Hebräer 9,15.26b-28

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Hebräer 9,15.26b-28

 


Sermons from Göttingen on the Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Good Friday
21.4.2000
Hebräer
9,15.26b-28

Gunda
Schneider-Flume


Liebe Gemeinde,

„Es wird alles gut “ oder „es wird alles wieder gut „,
so tröstete einen die Mutter nach einem kleinen oder großen Kummer.
Nach einem Schmerz, einer Verletzung, einem Verlust, und dieser Zuspruch wirkte
rasch und heilsam, er ließ den Schmerz vergessen und machte die
Kränkung unwirksam. Auch bei Verfehlungen gab es das: wenn man durch
Unachtsamkeit oder gar Bosheit, Ärger und Zorn auf sich gezogen hatte, so
gab es doch schließlich ein: „Es ist alles wieder gut“.

Erinnern Sie sich daran, wie gerne man sich in diesem Trost
wiegte? Er brachte neue Kraft und Mut. Er ließ nicht nur die Tränen
versiegen, sondern dieser Zuspruch hatte etwas in sich, das die Welt wieder in
Ordnung brachte und das Kind in der Gewißheit bestärkte: es ist
wirklich alles gut. Wohl dem Kind, dem so ein Trost nicht nur einmal, sondern
bei jedem Kummer die Kindheit erhellte.

Dieser Trost hat seine Kraft ja nicht von einem verharmlosenden
„halb so schlimm“, sondern von der liebevollen Anteilnahme, vom
Teilen des Kummers und vom Zuspruch, aus dem ungeahnte Kraft kommt, weil er
selbst ein Stück heile Welt ist, wie ein Schutzraum, in dem man gut leben
kann. „Es wird wirklich alles gut“, dieser Zuspruch hält einen
fest auch in der Erschütterung des Schmerzes. Von der Erfahrung eines
solchen Zuspruchs, der einen wie ein Schutzraum umhüllt, zehren Menschen
ein Leben lang. Das ist eine zuverlässige Kraftquelle.

Die Bibel erzählt von dem Bund Gottes als von so einem
Schutzraum für alle Menschen, ja sogar für alle Kreatur, einem Raum
von Vertrauen und Zuspruch, Zuverlässigkeit und Dauer: „Es ist
wirklich alles gut“. Da, wo der Bund Gottes mit den Menschen wirkt, ist
Heil, gutes Leben, Schalom. Der Bund ist der Schutzraum des Gottes, der einen
tröstet, wie einen seine Mutter tröstet. Das ist eine
zuverlässige, nicht versiegende Kraftquelle.

Aber das ist lange her. Straft die Erfahrung diese schöne
Vorstellung nicht Lügen? Kinder werden erwachsen und erfahren schmerzlich,
dass nicht alles gut wird, weil Brüche nicht heilen, Verluste
unwiederbringlich sind und Streitigkeiten wieder und wieder aufleben. Wo ist
der heile Schutzraum? Die feindlichen Brüder pflegen ihre Feindschaft ein
Leben lang, geradezu zwanghaft, immer wieder. Es ist, als ob eine Kainskraft
wie eine natürliche Veranlagung in einem jeden wirke. Sie nährt sich
aus der Angst um Anerkennung und aus Rivalität. Sie nährt sich aus
dem Misstrauen: „Alle wollen mir Böses“ und aus der daraus
folgenden Devise: „Trau nur dir selbst“. Und sie nährt sich aus
der wahrhaft tödlichen Erfahrung von Gleichgültigkeit: „Ich bin
niemandem wichtig“.

Nein, es sind nicht die Verhältnisse eines heilen
Schutzraumes, die unser Miteinander bestimmen. Wo Kain sich verwirklicht,
muß Abel weichen. So ist die Welt, die nach dem Gesetz der
Verdrängung funktioniert. Der Wiederholungszwang der Verdrängung
herrscht in Familien, in Schulen, an Universitäten, im öffentlichen
Leben der Gesellschaft, unter Völkern. Wo dieses Gesetz gilt, da geschieht
die Verwirklichung des einen auf Kosten des anderen, immer wieder. Wo dieses
Gesetz gilt, da ist der Reichtum des einen anderen weggenommen, und der
Freiraum, den sich einer schafft, ist gewonnen durch die Opfer, die andere
dafür zu bringen genötigt sind.

Wo ist der heile Schutzraum, einst Bund genannt? Ist er nur Utopie
im Nirgendland der heilen Kindheit? Wir wissen von dem Wiederholungszwang der
Verdrängung. Wir wissen, dass kein Friede herrscht im Kosovo und in
Tschetschenien, aber das sind nur zwei Namen grausamen Kriegsgeschehens
für viele. Wir wissen, dass kein Ausgleich von Nahrungsmitteln herrscht
zwischen Nord und Süd und West und Ost. Die Bilder der fast verhungerten
Kinder in Äthiopien sprechen eine furchtbare Sprache. Der Raubbau von
Menschen aneinander und an den Ressourcen der Welt, das sich gegenseitig
Verbrauchen und das die Welt Verbrauchen gehen weiter ununterbrochen, immer
wieder.

Die Bibel nennt dieses Zerstören des Lebensschutzraumes durch
Verbrauchen von Welt und Menschen und durch das Sich- selbst-verbrauchen
Sünde. Mit diesem Wort ist nicht nur der Wiederholungszwang der
Verdrängung angesprochen, dass die böse Tat fortwährend
Böses muss gebären, immer wieder, sondern auch die Erfahrung, dass
mit jeder Zerstörung des Schutzraumes und mit jedem Zerbrechen eines
Bundes für das Leben, etwas im Menschen selbst zerstört wird.
Menschen verbrauchen sich selbst Stück für Stück, Schritt
für Schritt, bis sie aufgebraucht sind: Der Mut ist aufgebraucht, die
Hoffnung ist aufgebraucht, das Vertrauen ist aufgebraucht, denn schwerlich
wächst etwas neu, wo einmal ausgebeutet und aufgebraucht wurde.
Wüsten regenerieren sich nicht, äußere nicht und auch innere
nicht. Allenfalls spannt sich über einem aufgebrauchten
Selbstbewußtsein und einem aufgebrauchten Lebensvertrauen ein
überzogenes, aufgeblasenes Ich, das umso lauter auftrumpft, je leerer es
ist.

Wie viele Bruchstücke von nicht eingehaltenen Versprechungen
sammeln sich in einem Leben, wie viele Trümmer von enttäuschter
Hoffnung, wie viele Risse und Verletzungen durch zerbrochene Beziehungen. Die
Überreste des Verbrauches von Welt und Menschen türmen sich auf. Den
Bergen von Wohlstandsmüll entsprechen Berge von verbrauchten Beziehungen,
die sich gelegentlich zu gefährlichen schwarzen Löchern verwandeln.
Denn sie ziehen nun alles in sich hinein, weil sie gestopft werden müssen,
obwohl sie nicht zu stopfen sind. Menschen verbrauchen sich selbst in der
Meinung, das Vertrauen produzieren zu können, das einem doch nur geschenkt
werden kann.

Verbrauche ich nicht gerade damit mich selbst, dass ich alles
für mich zu verbrauchen versuche, Gott und die Welt, weil ich mir nichts
mehr schenken lasse? Wer sich selbst nichts schenken lässt, muss alles
selber schaffen, sein Leben, sein Vertrauen, seinen eigenen Schutzraum. Aber
selbsterschaffene Schutzräume werden zu Gettos, in denen man isoliert um
sich selber kreist. Der Bund fürs Leben, den ich mit mir allein
schließe, wird zum Gefängnis, in das ich alles begierig hineinziehe.
Das ist Sünde, die einen verbraucht, weil Lebensvertrauen sich nicht
selbst generiert.

Da verschlägt es einem den Mut zu dem Satz: „Es wird
alles gut“, denn was zerbrochen, enttäuscht, zerstört ist, kann
nicht gut werden, es ist ein für allemal dahin, endgültig,
unwiederbringlich.

Es ist wie ein ehernes Gesetz, dieses „immer wieder“,
der Zeitablauf: Menschen verbrauchen sich immer wieder, bis der Tod dem ein
für alle Mal ein Ende setzt. Dieser Trend entspricht dem biologischen
Gesetz des Abbaus und Verbrauchens von Zellen. Immer wieder bis zum
endgültigen Ende. Ist es also gleichsam ein natürlicher Zwang, der
uns zum Selbstaufbrauch bestimmt?

Die Kraft, von der Kinder gedeihen, der tröstende Zuspruch,
und die Kraft, aufgrund derer Erwachsene mutige Schritte in die Zukunft wagen
in guten wie in schlechten Tagen, der Zuspruch des Bundes, sind sie Illusion,
versunken im Kinderland?

Können wir es also unseren Kindern nicht mehr sagen, dass
alles gut wird? Hält der kindliche Trost der Realität nicht stand und
wird Lügen gestraft von der täglichen Welt- erfahrung? Können
wir es also Geängsteten und Sterbenden nicht mehr sagen, dass alles gut
wird? Ist es nur Opium, beschwichtigend aber verharmlosend und letztlich
Lüge?

Und wir selbst, wagen wir festzuhalten an einer Perspektive, die
Gutes wahrnimmt in unserer Zukunft?

Liebe Gemeinde, die Texte, die wir heute zum Karfreitag
gehört haben, sind alle von dieser bangen Frage bewegt. Der Beter des
Psalm 22 und alle Menschen, die ihm Jahrhunderte lang folgten und nachsprachen:
„mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ konnten ihre
Erfahrungen von Zerbrechen und Sinnlosigkeit, von Verdrängt- und
Verbrauchtwerden nicht mehr mit Gott zusammen bringen. Kein Bund, kein heiler
Schutzraum ist da, wo ich ausgeschüttet bin wie Wasser und mein Herz in
meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs. Kein Bund, kein heiler Schutzraum ist
da, wo ich verbraucht bin, und kein Gott ist da, wo die Ressourcen an
Lebensvertrauen erschöpft sind.

Den Anhängern Jesu erging es so: Sie flohen vom Ort des
Geschehens angesichts der drohenden Hinrichtung. Hoffnungen zerbrachen,
Lebensperspektiven gingen entzwei angesichts des Todes. Wo ist Gott angesichts
des Opfers? Wo ist Gott angesichts der vielen Opfer? Wo ist Gott angesichts des
Kreuzes, angesichts der unzähligen Kreuze? Der Wiederholungszwang der
Opfer immer wieder in der Weltgeschichte schließt Gott aus.

Und die Endgültigkeit des Todes im menschlichen Leben
schließt Gott ebenfalls aus. Der Tod als Schlußpunkt, da sind alle
Kräfte verbraucht ein für allemal. Der Tod als endgültiger
Schlußpunkt, das ist seine Macht. Wenn man endgültig steigern
könnte, dann müßte man es im Blick auf den Tod in der
höchsten Form tun, denn da ist wirklich alles zum Ende gekommen, und das
menschliche Leben liegt in seiner oft erbärmlichen Endgültigkeit vor
uns. Das war’s.

Unter Menschen gibt es kein Endgültig, daß so
unumstößlich ist wie der Tod, ein für alle Mal. Das ganze
mühsame „immer wieder“ und alle erfreulichen und erfolgreichen
Aufbrüche eines menschlichen Lebens enden in diesem endgültigen
‚einmal sterben‘, „wie den Menschen bestimmt ist, einmal zu
sterben“ schreibt der Autor des Hebräerbriefes.

Eine ganze Philosophie nährt sich daraus, dieser einmaligen
Endgültigkeit zu gedenken. Gedenke, dass du sterblich bist, – memento mori
– diese Endgültigkeit vor Augen soll man intensiv leben, die Zeit
auskosten. Weisheitslehre aus der Kraft der Drohung. Die alten Philosophen
lehrten so, und moderne Lebensratschläge greifen das auf: den Tod im Blick
haben, um leben zu können. Wir leben schließlich nur einmal. Aber
wirkt der Tod lebensschöpferisch? Oder macht er nicht doch nur Angst?

Nichts wird gut, die Opfer bleiben verloren in der Nacht der
Gottverlassenheit, und die Verletzungen, Verluste und Brüche bleiben tief
eingezeichnet in viele Lebensgeschichten, ein für allemal. So ist
Menschengeschichte: immer wieder Brüche, immer wieder Opfer, immer wieder
Schuld, immer wieder Verzweiflung, Sinnlosigkeit und Tod. Was bleibt, das ist
der letzte Schrei: warum? Immer wieder.

Lied 77, 1-3

Weil wir den Wiederholungszwang von Opfern und Schuld, von
Verzweiflung und Sinnlosigkeit nicht aushalten, suchen wir Vergessen. Wenn
schon nicht alles wieder gut wird, dann muß wenigstens die Zeit heilen
und vergessen lassen, was nicht zu heilen ist, denn wir müssen ja leben.
„Man muß ja schließlich auch nicht alles so schwarz
sehen.“ Wir müssen leben auch da, wo die Bruchstücke von
Hoffnungen und die Überreste von Lebensverbindungen, die wir zerstört
haben, uns belasten oder schier erdrücken.

Sollten wir trainieren, schnell zu vergessen, um zu
überleben? Man könnte meinen, das ist das Rezept unserer Zeit:
wegsehen und schneller vergessen – glücklich ist, wer vergisst -. Mit der
Schnelligkeit eines Klick ruft man eine neue Seite auf. Aber mit dem Vergessen
schwinden auch die Hoffnungen, mit dem Vergessen der Kreuze schwinden die
Chancen der Heilung endgültig. Zwar lernen Menschen rasch, auf
Trümmerbergen zu tanzen, aber Trümmerberge bieten nicht den
Schutzraum, in dem Menschen heil werden oder auch nur aufatmen können.

Liebe Gemeinde, es ist die Botschaft des Karfreitag, dieses
fremdesten der christlichen Festtage, dass Gott da ist, wo die vielen Kreuze
stehen, weil er selbst am Kreuz war auf der Seite der Opfer. Gott da, wo nur
noch Gottesfinsternis ist – und zur sechsten Stunde kam eine Finsternis
über das ganze Land, und der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke
von oben an bis unten aus – Gott da, wo nach menschlicher Erfahrung alles
aus ist.

Das ist das Kreuz und der Anstoß des christlichen Glaubens.
Anstößig ist das und Ärgernis, so anstößig, dass es
von Zeit zu Zeit öffentliche Debatten darüber gibt: Der Anblick des
Kreuzes, ist das zumutbar? Das Kreuz in der Mitte der christlichen Kirchen, ist
das zumutbar?

Das Kreuz in der Mitte der christlichen Kirchen und der Karfreitag
in der Mitte der christlichen Festtage, das ist genauso unzumutbar und
anstößig wie die unzähligen Kreuze von Opfern, Trümmer von
Zerstörung, Bruchstücke von Leben. Kreuze verletzen das
Lebensgefühl. Wir denken lieber positiv. Positives Denken, auch wenn wir
dafür die Kreuze und die Opfer vergessen müssten. Aber aus welchen
Quellen schöpft das positive Denken und über welche Opfer geht es
hinweg? Es gibt auch positives Denken, das über Leichen geht.

Pflanzen wir also lieber einen Baum, einen Lebensbaum auf dem
Trümmerberg, auf dem wir tanzen?

Lied 77, 4 und 5

Liebe Gemeinde, der Karfreitag ist für den christlichen
Glauben ein Heilstag. Ein guter Tag, ein wahrhaft guter Tag, der Heil bringt,
obwohl das Unheil der Welt sich an ihm zusammenballt. Bis in den
volkstümlichen Aberglauben hinein hält sich ja dieses Urteil: der
Freitag ist ein schwarzer Tag, und wenn gar ein Dreizehnter auf den Freitag
fällt, dann wird manch einem ernsthaft angst. An so einem Tag darf man
nicht feiern, aber auch keine großen Unternehmungen planen, denn diesem
Tag hängt alles Böse an, deshalb ist es der schwarze Freitag.

Was volktümlicher Aberglaube mehr oder weniger ernsthaft zum
Ausdruck bringt, kehrt der christliche Glaube um, indem er den Karfreitag, den
Freitag des Kreuzes Jesu von Nazareth als Heilstag feiert.

Denn da am Kreuz tritt Gott mitten hinein in das menschliche
Unheil und den Verdrängungsmechanismus menschlichen Lebens. Da am Kreuz
tritt Gott mitten hinein in menschliches Leiden und menschlichen
Verbraucherwahn und gibt sich selbst. Wo aber Hingabe herrscht, da hat
Verbraucherwahn keine Macht mehr. Das ist das Geheimnis des neuen Bundes.

Gott da, wo die Kreuze und Opfer schon gleichgültig geworden
sind, weil sie unzählig sind und menschliche Gewohnheit auch das mit
Gleichgültigkeit hinnimmt. Wo Kreuze schon nicht mehr an das Kreuz
erinnern, sondern wahllose Schmuckstücke geworden sind, also selbst
kommerziell verwertet und verbraucht, da verweist das Kreuz Jesu Christi in den
Kirchen auf das Geschehen der Hingabe Gottes, ein für alle Mal. Hingabe
ist der Raum der Liebe, in dem Menschen aufatmen und gedeihen können. Und
die Liebe Gottes kann nicht aufgebraucht werden, sie ist unerschöpflich.
Sie schenkt Raum, in dem man sich aufrichten kann, wie in einem Schutzraum,
jeden Morgen neu. Und die Liebe Gottes schenkt Zeit, jeden Tag neu, nicht nach
dem Ablauf des Wiederholungszwanges, sondern Zeit, die übervoll ist mit
Erbarmen, so wie wir das vielleicht erinnern von einer Mutter, die sich Zeit
nahm, uns zu trösten.

Gegenüber der Hingabe läuft der Verbraucherwahn ins
Leere. In einer Märtyrergeschichte leuchtet das auf.

Paul Schneider, der „Prediger von Buchenwald“, der von
seiner Zelle aus jeden Morgen mit lauter Stimme für seine
Mithäftlinge eine Morgenandacht hielt und den auf dem Appellplatz
Angetretenen ein tröstendes Bibelwort zurief als Kraftquelle für den
Tag, von welcher Kraftquelle lebte er? Seine Worte, seine Rufe gaben die
Kraftquelle der Hingabe Gottes weiter. Diese Kraftquelle ließ sich nicht
verbrauchen. Nur durch eine Überdosis Strophantin konnten die Schergen
Paul Schneider zum Schweigen bringen.

Worte, die aus der Kraftquelle der Hingabe Gottes schöpfen
sind wie ein Schutzraum, ein neuer Bund, der deshalb trägt, weil ein
Mensch darin nicht eingemauert ist, zurückgeworfen auf sich selbst. Die
Worte verbinden einen Menschen und ein geängstetes Herz:

Ich halte fest an dir – ich werfe dich nicht weg.
Ich
verlasse dich nicht – ich bin mit dir.
Ich trete für dich ein
– auch wo du selbst nicht mehr stehen kannst.
Ein für alle Mal.
Das sind Worte, die Halt gewähren, sogar in der Gottesfinsternis.

Durch die Hingabe Gottes am Kreuz Jesu Christi haben aber nun auch
die Sünde, das Böse, der Verbraucherwahn und die
Verdrängungskraft einen Ort bekommen. Sie können nicht mehr unerkannt
und unbenannt frei vagabundierend ihre Zerstörungswut ausleben im Innern
von Menschen und auf den Schlachtfeldern außen. Ihr Ort ist am Kreuz Jesu
Christi. Ja, da sollen wir alles Böse anheften und es da lassen. Es kann
und darf da bleiben. Der Wiederholungszwang, das „immer wieder“, das
uns festhält wie Zwangtäter – wir kennen das in unserem Leben zum
Überdruss – die großen und die kleinen Bosheiten, die offenen und
die geheimen Verletzungen – da am Kreuz haben sie ihren Ort, damit sie nicht
andernorts ihr Unheil treiben. Gottes Hingabe hat sie geradezu verschlungen.

Durch die Hingabe Gottes am Kreuz ist der Zwang des Zeitablaufes
unterbrochen: denn wo das „immer wieder“ herrschte und uns tyrannisch
festhielt, bis der Tod den Schlussstrich zieht, da heißt es jetzt: ein
für alle Mal Gott selbst im Tod. Und Gott ist nicht ein Gott des
Schlussstrichs, sondern ein Gott des neuen Lebens.

Da, wo der menschliche Verbraucherwahn nur Trümmer und
Bruchstücke gescheiterten Lebens zurückgelassen hat, da steht Gott
und schafft mit der unendlichen Macht seiner Liebe Leben neu. Das ist die
pradoxe Botschaft des Karfreitag. Gott selbst im Tod aus Liebe Leben schaffend.
So steht er auch am Ende eines Lebens, er steht auch am Ende deines Lebens und
nimmt die groß geplanten und gestalteten Entwürfe und die kleinen
Stücke und die Bruchstücke, dich selbst, auf in den Schutzraum seiner
Liebe. Wo Gott aufsammelt, geht nichts verloren.

In einer kleinen Dorfkirche in Südtirol fand ich einen
Gekreuzigten, und aus dem Kreuz sprießen allenthalben Äste des
Lebensbaumes. Um die Lebenshoffnung und Lebensfreude auch ganz handgreiflich
darzustellen, hängen an dem dem Kreuz entsprießenden Lebensbaum
rotgoldene Äpfel.

Der Lebensbaum alleine ist ein Symbol der Fruchtbarkeit, und er
ist für die, die nicht oder nicht mehr um ihn herumtanzen können kein
Hoffnungssymbol. Aber der dem Kreuz entwachsene Lebensbaum symbolisiert die
Hoffnung auf neues Leben, weil Gott ein für alle Mal am Kreuz den Tod
überwunden hat.

Amen.

(Ich schlage vor, die Predigt durch das Singen der
Passionsgeschichte zu unterbrechen)

Karfreitag 2000, Universitätsgottesdienst in Leipzig

Prof. Dr. Gunda Schneider-Flume, Leipzig/Dresden
E-Mail: gdrschn@attglobal.net

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