaten der Binnen-Geschichte. Zum Speichel und Staub, zum Gang des Blinden zum Teich, zu seinem Waschvorgang und seiner Heilung, und zu seiner Rückkehr bis hin zu seiner Familie.

 

Die meisten Erblindungen in der Antike entstanden durch aufgewirbelten Schmutz. Dass Jesus den Straßenstaub benutzt, wirkt auf mich wie eine Konversion dessen, auch wenn er daraus keine „Heilerde“ macht. Er formt keinen Kloß und bläst ihn auch nicht an, wie die Formatvorlage aus der Schöpfungsgeschichte anbietet. Er benutzt normalen Staub, den er mit einer Handbewegung zusammenwischt. Und das mit dem Speichel? Der besteht aus viel Wasser und wenig Luft, auch wenn heute die Aerosole alles zu dominieren scheinen. Aber Jesus „spützt“ nur einen Tropfen, um die Paste anzurühren. Er streicht nicht seinen Speichel wie ein Guru auf die Augäpfel seiner blinden Gefolgschaft. Nein, Speichel und Staub sagen sich: „Gemeinsam schaffen wir das“ – ohne Pathos, ohne Zauberformel, ohne Zusatzstoffe.

 

Als der Blinde den Auftrag des feuchten Breis zulässt, denken Einige: „Blinder geht’s wohl nicht mehr!“ Liegt denn Jesus falsch mit seiner alternativen Therapie, die die Ursache weiter verfestigt? Der Blinde litt doch schon unter der Erbsünde-Vermutung, gibt ihn Jesus jetzt der Lächerlichkeit preis? Wie in den Menschenschauen in den deutschen Zoos zu Kaiserzeiten?

 

Der Blinde steht wie in einer Arena. Er spürt die Blicke von allen Seiten. Die Sonne brennt, der Lehm wird unangenehm. Wie kann er ihn loswerden? – Nelson Mandela erzählt, wie er als 16jähriger Junge bei seiner Beschneidung komplett mit weißer Farbe bestrichen wurde. Erst nach Tagen durfte er – und die anderen – in einem riesigen Badespektakel seine Lehmkruste abwaschen. Als symbolischen Abschluss seiner Pubertät. (2)

 

Nach der sensiblen Berührung ihrer Fingerspitzen und Augenlider ahnen Jesus und der Blinde noch nicht, wie ihr gemeinsames Ritual weitergeht. Da schickt ihn Jesus weg mit dem Befehl: Geh dich waschen im Teich Siloah. Daraufhin wagt der Blinde einen ersten Schritt. Diese erste Bewegung fasziniert mich. In seinem Losgehen beginnt seine Heilung. Jesus hatte ihm einen Impuls gegeben, aus dem er einen Anfang zuließ. Zu einem Mut-Glauben für die letzten Meter in der Blindheit. Zu einem Erstarkungs-Glauben, der ihn als bisheriges Objekt aktiv werden ließ. Zu einem Gewißheits-Glauben, dass beide Blindheiten – die angeborene und die aufgepappte – aufhören werden. Diese Glaubenskräfte sind für ihn zielführend. Werden sie auch etwas bewirken?

 

Liebe Gemeinde,

das innerstädtische Wasserbecken Siloah hat eine externe Quelle, deren Wasser durch einen 500 m langen Tunnel zugeleitet wird. Alle kannten den Herweg des quellfrischen Wassers. Und nun kommt der stadtbekannte Blinde daher, sicher schreitend wie durch einen Tunnel. Er ist ein an sich gesunder Mann, der eine partielle, wenn auch sehr hinderliche Beeinträchtigung hat. Vor aller Augen schöpft er mit der Hand Wasser in sein Gesicht und wäscht vorsichtig seine Augenpartie frei. Aus seiner Vorsicht wird Klarsicht, dreidimensionale Weitsicht, Farbenunterscheidung. Er blinzelt in die Sonne, die ihm zulacht. Er lernt, seinen Augen zu trauen. Er staunt, dass Gewürze farbig sind. Er staunt über seinen Schatten, der sich bewegt. Was ist real, was scheint nur so? Welchen Weg soll er einschlagen?

 

Schneller als seine Füße ihn tragen, saust die Wundernachricht durch die Gassen. Ich wäre gerne dabei, wenn seine Eltern von seiner Heilung erfahren, vor allem vom Freispruch durch Jesus. Als sie dann verhört werden, durchschauen sie es als Teil des Schauprozesses der Pharisäer. Aber das Glück überwog, denn Jesus hatte ihre tiefe Kränkung geheilt. Auch für sie war Jesus das Licht der Welt und der Anwalt des Lebens geworden.

 

Liebe Gemeinde,

diese Geschichte ist eine Provokation für alle chronisch Kranken. Sie verliert aber nicht an heilsamer Zumutung, wenn wir sie zusätzlich anwenden bezüglich unserer Blindheiten. Denn für uns, so denke ich, geht es eher um die antrainierten Seh-Gewohnheiten, und auch um unsere erlernten Blindheiten. Die amerikanischen Unruhen haben ihren Antrieb in der Frage: „Was seht ihr Weißen in uns Schwarzen?“ Zwar stimmen auch wir der Überzeugung zu: „Rassismus ist Sünde!“ Aber in unserem kirchlichen Leben bildet sich viel zu wenig die Buntheit der Gesellschaft ab. (3) Dagegen hilft eine neue Sicht der Dinge, ein Ansehen der Person ohne Diskriminierung.

 

Denn – um im Bild zu sprechen: Wir spüren einige Abdunkelungen unseres Gesichtsfeldes, die Lehmschichten werden allmählich kross. Was empfiehlt uns die biblische Geschichte? Johannes nachzueifern besser nicht, Jesus nachzuahmen wohl kaum, den Blinden nachzuspielen auch nicht. Vielmehr ist es hilfreich, wenn wir uns vom Vertrauensstart des Blinden inspirieren lassen. Damit in unserer Befangenheit das Zutrauen Gottes anfängt. Als Mut-Glauben für die letzten Meter in unserer Verschlossenheit. Als Erstarkungs-Glauben, der uns emanzipiert. Als Gewißheits-Glauben, dass wir auch erlernte Hemmnisse abstreifen können. Damit auch wir zurückkehren als Anwälte des Lebens. Amen

 

Nachtrag: Ich las eine starke Variante; sie lautet: Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Er hielt an und fragte ihn: „Was soll ich für dich tun?“ Er antwortete: „Meine Nachbarin, die Witwe, ist arm und hungert. Hilf ihr! Ich will dir den Weg zu ihr zeigen!“ Und Jesus folgte ihm nach. (4)

 

1) Christian Weisner als Sprecher der „Kirche von unten“ zu den aktuellen Instruktionen des Papstes; siehe © dpa-infocom GmbH/arcor; 23.7.2020

2) Nelson Mandela in seiner Biographie: „Ich erinnere mich noch, wie hart die getrocknete Farbe sich auf meinem Körper anfühlte.“  „Der lange Weg zur Freiheit“ Ffm 2017, S.46

3) Manfred Rekowski, Präses der EkiRh, in seinem Blog vom 10.6.2020

4) nach Eske Wollrad: So ist mein Fleisch – postkolonial-feministische Anstöße; Gütersloh 2012 S.121; zitiert in: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, Berlin 2019, dort Marie Hecke zur Perikope

 

Vorschlag Liturgietext:

(Lothar Zenetti in: Auf seiner Spur; Mainz S. 200)

Wie ein Traum wird es sein, wenn der Herr uns befreit
zu uns selbst und zum Glück seiner kommenden Welt

Der Blinde blinzelt in die Sonne
dem Tauben verrätst du ein Wort und er nickt
wer stumm gewesen spricht die Wahrheit
der lahme Mann schiebt seinen Rollstuhl nach Haus

Geduckte haben ihre Köpfe
Enttäuschte entdecken: Die Welt ist so bunt
Verplante machen selber Pläne
die Schwarzseher sagen: Es ist alles gut!

Die Alleswisser haben Fragen
der Analphabet liest die Zeichen der Zeit
wer nichts besitzt spendiert für alle
die Herrschenden machen sich nützlich im Haus

Wie ein Traum wird es sein, wenn der Herr uns befreit
zu uns selbst und zum Glück seiner kommenden Welt

Vorschlag Lieder:

 

EG 236 Ohren gabst Du mir

EG 437 Die helle Sonn leucht‘ jetzt herfür

tvd 037 Du Licht des Morgens

tvd 225 Wie ein Traum wird es sein (H. Beuerle)

tvd 257 Eines Tages kam einer

tvd 289 Wie ein Fest nach langer Trauer

tvd 217 In unsre Trauer fällt ein Licht

 

Vorschlag Fürbitten:

(aus: Gottesdienst-Material der Christoffel-Blindenmission, Bensheim 2016)

 

  1. Manchmal sehen wir nicht, was vor unseren Augen ist. Wir sind blind. Gott, wir bitten dich, öffne

unsere Augen für dich und für Menschen in Not. Kyrie-Ruf

  1. Manchmal handeln wir als wären wir machtlos. Gott, stärke unsere Hände, um anderen zu helfen.

Kyrie-Ruf

  1. Manchmal sind wir wie gelähmt und kommen nicht vorwärts. Gott, wir bitten dich, mache unsere

Beine stark, damit wir die richtigen Schritte tun. Kyrie-Ruf

  1. Manchmal ist nur noch Schweigen um uns, weil wir einsam sind und keine Stimme mehr an unser

Ohr dringt. Gott, wir bitten für unsere einsamen Stunden, dass du uns aus der Einsamkeit befreist. Kyrie-Ruf

  1. Manchmal fühlen wir uns, als lägen Fesseln um unser Herz. Der Kummer ist übermächtig. Gott,

nimm unsere Last ab und lass unser Herz wieder frei werden. Kyrie-Ruf

  1. Gott, wir bitten dich um die Fähigkeit, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden

und die Fülle des Lebens wieder wahrzunehmen. Kyrie Ruf

 

Manfred Mielke, Pfarrer der EKiR im Ruhestand, geb 1953, verheiratet, 2 Söhne. Sozialisation im Ruhrgebiet und in Freikirchen. Studium in Wuppertal und Bonn (auch Soziologie). Mitarbeit bei Christival und Kirchentagen. Partnerschaftsprojekte in Ungarn und Ruanda. Instrumentalist und Arrangeur.

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