Die Welt ergründen

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Die Welt ergründen

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


(Zur Übersicht der
Predigtreihe)

Predigtreihe „Facetten gelebter
Frömmigkeit“

„Die Welt
ergründen“, Eckart Otto


Die Welt ergründen

Exodus 34, 6-10

Liebe Gemeinde,

wer das Leben ergründen will, steige auf den Berg Sinai, denn
das Alte Testament verbindet mit diesem Berg alle großen Themen unseres
Lebens: die Schuld und die Gnade, die Offenbarung, wie wir unser Leben
führen sollen, den Eigenwillen der Menschen, ihren Tanz um das Goldene
Kalb, Zorn und Liebe Gottes. Die Menschen am Sinai sind hin- und hergezerrt
zwischen Hoffnung, Freude, Schrecken, Entsetzen und Furcht, Gott selbst
zwischen grenzenloser Liebe und flammendem Zorn.

Ein ganz anderes Bild vom menschlichen Leben zeichnet Lukrez im
Proömium zum 2. Band seiner Lebensgeschichte: Nicht einen Berg, sondern
das Ufer des Meeres führt er vor Augen und den Menschen, der den Zufall im
Leben betrachtet, der Mensch, der auf der Klippe sitzt und dem Schiffbruch auf
dem Meer, dem Leben zusieht – der verstorbene Münsteraner Philosoph
Hans Blumenberg hat in seiner kleinen Schrift „Schiffbruch mit Zuschauer.
Paradigma einer Daseinsmetapher“ kurz hinzugefügt: „Er, der
Mensch, sitzt dort und betrachtet den Zufall des Lebens wie einen Schiffbruch,
bewußt der Distanz als einziger Glücksmöglichkeit des Menschen,
darin wie die Götter. Sie bedürfen der Disziplinierung von Furcht und
Hoffnung nicht, weil sie von all dem, was metaphorisch im Schiffbruch ansichtig
wird, niemals erfahren“. Sind wir die Beobachter auf der Klippe, wenn wir
auf den Sinai schauen, auf das Volk, das im Donner der Gottesstimme zu sterben
meint, das sich losringt von dieser Stimme und Aaron folgt zum Goldenen Kalb,
wenn wir auf Mose schauen, der vom Berg herabkommt und in seinem Zorn die
Tafeln zerbricht? Nichts ist unserem Text fremder als der Gedanke, die einzige
Möglichkeit zum Glück wäre die Distanz, die distanzierte
Beobachtung des Lebens in seiner Brüchigkeit. In diesem Text des heutigen
Sonntags haben Theologen, Prediger und Gelehrte des antiken Israel durch die
Jahrhunderte hindurch ihre Gegenwart interpretiert, sie im Spiegel der
Sinaiereignisse gedeutet – fest in dem Bewußtsein, daß sich
jede Zeit in Gottes Erscheinen am Sinai bricht, ja jedes einzelne Leben von
dort ein Licht erhält – ein Geschehen, zu dem es keine Distanz des
Beobachters gibt, der sich fernhält – hier bricht Gott in diese Welt
ein – nicht Gott darin, daß er sich von all dem, was Leben in der
Metapher des Schiffbruchs ist, fernhält, sondern Gott, der zutiefst in
unser Leben involviert ist, in Zorn und Liebe, Distanz und Nähe.

Am Sinai, so sagt es unser Text, ist Gott in diese Welt
eingebrochen. Jede Generation, also auch wir an diesem Morgen, stehen wieder am
Sinai, und dort haben wir dieses Wissen nur aus einem Zeugnis, das zeitlich und
geographisch weit von uns entfernt in diese Welt kam. Der Text ist uns ein
fremder, schon in fremder Sprache geschrieben – es gibt keinen Weg des
Gotteswort in dieser Welt an der Anstrengung vorbei, nachzudenken, was die
Zeugen der Bibel gedacht haben. Im Mittelpunkt unseres Textes stehen zwei
Bekenntnissätze aus Israels Gottesdienst:

„JHWH, JHWH, gnädiger und barmherziger Gott,
langmütig und reich an Treue und Zuverlässigkeit“.

In diesem Bekenntnis
hat sich eine lange Erfahrung Israels mit seinem Gott zu einer Wesensaussage
verdichtet. JHWH ist el hanun, häufig übersetzt mit
„gnädiger Gott“ – aber im deutschen Begriff herrscht der
Aspekt des Machtgefälles, der dem hebräischen Begriff fremd ist
– wird einem Menschen hen „Gunst“ erwiesen, so tritt er
aus dem Anonymität heraus – ist Gott el hanun, macht er den
Menschen zu seinem Gegenüber, ist solidarischer Gott. Gott ist auch el
rahum
, oft übersetzt mit „barmherziger Gott“ – auch
hier geht es nicht um eine herrscherlich-hoheitliche Haltung, sondern um die
Begründung eines Gemeinschaftsverhältnisses. So auch die Fortsetzung
„rein an haesaed und aemaet“. haesaed bezeichnet die
uneingeschränkte Solidarität, Zugewandtheit Gottes, aemaet
seine Verläßlichkeit. Mit „aeraek
’appajim“ „langmütig“ wird ein aus der Weisheit
stammender Akzent hinzugefügt. Gott ist zuverlässig treu auch dann,
wenn der Mensch ihn durch Vergehen herausfordert. JHWH ist also, so sagt es
unser Text, ein in jeder Lage verläßlicher, dem Menschen zugewandter
solidarischer Gott.

Ist die Solidarität also grenzenlos? Und wenn ja, ist es also
bedeutungslos, wie sich der Mensch verhält, zum Menschen wie zu Gott? Nein
– der folgende Vers nennt Grenzen: „der Solidarität bewahrt den
Tausenden, indem er Schuld, Fehlverhalten und Sünde vergibt, aber der
nicht ungestraft läßt, indem er Schuld der Väter erst heimsucht
an den Söhnen und Enkeln bis in die dritte und vierte Generation“.
Schuld wird heimgesucht, drei oder vier Generationen später, so daß
noch Zeit zur Umkehr gewährt wird. Ein harter Satz, den uns der Text
zumutet, denn er besagt, daß wir mit unserem Tun und Handeln nicht nur
über unser Leben entscheiden, sondern auch über das kommender
Generationen. Gnade, Barmherzigkeit und Solidarität Gottes finden eine
Grenze in der Verantwortung des Menschen für sein Leben und das seiner
Nachkommen – die Gnade Gottes ist keine billige. Aber diesem harten Wort
setzt unser Text einen anderen Satz entgegen: „der Zuwendung zukommen
läßt tausenden Generationen, indem er Schuld, Fehlverhalten und
Sünde vergibt“. Die Liebe und Zuwendung Gottes übersteigt
unermeßlich seinen Zorn. Der Text formuliert paradox. Es gibt eine
Heimsuchung der Schuld bis zur dritten und vierten Generation, aber Zuwendung
zu Tausenden von Generationen, d. h. bis in fernste Zeit. Die Zuwendung Gottes
ist dem Menschen nicht ausrechenbar und verfügbar. Vielmehr sind wir auf
das Ziel des Textes gewiesen: Die Liebe Gottes überschreitet bei weitem
seinen Zorn.

Das in diesem Bekenntnis formulierte Wissen um die Zugewandtheit
Gottes zum Menschen wird in unserem Text zur Mitte einer Begegnung zwischen
Gott und Mose:

„JHWH aber stieg in der Wolke herab und stellte sich dort
neben ihn hin. Mose rief den Namen JHWHs aus und JHWH ging an ihm vorüber
und rief: JHWH, JHWH, barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und
reich an Huld und Treue. Der Huld bewahrt den Tausenden, indem er Schuld und
Sünde vergibt, der aber nicht ungestraft läßt, indem er Schuld
der Väter heimsucht an den Söhnen und Enkeln bis in die dritte und
vierte Generation. Da verneigte sich Mose bis zur Erde und warf sich zu Boden.
Er sagte: Wenn ich denn Gnade gefunden habe, mein Herr, dann ziehe mit uns. Da
sprach JHWH: Ich schließe einen Bund“.

Mose ergreift das Wort vom gnädigen Gott und bittet um Gottes
Gegenwart inmitten des wandernden Gottesvolkes. Noch einmal erfüllt Gott
die Bitte um Nähe und gleichzeitig entzieht er sich. Nur in der
Verheißung des Bundes ist er bei seinem Volk.

Mit Blick auf das Exil, die Zeit der großen Not Israels, die
Konsequenz dessen ist, daß Israel am Willen Gottes gescheitert sei, wird
die Erzählung vom Tanz um das Goldene Kalb vorangestellt, das Zerbrechen
der Tafeln des Bundes. Doch noch diesen Bruch des Bundes vergibt Gott, die
Tafeln werden erneuert, ein erneuerter Bund verheißen und die Bitte des
Mose um Gottes Begleitung hinzugefügt: „Es ist ein störrisches
Volk, doch vergib uns unsere Schuld und Sünde“.

Hans Blumenberg hat in seiner Lebensdeutung das Glück der
Götter gepriesen, die niemals dessen ansichtig werden, was Schiffbruch
heißt in unserem Leben, und er hat das Glück der Philosophie als
einziges dem Menschen mögliches gepriesen, des Philosophen, der wie auf
sicherer Klippe sitzend nur aus der Distanz den Schiffbruch des Lebens
beobachtet und bedenkt. Einem solchen Versuch, Welt zu ergründen, tritt
unser Text entgegen. Gott selbst gibt dem Menschen seine Nähe, wendet sich
ihm zu, schenkt ihm Treue und Liebe und wird zurückgestoßen, erlebt
Zorn, leidet und überwindet sich selbst, wenn er am Menschen dennoch
zuverlässig festhält. Die Welt ist recht ergründet, wenn
verstanden wird, daß das Glück im Leben nicht die Distanz zum Leben
und seinem Schmerz sein kann, nicht die Distanz zu Gut und Böse, Liebe und
Zorn, sondern nur das mutige Hineingehen, Annehmen, Durcharbeiten und die
Selbstüberwindung, so wie Gott, der letzte Grund der Wirklichkeit, es tut.
Wer so lebt, dem gilt die Verheißung Gottes in unserem Text:

„Ich schließe einen Bund. Vor deinem ganzen Volk werde
ich Wunder tun, wie sie auf der ganzen Erde und unter allen Völkern nie
geschehen sind“.

Prof. Dr. Eckart Otto


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