Die Zeit danach

Die Zeit danach

Predigt zu Hesekiel 2,3a.8-10 + 3,1-3, verfasst von Jochen Riepe |

I

Dann aber, wenn du, ‚Menschenkind‘, dich durchgebissen und geschluckt hast, nach vielem ‚Ach und Weh‘, dann wird der Herr ‚Bäume wachsen‘ lassen und ‚mit ihren Früchten hat es kein Ende‘ (Ez 47,12). Aber ‚vor-schmecken‘ darfst du: ‚Da aß ich die Buchrolle, und sie war in meinem Munde so süß wie Honig‘.

II

Es gibt eine ‚Zeit danach‘, eine Zeit nach all den Verletzungen, Beleidigungen und Gewalttaten, die Menschenkinder einander antun können. ‚Es kommen Tage‘, da werden die Scherben aufgelesen und zusammengekehrt. Manche werfen sie auf den Schutt, andere wollen retten, was zu retten ist, und kleben wieder zusammen, ‚was doch zusammen gehört(e)‘.

‚Wir mußten es versuchen‘, sagte die Ex-Ehefrau, und der Ex-Ehemann nickte. ‚Es durfte doch nicht alles, was geschehen war, einfach liegen bleiben. Wir schämten uns und konnten einander nicht mehr in die Augen sehen… bei Besuchsterminen übergaben wir die Kinder wortlos, grußlos. Hatten wir nicht einmal einen ‚Bund‘ geschlossen: ‚Du sollst mein sein‘(16,8)?  Es war dann wie ein kleines Wunder – dieser Rat: ‚Sucht jemanden, einen dritten, der eure Trennung begleitet und das Harte, das ‚Unverdauliche‘ mit euch bespricht, damit ihr leben könnt, auch morgen‘‘.

III

Ja, die ‚Stunde Null‘, wenn alles in Trümmern liegt, die Stadt zerstört, der Tempel Gottes zerstört, die Heimat verloren, und vielleicht ein Lichtstreif am Horizont aufscheint, daß Rückkehr und Wiederaufbau möglich werden… Juden im sog. babylonischen Exil nach der ‚Verwüstung‘(6,6) ihres Landes und dem Fall Jerusalems. ‚Ein weites Feld‘, ein Niemandsland ‚voller Totengebeine‘(37,1), resignierte, erschöpfte, beschämte, vielleicht auch selbstgerechte und ‚unbelehrbare‘  Menschen.

Wir wissen es: Nach dem Untergang des Nordreichs Israel durch die Assyrer dauerte es noch, aber auch das Südreich Juda wurde soz. in Schüben von einer fremden Macht zerrieben. Jerusalem wurde belagert, ausgehungert. Es kam zu unglaublichen Zuständen: ‚wer in der Stadt ist, den werden Pest und Hunger fressen‘(7,15). Teile der Bevölkerung wurden deportiert. Die Alten unter uns denken jetzt an das eigene Kriegs- und Fluchterleben, und die inneren Bilder werden schmerzlich wach. Und wir Nachkriegsgeborenen denken an die Jahre, die dann kamen. Da der Großvater plötzlich weinte,  oder der Vater jähzornig  das Sonntagsessen verwarf, hinausging und bis zum Abend nicht mehr gesehen ward.

IV

Sie wird kommen, die ‚Zeit danach‘. ‚Prüfungszeit‘*. Wer steht auf und ‚packt an‘? Einer muß den Anfang machen, und den Anfang macht Gott mit einem Mann namens Ezechiel oder wie er in der Lutherbibel heißt: Hesekiel. Ein geradezu ‚programmatischer‘** Name: ‚Gott möge kräftigen‘. Er möge kräftigen, warnen und trösten die Daniederliegenden. ‚Du, Menschenkind, tritt auf deine Füße…‘ Er möge stärken die, denen nicht nur die äußere, sondern eben auch die innere Heimat, der Glaube, die Sprache, das Verstehen, abhanden gekommen sind, die nicht mehr durchblicken… ‚Erstarren‘, ‘Schreckensstarre‘ – sehr häufig lesen wir diese Wörter im Buche.

Ein wirklicher Anfang  gleicht einem Wunder, und entsprechend hat Ezechiel seinen Anfang als ‚Prophet‘ beschrieben: ‚Und als der Herr zu mir redete, kam Leben in mich…‘. Ja, Gottes Wort, sein Atem, sein ‚Geist‘ fährt dem Angesprochenen buchstäblich in die Glieder. Ein Vorgang, den ähnlich manche, die die Nachkriegszeit erlebten, als gleichsam aus dem Nichts aufsteigenden Daseinswillen*** beschrieben. Es war, als riefe in den Ruinen das Leben selbst: ‚Steh‘ auf!‘ Das ist des Propheten Aufgabe: Auf diesem Feld Gottes unbeirrbares Reden, Anreden und ‚Warnen‘(3,17),  seinen Willen zu verkünden, Geschehenes aufzuarbeiten, das Volk zur Umkehr zu führen und dies szenisch- zeichenhaft, geradezu als ‚Straßentheater‘(B. Lang), darzustellen. Nicht ob er Erfolg hat, ist die Frage, sondern wichtig ist: ‚sie wissen, daß ein Prophet unter ihnen ist‘.

V

‚Wir mußten es versuchen, wir wollten es‘, sagte die Ex-Ehefrau, ‚aber wir ahnten nicht, was auf uns zukam‘. Das kennt jeder, der sich einer Aufarbeitung des Vergangenen stellt : Wie vieles kommt wieder hoch, welche Szenen wiederholen sich, wie viele Tränen werden noch einmal vergossen, welche Wut sucht ihre Wege: ‚Aber es war doch nicht alles falsch! Es sollte doch ein ‚Bund für’s Leben‘ werden, ‚du solltest mein sein‘.

‚Wir zögerten‘, fuhr sie fort. ‚Wer konnte dieses Gewirr lösen, wie sollten wir je einen Weg finden,  einen Umgang, der weniger verkrampft und belastet war?‘ Auch um diese Not weiß so mancher und betrat dann vielleicht die Brücke, die der Berater den Schwankenden baute: ‚Eine Art Arbeitsbeziehung um der Kinder Willen‘, mit Ezechiel zu sprechen: eine ‚Bekehrung‘, daß nicht ‚der Sohn die Schuld des Vaters‘(18,20) trägt, und beide tun, was ‚recht und gut ist‘(33,19); daß ‚Bäume‘ wieder ‚wachsen‘, und es eine Zukunft gibt. Arbeitsbeziehung: Es ist mühsam und manchmal aussichtslos, die Scherben der Vergangenheit aufzuheben. Es ist aber auch lehrreich und stärkend, sich durch das Schweigen, durch Anklagen, Vorwürfe buchstäblich durchzubeißen  wie durch ein quälend langes Buch…  Gibt es denn eine Frucht dieser erneuten Leiden, ein Ziel? Wäre nicht ein endgültiger Schnitt besser?

VI

Ezechiel bedeutet: ‚Gott möge kräftigen‘. Gott beruft ihn zu seinem Propheten, zu einem ‚Wächter‘ und Darsteller, der mit dem treulosen, doch von Gott in den ‚Bund‘ gerufenen Volk (15,8c), diesen Prozeß der Aufarbeitung beginnen, Fehler, Verbrechen und Schande benennen und sie zur ‚Erkenntnis‘ führen soll: Gott ist gerade in den Ereignissen ein Handelnder, die wir selbst als schmachvolle  Niederlage erlebten. Ja, er selbst verfügte dieses ‚Trauma‘, diese Wunde, die uns erstarren ließ und stumm macht. Die Katastrophe ist sein Strafgericht.

Aber wie soll einer, ein ‚Menschenkind‘, eben dies bewerkstelligen? Wie kann er einen Prozeß der Auseinandersetzung und der ‚Erkenntnis‘ initiieren, da die ‚Widerspenstigen‘ im ‚Haus des Widerspruchs‘ die Oberhand haben? Ihr habt die sonderbare Szene noch vor dem inneren Auge: Der Berater selbst muß die Katastrophe an seinem Leibe austragen, ertragen, seinen Körper gleichsam als ‚Kampfplatz‘**** zulassen und das Erfahrene leibhaftig verschriftlichen: ‚… da war eine Hand gegen mich ausgestreckt, die hielt eine Schriftrolle… und darin stand geschrieben Klage, Ach und Weh. Und er sprach zu mir: Du, Menschenkind, iß…‘

Unwillkürlich wehren wir uns gegen dieses ‚harte‘(Joh 6,60) Bild, diese textgewordene Gewalt-Phantasie, aber wir ahnen ihren provokanten Sinn. Gott hat Ezechiel berufen, als Wächter, als ‚Schreiber‘ und Autor, aber deshalb ist der Prophet kein über den Dingen stehender Bescheid- oder Besserwisser. Das Trauma lösen helfen wird nur der, der es in sich aufnimmt, der das aufgenötigte ‚Bittere‘ (Apk Joh10, 9) schmeckt und selbst  ‚durcharbeitet‘, was er anderen lehren will. ‚Sie wissen, daß ein Prophet unter ihnen ist‘. Die Spontaneität, der Ruf des Lebens,  wenn er mehr sein soll als kreatürliche Selbstbehauptung, bedarf der Formung, der ‚Einsicht‘, der ‚Scham‘(16,61), des verbindlichen Neuanfangs.

VII

Aber das wird dauern, die wirkliche ‚Aufnahme‘ der dargereichten Achs und Wehs. ‚Das Heil muß sich lange durcharbeiten durch das Unheil‘*****. Der Text hat das drastische Bild – seinem Leser zur Qual-  auseinander gefaltet. Dreimal mahnt Gott, zu schlucken: ‚Iß, was ich dir geben werde‘- ‚DuMenschenkind, iß, was du vor dir hast‘- ‚Du, Menschenkind, mußt diese Schriftrolle, die ich dir gebe, in dich hinein essen und deinen Leib damit füllen‘.

‚Ach, der Pfad ist steil und weit‘ für die ‚Gefangenen Zions (eg 298.1.2)! Gegen allen Widerstand, gegen allen Ekel und alles Würgen: essen, wirklich kauen,  wirklich schlucken… und dann unter ‚heftigen Bauchschmerzen‘ (R. Poser) verdauen und loslassen,  dieser Vorgang, dieses ‚Sich-durch-das-Buch-des-zerstörten-Lebens-Beißen‘ ist Trauerarbeit und Zukunftseröffnung  in einem.

Wir reden gern von Vergangenheitsbewältigung  und meinen, ein guter Wille und eine ‚Feierstunde‘  reichten schon. Nein, es muß die Zeit heranreifen, und in unserem Land brauchte es dazu lange. Ein ‚Menschenkind‘ wird vom Geist Gottes ‚getrieben‘(Röm 8,14) und ‚auf die Füße gestellt‘, von den Schriften der Väter und Mütter, von eigenem Leiden und dem der Mitgeschöpfe bewegt worden sein, um sich diesem Prozeß zu öffnen und – ihn zu überstehen, ohne den Verstand zu verlieren. Ezechiel war danach ‚sieben Tage ganz verstört‘(3,15), und Gott ‚isoliert‘ ihn später noch von den anderen: ‚…schließ dich ein in deinem Haus…‘ (3,24). Aber eben so- stummgeworden- verkörpert er zeichenhaft, als leibgewordenes Schriftzeichen, das Handeln Gottes an seinem Volk.

VIII

Ja, die ‚Zeit danach‘. Gotteserkenntnis. Selbsterkenntnis. Wiedergutmachung: ‚die Trümmer sollen wieder aufgebaut werden‘(36,33). Fragen mögt ihr am Ende:  Eben, die ‚Süße‘- die Buchrolle ‚in meinem Munde so süß wie Honig‘? Der Lohn des ganzen oder besser der Vorgeschmack all der Früchte, die schließlich wachsen werden?

Wenn die Ex- Eheleute heute einander sehen, wenn sie sogar gemeinsam mit den Kindern etwas unternehmen, dann zeigt sich das, was wir Neuanfang oder ein ‚Angeld‘ (2.Kor. 1,22) der Versöhnung nennen. Oder vorsichtiger: eine ‚Arbeitsbeziehung‘ – das tun, ‚was recht und gut ist‘. Ein scheuer Blick zum anderen, und ein stolzer, gerührter Blick auf die, die aus dem Gräberfeld herauswachsen und ihr eigenes Feld finden sollen. Gottes Geist möge sie und uns bewegen!

(Gebet nach der Predigt:) Lieber Vater im Himmel, dein Geist macht lebendig und ruft uns, aufzustehen und das Leben zu ergreifen. Dein Wort leitet an, Unrecht und Gewalt zu benennen,   Fehler anzuerkennen und um Vergebung zu bitten.  Herr, halte uns in deinem Bund und mache uns frei, im Vertrauen auf deine ewige Treue den Weg der Umkehr, der Einsicht und der Erkenntnis deines Willens zu gehen.

Liedvorschläge: eg 298 (Wenn der Herr einst die Gefangenen),  eg 605 (Herr, gib uns Mut zum Hören)

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*eg 298.2 (S.G. Bürde, 1787) **K. Schöpflin, Theologie als Biographie im Ezechielbuch. Ein Beitrag zur Konzeption alttestamentlicher Prophetie, 2002, S. 345 ***s. H. Jähner, Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945-1955, 2019, S.21ff ****R. Poser, Das Ezechielbuch als Trauma-Literatur, 2012, S. 320 *****J. Ebach, Iss dieses Buch, Erev-Rav-Hefte, 2008, S. 23

Pfr. i.R. Jochen Riepe
Dortmund, Deutschland
E-Mail: Jochen.Riepe@gmx.net
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