Markus 10,14-15

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Markus 10,14-15

Predigt zu  Markus 10,14-15, verfasst von Pfarrer Jan Ulrik Dyrkjøb


Zu allen Zeiten hat man Grenzen gesetzt um das
Heilige. Heilige Stätten, Opferstätten, eingegrenzte Bereiche,
wo Rituale und Prozessionen stattfanden, heilige Berge, heilige Steine,
heilige Bäume, heilige Quellen, Stätten, an denen Mirakulöses
geschehen ist, Tempel, Synagogen, Moscheen, Kirchen. Alles abgegrenzte
Stätten, Bereiche und Räume.

Wir wissen auch von heiligen Stätten oder heiligen Räumen
oder Bereichen, die besonders heilig sind. Wir kennen den allerheiligsten
Tempel in Jerusalem im alten Israel. Und wir haben den Altar und den
Chorraum als einen besonderen Teil des Raumes in unseren alten Kirchen.

Wir kennen auch heilige Zeiten. Das Leben besteht aus Alltagen, aber
es gibt auch die besonderen Tage. Einige von ihnen nennen wir noch immer „Feiertage“,
in der dänischen Sprache „heilige“ Tage, im Deutschen
z.B. „Heiligabend“! Das sind die kirchlichen Feiertage, Weihnachten,
Ostern, Pfingsten und andere Feiertage im Laufe des Jahres.

Und dann gibt es Feiertage und Gedenktage in unserem Leben – nicht
zuletzt in unserem Familienleben. Auch das sind besondere Tage. Die Reihe
von Alltagen wird unterbrochen. Wir halten ein. Etwas Besonderes tut
sich, etwas Besonderes, das unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt.
Etwas ist anders, etwas, das in irgendeinem Sinne heilig ist.

Warum gibt es Grenzen um das Heilige? Warum muß das Heilige etwas
Besonderes sein in bezug auf das Gewöhnliche?

Die einfachste Erklärung ist natürlich die, daß das
Heilige eben immer etwas Besonderes ist. Das Heilige unterscheidet sich
von allem anderen und ist anders. Wir brauchen das Heilige, aber das
Heilige ist nicht dasselbe wie die allgemeine Welt und das allgemeine
alltägliche Leben. Es existiert und geschieht in der Welt, aber
es gehört in einer gewissen Weise nicht in die Welt.

Wenn wir dem Heiligen begegnen, werden wir daran erinnert, was der
Sinn des Lebens ist. Dann holen wir Kraft, um das Leben weiterzuleben.
Dann werden wir mit den dunklen Seiten des Daseins versöhnt – mit
Schuld, Unglück und Tod. Und wenn wir mit dem Heiligen in Berührung
gekommen sind und aus ihm Stärke empfangen haben, können wir
in das alltägliche Leben zurückkehren.

Es gibt aber auch eine andere Pointe. Das Heilige unterscheidet sich
vom alltäglichen Leben und wird von ihm abgesondert, weil wir es
in gewisser Weise nicht ertragen können, immer mit dem Heiligen
zu tun zu haben. Es ist zu anders. Es ist zu stark. Es ist zu herausfordernd.
Vom Heiligen geht eine Kraft und eine Orientierung für unser Leben
aus, die wir nicht entbehren können, die wir aber auch aus Distanz
halten müssen. Wenn wir immer ganz eng am Heiligen wären, würde
uns das zu viel.

Es liegt tief in uns Menschen, daß wir meistens gewöhnliche
Menschen sein wollen, die in der Welt leben. Wir brauchen den Alltag
und das Leben in der Welt. Wir brauche die kleinen Dinge des alltäglichen
Lebens, die Arbeit, die gemacht werden muß, die Mahlzeiten, das
Zusammensein, das Gespräch um alltägliche Dinge, Stille, Spiel,
Lachen, die einfache und bunte Mischung des Daseins, das Licht am Morgen,
das wirksame Leben des Tages, die nachdenkliche Ruhe des Abends.

All das ist in gewisser Weise weit weg von dem Besonderen, dem Feierlichen,
Gewaltigen, das wir nicht fassen können, den Idealen, Visionen,
dem Wort Gottes, der Rede Gottes, der unbedingten Forderung Gottes, dem
Segen Gottes.

Wir können etwas von dem sehr konkret veranschaulichen, wenn wir
auf die Geschichte der Kulturen und Religionen zurückblicken. Man
hat heilige Stätten gehabt, wo sich die Leute versammelten, um ihren
Göttern zu opfern und sie anzubeten und ihre Feste zu feiern. Und
oft waren diese „Stätten“ verbotene Stätten.

Das bedeutete: Wenn man sich im Bereich des Heiligen befand, mußte
man allen Streit hinter sich lassen. Wenn sich mehrere Stämme an
einem Ort versammelten, mußten alle Stammesfehden für eine
Weile ruhen. Das galt zum Beispiel für Mekka in der Zeit vor Mohammed.
Hier war im heidnischen Arabien ein wichtiger Ort, die Götter anzubeten,
ein Ort des Friedens für die Wüstenstämme. Man durfte
nicht einmal Jagdbeute machen oder Pflanzen aus der Erde reißen.
Der Heilige Ort war ein Bild des Paradieses.

Aber dort konnte man ja nicht leben! Dort konnte man hingehen und Segen
empfangen und Versöhnung schaffen, aber man mußte ins Leben
zurückkehren. Zurück zum Kampf ums Überleben. Es war notwendig,
eine scharfe Grenze zu setzen zwischen dem heiligen Ort und dem Leben
draußen – wegen der Heiligkeit – aber auch um des Lebens willen.

Das Heilige muß eingegrenzt werden, und der, der die Grenze überschreiten
will, muß dafür gerüstet sein. Man muß vorbereitet
sein. Man muß eingeweiht sein. Man muß Priester haben, die
stellvertretend für alle anderen in den Bereich des Heiligen eintreten
können. So ist es auch immer gewesen.

Von hier aus wollen wir uns nun dem Bericht zuwenden, den wir gehört
haben und so gut kennen. Jesus sagt zu den Jüngern: „Lasset
die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, den solcher ist das
Reich Gottes“.

Wir hören diese Worte bei jeder Taufe. Wir kennen die Worte so
gut, daß wir leicht ihre wirkliche Reichweite übersehen. Man
sagt nicht zu viel, wenn man sagt, daß diese Worte etwas vom Aufsehenerregendsten
und Revolutionärsten sind, das jemals gesagt worden ist.

Man denke daran, was das, was Jesus hier sagt, eigentlich beinhaltet!
Jeder kennt ja die Grenze zum Heiligen und weiß, daß das
eine unverrückbare und undurchdringbare Grenze ist. Jeder weiß:
Wenn wir eine Verbindung zum Heiligen benötigen, müssen wir
aus dem Alltag hinaus in den Bereich des Heiligen.

Wir müssen den Segen an einem heiligen Ort holen, im Tempel, an
einem Wallfahrtsort – oder wo wir den Segen und die Kraft sonst finden
können. Und wir müssen vorbereitet und eingeweiht werden. Oder
wir müssen eine heilige Person haben, die uns vertritt. Oder wir
müssen zumindest das Gesetz kennen, das Gott gegeben hat, und es
einhalten.

Aber Jesus sagt, daß diese kleinen Kinder, die nicht einmal so
groß sind, daß sie selber gehen können, direkt Zugang
zum Heiligen haben. Sie haben direkten Zugang zum Reich Gottes, ihnen
gehört das Reich Gottes.

Sie sind keine Erwachsenen. Sie sind unmündig. Sie stehen außerhalb
von Gesetzen und Regeln. Sie haben nichts von der Gesellschaft, der Religion
und den Traditionen gelernt. Sie haben keine irgendwie geartete Einweihung
erhalten.

Was Jesus sagt, ist ja dies: Wir brauchen keine besonderen heiligen
Stätten. Wir brauchen keinen Tempel und keine Synagoge. Wir brauchen
das Gesetz nicht zu erlernen und die heiligen Schriften nicht zu kennen.
Wir brauchen keine besondere Einweihung oder einen besonderen Segen oder
eine besondere Genehmigung.

Denn allein weil wir Menschen sind – so wie diese Kinder Menschen sind
– wird und alles geschenkt, was Gott uns zu geben hat. Das Reich Gottes
ist uns geschenkt. Es ist unser Erbe, es gehört uns wirklich. Das
Heilige kennt keine Grenzen. Gott kennt keine Grenzen.

Ehe wir dazu gekommen sind, uns irgendwelche Gedanken darüber
zu machen, wie wir Gott finden und mit dem Heiligen in Verbindung kommen
sollen, hat Gott längst umfassend für uns gesorgt.

Er hat am Anfang Himmel und Erde geschaffen, er umfaßt alles.
Wir können in keiner Weise etwas unternehmen, was uns Gott näher
bringen kann als wir schon sind.

Und das, worüber Jesus spricht, ist nicht nur ein möglicher
Weg zu Gott. Es ist der einzige Weg! „Wer das Reich Gottes nicht
empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen“.

Es bleibt nichts anderes als alle Grenzen zu vergessen und alle Rituale
und Einweihungen abzuschaffen, alle heiligen Häuser einzureißen
und alle heiligen Stätten zu beseitigen. Das sind ja alles Wege,
auf denen wir glauben, in das Reich Gottes kommen zu können. Aber
es nützt nichts. Es gibt nur einen Weg: Das Reich Gottes zu empfangen
so wie ein kleines Kind das empfängt, was ihm Mutter oder Vater
gibt.

Wir haben es eigentlich immer gewußt. „Herr unser Herrscher,
wie herrlich ist dein Name in allen Landen, der du zeigst deine Hoheit
am Himmel!“ (Ps. 8,2) So sagt der Psalmist. Wir haben es gehört.
Es gibt keine Grenzen. Gott setzt keine Grenzen.

Wir haben es immer gewußt. Aber die Apostel und die Jünger
müssen es neu lernen, und wir müssen es neu lernen. „Gehet
hin und macht zu Jüngern alle Völker: taufet sie auf den namen
des Vaters und des Sohnes und es heiligen Geistes“ (Matth. 28,19).

Jesus spricht nicht von einem bestimmten Volk, sondern von allen Völkern.
Er redet nicht von Kirchen und Pastoren und Systemen und Ordnungen. Er
spricht allein von der Taufe: Du empfängst das Reich Gottes und
die Kraft Gottes allein, weil du ein Mensch bist: „Er herzte sie
und legte die Hände auf sie und segnete sie“. So einfach war
das, so einfach ist das.

Und was ist daraus geworden? Haben wir das Reich Gottes empfangen?
Hat Gott seine Welt in Besitz genommen? Ja, Gott hat seine Welt in besitz
genommen. Aber nein, wir haben vergessen, worum es geht. Wir haben den
Gedanken an das Heilige vergessen. Wir rechnen nur damit, daß die
Welt unsere Welt ist.

Die Grenze zwischen dem Heiligen und dem Alltäglichen ist mit
Jesus durchbrochen, aber mit der Zeit geschah dies, daß das Heilige
fast ganz aus der Welt verschwunden ist. In unserem Teil der Welt haben
wir einen enormen Abstand zu Gott geschaffen. Und das Anliegen hier ist
ja gerade das Gegenteil!

Was Jesus verkündet, bedeutet ja nun, daß die Grenze des
Heiligen an die Grenze der Welt verlegt ist. Die Grenze geht nicht mitten
durch die Welt, sondern liegt außerhalb der Welt. Nun ist alles
heilig. Nun umfaßt Gott alles. Nun leben wir mit Gott und für
Gott – immer und überall. Nun gibt es nichts, das so gering ist
und so alltäglich, daß es gleichgültig wäre für
Gott. Nun sind wir unendlich gesegnet und unendlich verantwortlich. Das
ist fast nicht zu ertragen!

Das ist nicht zu ertragen – aber eben das will das Evangelium.

Wir neigen immer dazu, das Evangelium zu reduzieren. Wir machen es
zu etwas weniger, als es ist. Vergebung der Sünden. Zusage der Liebe
Gottes. Daß der Vater Jesu im Himmel unser Vater im Himmel wird.
All das ist richtig. Aber es ist zu wenig.

Das Evangelium ist eine Verwandlung unseres ganzen Wirklichkeit. Alles
ist anders. Alle Stätten sind heilige Stätten. Alles Zeiten
sind heilige Zeiten. Alle Menschen sind Menschen Gottes. Alles steht
unter der Herrschaft Gottes in und mit Christus.

Wir hören in der Epistel: „Es ist alles durch ihn und zu
ihm geschaffen. Und er ist vor allem und es besteht alles in ihm …
er, der der Anfang ist, der Erstgeborede von den Toten, auf daß er
in allen Dingen der Erste sei. Denn es ist Gottes Wohlgefallen gewesen,
daß in ihm alle Fülle wohnen sollte“ (Kol. 1,17f.). Was
ist das anderes als eine ganz andere Wirklichkeit als die, welche die
Welt je gekannt hat! Amen.


Pfarrer Jan Ulrik Dyrkjøb
Knud Hjortsøvej 26
DK-3500 Værløse
Tel.: ++ 45 – 44 48 06 04
e-mail: jukd@vaerloesesogn.dk

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