Johannes 19,20 ff.

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Johannes 19,20 ff.

 


Sermons from Göttingen on the Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

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Worte vom
Kreuz
Predigtreihe für die Passionszeit 2000
3. Sonntag der
Passionszeit, Okuli

26.3.2000
Johannes 19,20 ff.


Joachim Goeze


Was ist der Sinn des Leidens Jesu ?

Eine der großen und unmittelbar einleuchtenden Handlungen
des sterbenden Jesus erhellt in ergreifender Weise, wie sein Leiden uns zugute
kommen kann. Die beiden Worte Jesu am Kreuz sind und wirken wie ein
Vermächtnis: „Frau, sieh, das ist Dein Sohn“ – zu seiner Mutter, und mit
Blick auf Johannes, seinen besten Freund und Gottesbruder: „Sieh, das ist Deine
Mutter“.

Ergreifend wie einer da im Sterben und wohlberechtigt, sich zuerst
um sich zu kümmern, an seine Mutter denkt, (die nach orientalischem Recht
nicht allein leben kann). Paradox an manchen Kranken- und Sterbebetten: Die,
die voll Vertrauen ins Land des Todes und der Freiheit gehen, sind in der Lage,
die Traurigen, die Zurückbleibenden, zu trösten. Müßten
selber, wie es scheint, am meisten getröstet werden und sind doch
fähig, ihr Vertrauen in Gott und seine Möglichkeiten so zu leben bis
zum Schluß, daß ihnen die Kraft bleibt, sich ganz um irdische
Sorgen zu kümmern.

Was wird mit denen, die nun allein zurechtkommen müssen? Der
Evangelist Johannes antwortet auf unsere Frage nach dem Sinn dieses Leidens mit
dem Bild und zugleich ganz irdischen Auftrag eines letzten Vermächtnisses.
Indem Jesus seine Mutter und seinen besten Freund zur neuen Familie Gottes
verbindet: „Fortan nahm sie der Jünger zu sich“ überläßt –
johannneisch gesprochen – der himmlische Menschensohn das Schicksal seiner
Mutter und das seines besten Freundes gerade nicht seinem himmlischen Vater.
Der „am Kreuz Erhöhte“ erdet sich und die ihm Anvertrauten und
kümmert sich darum, daß sie eine neue heilige Familie gründen
nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden. Ein theologischer Gedankengang von
tiefem symbolischem und zugleich realem Gehalt: ‚ irdisch noch, schon himmlisch
sein‘.

Jesus schafft in Gott gestiftet eine neue irdische
Realitität. Wird diese wahr- und angenommen, hinterläßt Jesu
Tod eine Lücke, die neu verbindet. Diese Erfahrung drückt Dietrich
Bonhoeffer folgendermaßen aus: „es gibt nichts, was uns die Abwesenheit
eines uns lieben Menschen ersetzen kann und man soll das auch gar nicht
versuchen; man muß es einfach aushalten und durchhalten; das klingt
zunächst sehr hart, aber es ist doch zugleich ein großer Trost; denn
indem die Lücke wirklich unausgefüllt bleibt, bleibt man durch sie
miteinander verbunden.

Wem der Gedanke einer neuen heiligen Familie zu abgehoben
erscheint, den bitte ich doch nachzudenken, wie es einer ‚Andacht‘ angemessen
ist. Bitte fragen Sie sich doch mal, gibt es nicht in unsern Familien manche,
mit denen wir uns gar nicht verstehn? Vielleicht haben wir vieles gemeinsam,
haben aber womöglich gerade wegen dieser Gemeinsamkeiten und deren
unterschiedliche Bewertung keine Gemeinschaft mehr ? Wie oft sind sich
Vater und Sohn nur deswegen uneinig, weil sie sich zu ähnlich sind, sich
zu gut kennen? Gibt es nicht auch Erfahrungen, daß sich Geschwister ein
Leben lang fremd bleiben? Was aber ist demgegenüber eine neue
Familienbeziehung, die durch die verzeihende Liebe Gottes getragen wird und im
Vermächtnis eines geliebten Menschen begründet ist? „Je schöner
und voller die Erinnerungen“ schreibt Bonhoeffer, „desto schwerer die Trennung.
Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude.
Man trägt das vergangene Schöne nicht wie einen Stachel, sondern wie
ein kostbares Geschenk in sich. Man muß sich hüten, in den
Erinnerungen zu wühlen, sich ihnen auszuliefern, wie man auch ein
kostbares Geschenk nicht immerfort betrachtet, sondern nur zu besonderen
Stunden und es sonst nur wie einen verborgenen Schatz, dessen man sich
gewiß ist, besitzt; dann geht eine dauernde Freude und Kraft von dem
Vergangenen aus….“(Widerstand und Ergebung 131)

Jesu ganz konkrete Wort vom Kreuz herab, sind deswegen nicht nur
Abschied, sondern auch ein Neubeginn, Ermunterung, nicht am Grabe
stehenzubleiben, sondern die ganz irdischen Aufgaben eines durch den Tod
getroffenen Lebens neu in Angriff zu nehmen. Vielleicht war es diese taten- und
tonlose Trauer, oder Gleichgültigkeit um alles in den sozialen
Beziehungen, gegen die sich der Apostel Paulus wendet, wenn er die Korinther
erinnern muß: „Nun aber kennen wir Jesus nach dem Fleisch nicht mehr..“
(2.Kor.5,16)

Wie Leid und Tod verwandeln und wie so etwas aussehen kann, ich
habe es erlebt. Eine Frau verliert ihren Sohn vierzigjährig durch einen
schnellen Tod. Ein Jahr später mitten in der gemeinsamen Trauer stirbt
auch ihr Mann. ‚Was kann noch Schlimmeres kommen?‘ Gott schenkt ihr die Kraft,
diese Empfindung, was kann noch Schlimmeres kommen, in Mut zu verwandeln. Sie
wird fähig, an jedes Krankenbett treten zu können. Heute
feiert sie an ihrem 75.Geburtstag 15 Jahre Krankenhausbesuchsdienst. Und sie
kann zu Gott dankbar sagen: Du hast meine Klage verwandelt.

Wenn so der Sinn des Leidens Jesu erfaßt und gelebt wird,
dann ist er nicht umsonst gestorben und sind seine Worte am Kreuz bleibendes
Vermächtnis. Die Familie Gottes als die Gemeinschaft der Leidenden und
Wissenden nimmt aufs Neue Maß an der Selbstlosigkeit Jesu, die zugleich
befreit. Wie Jesu Vertrauen in seinen himmlischen Vater ihn freimacht, sich um
das irdische Glück seiner Lieben zu kümmern, so kann auch unser
Fragen nach dem antwortlosen Warum verwandelt werden.

Aus dem anklagenden Fragen an den fernen Gott wird ein irdisches
Sich-kümmern um die mitleidenen Nächsten. Die Beziehung zu Gott durch
das Kreuz befreit von Selbstmitleid zu aktiver Zuwendung zum Nächsten, was
neuen Lebenssinn schenken kann. So also gewinnen vielleicht das Leiden Jesu und
seine Worte am Kreuz auch in unserm Kreuz und Leiden die Qualität, uns zu
Annahme des Vergangenen und Ermutigung zu neuem Anfang bewegen zu können.

Lesung: Jes. 53, 4-12
Lied: Du großer Schmerzensmann

Dr. Joachim Goeze
Schlesierstr. 1a
38448
Wolfsburg

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