Ein neuer Mensch werden …

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Ein neuer Mensch werden …

Ein neuer Mensch werden – schon geschehen! | Predigt zu Epheser 4,22-32 | verfasst von Klaus Wollenweber |

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen

Ich lese den für den heutigen Sonntag vorgeschlagenen Predigttext aus dem 4.Kapitel des Epheserbriefes die Verse 22-32:

22 Dann wurdet ihr aber auch gelehrt, nicht mehr so weiterzuleben, wie ihr bis dahingelebt habt, sondern den alten Menschen abzulegen, der seinen trügerischen Begierden nachgibt und sich damit selbst ins Verderben stürzt.

23 Und ihr wurdet gelehrt, euch in eurem Geist und in eurem Denken erneuern zu lassen

24 und den neuen Menschen anzuziehen, der nach Gottes Bild erschaffen ist und dessen Kennzeichen Gerechtigkeit und Heiligkeit sind, die sich auf die Wahrheit gründen.

25 Darum legt alle Falschheit ab und haltet euch an die Wahrheit, wenn ihr miteinander redet. Wir sind doch Glieder ein und desselben Leibes!

26 Wenn ihr zornig seid, dann versündigt euch nicht. Legt euren Zorn ab, bevor die Sonne untergeht.

27 Gebt dem Teufel keinen Raum ´in eurem Leben`!

28 Wer bisher ein Dieb gewesen ist, soll aufhören zu stehlen und soll stattdessen einer nützlichen Beschäftigung nachgehen, bei der er seinen Lebensunterhalt mit Fleiß und Anstrengung durch eigene Arbeit verdient; dann kann er sogar noch denen etwas abgeben, die in Not sind.

29 Kein böses Wort darf über eure Lippen kommen. Vielmehr soll das, was ihr sagt, gut, angemessen und hilfreich sein; dann werden eure Worte denen, an die sie gerichtet sind, wohltun.

30 Und tut nichts, was Gottes heiligen Geist traurig macht! Denn der Heilige Geist ist das Siegel, das Gott euch im Hinblick auf den Tag der Erlösung aufgedrückt hat, ´um damit zu bestätigen, dass ihr sein Eigentum geworden seid`.

31 Bitterkeit, Aufbrausen, Zorn, wütendes Geschrei und verleumderisches Reden haben bei euch nichts verloren, genauso wenig wie irgendeine andere Form von Bosheit.

32 Geht vielmehr freundlich miteinander um, seid mitfühlend und vergebt einander, so wie auch Gott euch durch Christus vergeben hat.  (NGÜ)

Liebe Gemeindeglieder,

in dieser Pandemie-Krisenzeit höre ich dauernd Mahnungen: Seid achtsam! Tragt Mund- und Nasenschutz! Seid nicht leichtsinnig! Feiert keine großen Feste!  Haltet Abstand bei Menschenansammlungen! Und anderes mehr! Alles sinnvoll! Aber nun auch noch am Sonntag dieser biblische Text mit einer so langen Liste von Ermahnungen! Ist das nicht ein bisschen viel!? Typisch Kirche, die stets Moral predigt. Das stört mich und das habe ich satt! Ich mag schon gar nicht mehr aufmerksam sein. Wer von Ihnen, liebe Mitchristen, hört noch gerne zu, wenn Ihnen von Satz zu Satz ein immer schlechteres Gewissen gemacht wird? Ist dieses die rechte, sonntägliche und gottesdienstliche Ermutigung für die neue Woche?

Gut! Ich kann verstehen und sehe ein, dass wir Menschen lebenslang Mahnungen nötig haben. Aber ich persönlich muss zugeben: Ich habe Mühe, wenn auf mich mit biblischen Worten in dieser Weise regelrecht eingehämmert wird. Hören wir nochmals:

„Lügt nicht, redet die Wahrheit! – Zürnt nicht, versöhnt euch! – Vergreift euch nicht an fremdem Eigentum! – Arbeitet, um geben zu können! – Redet nichts Schlechtes; bringt das Gute zur Sprache! – Lasst nicht Hass und Zorn euer Leben bestimmen; sondern Güte und Vergebung!“

Alles gut und richtig. Ich kann und will nichts dagegen sagen. Christlicher Glaube bewährt sich in der Einheit von Vertrauen zu Gott und entsprechendem Lebenswandel hier in unserem Umfeld. Sie und ich, wir versuchen, unseren Alltag so zu gestalten, dass unser Denken und Handeln jeden Augenblick den christlichen Werten und dem Glauben an den Herrn Jesus Christus entspricht. Es bleibt – leider – ein Versuch. Denn wer von uns könnte bei ehrlicher Selbstprüfung sagen: Gelogen habe ich noch nie? Noch nie habe ich mich in den Schmollwinkel zurückgezogen; noch nie habe ich mir etwas angeeignet, was mir nicht zustand – und sei es, dass wir einander Zeit oder gar Gefühle gestohlen haben; noch nie habe ich etwas mit Worten weitergegeben, was ich besser für mich behalten hätte; – noch nie … noch nie! Ich jedenfalls nicht.

Von Tucholsky stammt der Ausspruch: „Ich sagte: zweiundsiebzig Jahre auf der Erde. Das bedeutet: Neunundsechzig Jahre lang gelogen, Empfindungen versteckt, geheuchelt; gegrinst statt zu beißen; geschimpft, wo man geliebt hat.“ Möglicherweise spricht uns dieses Wort von Tucholsky aus dem Herzen.

Also: Was für ein aktueller Brief an uns heute: dieser alte Brief an die Menschen damals in Ephesus! Und über all dem Ärger über die vielen Mahnungen und ihre Richtigkeit und Notwendigkeit habe ich die Aussagen aus dem Blick verloren, mit denen der biblische Text beginnt. Ja, das passiert häufiger: man überhört oder überliest einfach einige Sätze eines biblischen Abschnittes. Dabei hätte gerade diese Aufforderung zu Beginn uns stutzig machen können: „Legt den alten Menschen ab und zieht den neuen Menschen an!“ Wie geht das und was soll das heißen?

Das Ziel aller Mahnungen ist: ein neuer Mensch werden! Das bedeutet: einmal einen neuen Anfang machen, aus der alten, gewohnten Denk- und Vorstellungswelt herauskommen. Die Menschen in unserer Umgebung einmal aus einem anderen Blickwinkel sehen. Tapetenwechsel! Perspektivwechsel! Die Herausforderung annehmen und die eigenen, traditionellen Vorstellungen und Bilder vom Zusammenleben junger und älterer Menschen in Frage stellen. Die Frage ist doch: Will ich diesen Blickwechsel überhaupt? So etwas ist auf jeden Fall schwierig. Viele von uns sind Gewohnheitstiere, und die Veränderungen bringen uns in unserer Lebensplanung durcheinander

Wir erleben und erfahren in der eigenen Großfamilie: Junge Menschen haben andere Ideen, Ziele und Wunschträume von ihrem Leben und von der Zukunft der Welt, in der sie leben möchten. Ich brauche nur an den Streit um die Energieversorgung, an die Gewinnung erneuerbarer Energie aus Sonne, Wind und Wasser, an den Klimawandel und die Folgen für die Zukunft, an die Vermüllung der Gewässer und anderes mehr zu erinnern. Vor zwei Generationen waren dies keine öffentlichen Probleme. „Legt den alten Menschen ab!“

Ich höre z.B. viele ältere Menschen über Vorstellungen der jüngeren Generation im Blick auf die Künstliche Intelligenz und die Digitalisierung des Lebens stöhnen: „Schon wieder etwas Neues! Kann man uns nicht das für uns Altbewährte lassen? Ich möchte mich nicht mehr umstellen und ein neuer Mensch werden.“ Die eigene Erfahrung lehrt uns, dass ein Wechsel in unseren traditionellen Lebensvorstellungen von unserem Alltag nicht leicht ist. Da macht das neue, z. B. das digitale Umfeld, noch keinen neuen Menschen aus uns. Wer von uns kann denn aus seiner eigenen Haut schlüpfen? Wie soll ich mit meinen Charakterschwächen fertig werden, die ich lebenslang zu verdecken suche? Ich bin davon überzeugt: Wir nehmen immer alle eigenen Probleme und Schwierigkeiten des Miteinanderlebens mit uns in den angeblich neuen Menschen, wohin wir auch gehen und woher wir auch kommen.

„Legt den alten Menschen ab und zieht den neuen an!“ – das ist zwar ein Bild-Wort und entsprechend nicht Wort für Wort übertragbar, aber eine christliche Vision für eine Wirklichkeit, die genauso existiert wie unsere eigene, gegensätzliche Alltagserfahrung. Dabei ist etwas Besonderes in den biblischen Worten zu entdecken: „Ihr wurdet gelehrt, euch in eurem Geist und in eurem Denken erneuern zu lassen.“

Da ist also jemand, der uns neu machen will, wo wir uns nicht mehr mit eigenen Klimmzügen aus der Verstrickung retten können. Wir werden aufgefordert, das Anziehen des neuen Menschen an uns geschehen zu lassen. Wir sind passiv! Denn das Neue ist bereits geschaffen; es ist schon da. Wir müssen Christus nicht neu erfinden und nicht mit vereinten Kräften den neuen Menschen schaffen. Diese Wirklichkeit hat schon begonnen. Wir Christen entdecken: Ich kann mir etwas Neues zutrauen. Ja, ich kann mir zutrauen, die Wahrheit zu sagen; ich kann es wagen, das Gute im anderen Menschen hervorzuheben. Denn Jesus Christus hat bereits das Gute in mir festgelegt. Die am Anfang als lästige Mahnungen von mir beschrieben wurden, sind in Wahrheit Beschreibungen der christlichen Wirklichkeit, in der wir bereits leben, und zwar in der christlichen Gemeinde. Da finden wir Vertrauen, Hilfe und Zuwendung. Da können unsere Talente offenbar werden in dem gemeinsamen Lob Gottes, in den Bitten um Vergebung und in dem Dank für geschenkte Lebendigkeit.  Dieses neue Leben hat Jesus Christus für uns vorgelebt. So erinnern wir uns in unseren Gottes-Diensten immer neu daran, dass Gott uns dient. Sein gegenwärtiges Wirken – das ist der Heilige Geist – bestätigt uns, dass wir bereits ein neuer Mensch sind. Wir werden aufgefordert, diesen Akt Gottes an uns zuzulassen.

Wie ein Paukenschlag wirkt nach diesen Gedanken unserer Rettung zum neuen Menschen die letzte Aussage des Predigttextes. Da wird noch ein Gedanke draufgesetzt: „Vergebt einer dem anderen, gleichwie euch Gott vergeben hat in Christus.“ Uns ist bereits vergeben; uns sind geistliche Gaben anvertraut, die wir weitergeben können; wir können Gnade und Vergebung einem anderen zusprechen, so dass aus dem alten Menschen ein neuer wird. Das ist mehr als das, was wir an äußeren Gewändern oder Verhaltensweisen erkennen können. Wer von uns erfahren hat, dass die eigene menschliche Schuld nicht das letzte Wort hat, der hat entdeckt, dass er neu aus der Fülle der Vergebung Gottes schöpft und lebt. Damit sind wir moralisch keine besseren Menschen; aber uns ist die Gabe der Vergebung anvertraut. Wir können anderen Menschen die Einladung Gottes weitergeben, immer einen neuen Anfang im Leben zu wagen. Das ist die frohe, befreiende Botschaft heute und morgen.

In diesem Sinne können wir getrost und zuversichtlich in die neue Woche gehen, – nicht mit den Mahnungen, die uns ein schlechtes Gewissen machen, sondern mit der Gewissheit, dass Jesus Christus uns mit seiner Vergebung auf die richtige Spur des Lebens gesetzt hat.

Der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserm Herrn. Amen

Lied EG 320 Nun lasst uns Gott dem Herren Dank sagen und ihn ehren

Altbischof Klaus Wollenweber, Bonn

Klaus.Wollenweber@kkvsol.net

Viele Jahre Gemeindepfarrer in der Ev. Keuzkirchengemeinde Bonn; ab 1988 theologischer Oberkirchenrat in der EKU Berlin ( heute: UEK in Hannover ); ab 1995 Bischof der Ev. Kirche der schlesischen Oberlausitz mit dem Amtssitz in Görlitz / Neiße  ( heute: Ev. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz ); seit 2005 im Ruhestand in Bonn. Häufig aktiv in der Vertretung von Pfarrerinnen und Pfarrern in Bonn.

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