Matthäus 6, 10

Matthäus 6, 10

 


Predigtreihe zum Vater-Unser
von Klaus Bäumlin

Unser Vater im Himmel, dein Reich komme!
Nydeggpredigt am Bettag, 16. September 2001

Gott, unsere Ratlosigkeit über den Lauf der Welt, unser Entsetzen
über die Verhältnisse, unter denen Menschen an Leib und Seele
zugrunde gehen, unser Erschrecken über den Triumph der Gewalt, über
die masslosen Zerstörungen – und wir denken jetzt nicht nur an New
York und Washington! – , unsere Trauer über das namenlose Leid, unsere
Schuld, durch die wir als die Reichen und Sicheren mit beteiligt sind
an der Ungerechtigkeit – das alles bringen wir jetzt vor Dich, Gott. Vor
Dich, weil Du der Schöpfer und Hüter des Lebens bist; vor Dich,
weil Du allein die Welt erneuern und die Menschen befreien kannst aus
dem Teufelskreis von Schuld und Angst, von Hass und Gewalt, vor Dich,
weil allein Deine Liebe Schuld vergeben, Gewalt überwinden und unserer
Erde Zukunft geben kann.

Wir wollen umkehren zu Dir:
die Gerechtigkeit suchen,
den Frieden bringen,
die Versöhnung leben.
Wir wollen umkehren zu Dir
Und in der Gemeinschaft mit Dir
Leben und feiern, ruhen und wirken.

„Unser Vater im Himmel! Dein Reich komme!“ (Matthäusevangelium
6,10)

Liebe Gemeinde, es ist ja schon eine gehörige Zumutung, was Jesus
seine Jünger – und uns! – da beten heißt. Sind wir uns eigentlich
bewusst, um was wir da beten? Und wenn es uns bewusst ist – können
wir wirklich im Ernst so beten? „Dein Reich komme!“ – das ist
ja ein Gebet, das gegen unsere ureigenen Interessen geht. Denn wenn es
erhört werden und in Erfüllung gehen sollte, dann müssten
ja unsere Reiche mit ihren Ordnungen, ihren geschriebenen und ungeschriebenen
Gesetzen und Spielregeln vergehen.

Erstes Beispiel: unsere Schweiz mit ihrem demokratischen Staatswesen.
Der Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag gibt ja Gelegenheit, auch
von diesem Reich zu reden. Den meisten von uns ist es recht wohl in diesem
Reich, dass uns politische und zivile Rechte, ein ziemliches Mass an sozialer
Sicherheit gibt und in dem wir als Bürger und Bürgerinnen mitbestimmen
können und zu Hause sind. Zahllose Menschen indessen erfahren, dass
sie in diesem Reich durchaus nicht willkommen sind, keine Rechte haben
und jederzeit damit rechnen müssen, ausgeschafft zu werden. Ich denke
an die sogenannten „Papierlosen“ und an Asylbewerber. Jesus
aber hat gesagt, ins Reich Gottes, da würden „viele kommen von
Osten und von Westen und mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu
Tisch sitzen“ (Mt 8,11) – also gleichberechtigte Bürger und
Bürgerinnen sein. Sollte also die Bitte „Dein Reich komme!“
in Erfüllung gehen, dann sähe unsere Schweiz mit ihren Grenzen,
mit ihren dauernd revisionsbedürftigen Ausländer- und Asylgesetzen
ganz anders aus. Ja, vielleicht brauchte es unsere liebe Eidgenossenschaft
dann gar nicht mehr.

*

Zweites Beispiel: In unserem Staat gilt zwar der Grundsatz, dass alle
Menschen vor dem Gesetz gleich sind. In unserer Gesellschaft hingegen
regiert das ungeschrieben Gesetz der Ungleichheit. Nicht alle haben die
gleichen Chancen. Nicht alle werden gebraucht. Es gibt Erste und es gibt
Letzte. Es gibt solche, die viel leisten und sich viel leisten können.
Und es gibt andere, die, aus was für Gründen auch immer, wenig
leisten können und sich auch nur wenig leisten können. Die meisten
von uns, die wir hier in der Kirche sitzen, kommen dabei ganz gut weg.
Wir befinden uns zwar nicht gerade auf der Spitze der Pyramide, aber so
ungefähr im oberen Drittel. Kein Grund also für uns, eine Änderung
herbeizuwünschen oder herbeizubeten. Jesus aber hat das Reich Gottes
verglichen mit jenem seltsamen Ökonomen, der allen Arbeitern im Weinberg
den gleichen Lohn auszahlte, ob sie nun zehn, fünf oder bloss eine
Stunde gearbeitet hatten. Und Jesus fügte hinzu: „So werden
die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.“ (Mt 20,1-16)
Im Reich Gottes wird nicht nach der Leistung verteilt, sondern danach,
was jeder zum Leben nötig hat. Ganz schön revolutionär
ist das. Überlegen wir es uns also gut, wenn wir beten „Dein
Reich komme!“

*

Drittes Beispiel. Zu unserem Reich gehört das Geld, seine alles
beherrschende Bedeutung und der Umgang mit ihm. Wer über genügend
Gelt verfügt, einen regelmässigen Lohn oder eine ausreichende
Rente bezieht, dazu vielleicht Ersparnisse und Wertschriften hat, der
ist eine der grössten Sorgen los. Er ist in vielen Dingen des Alltags
unabhängig. Es ist ein gutes Gefühl, über Geld zu verfügen.
Wem schon einmal in den Ferien im Ausland das Portemonnaie und die Kreditkarte
abhanden gekommen ist, der hat, einen Tag lang jedenfalls, erfahren, was
es heißt, ohne Geld zu sein. Ohne Geld geht einfach nichts in unserer
Gesellschaft. Und ohne Geld zählst du nichts. Jesus aber hat die
Armen glücklich gepriesen, denn ihnen gehöre das Reich Gottes.
Und dem reichen Mann ,der ihn fragte, was er denn tun müsse, um das
ewige Leben zu gewinnen, hat er empfohlen, sich von seinem Reichtum zu
trennen und ihn mit den Armen zu teilen. Denn eher gehe ein Kamel durch
ein Nadelöhr als ein Reicher ins Reich Gottes. Und um dieses Reich,
in dem die Armen mehr gelten als die Reichen, sollen wir beten! Schon
eigenartig, was Jesus uns zumutet. Denn verglichen mit der grossen Mehrheit
der Menschen auf der Erde gehören wir zu den Reichen.

*

Viertes Beispiel. Das Reich, das weit mächtiger ist als jeder Staat
und das seine eigenen Gesetzmässigkeiten hat, ist der globale Markt,
in dem wir alle, ob wir wollen oder nicht, mitspielen müssen. Es
ist ein Reich, das keine Rücksicht nimmt auf den Lebensbedürfnisse
der grossen Mehrheit der Menschen und keine Rücksicht nimmt auf die
Natur. Es konzentriert Reichtum und Macht auf einige Wenige. Es produziert
Heerscharen von Arbeitslosen. Es marginalisiert Millionen von Menschen,
stürzt sie in immer tieferes Elend. Es ist von unheimlicher, umweltumspannender
zerstörender Gewalt und provoziert die wahnsinnige Gegengewalt von
Leiten, die nichts zu verlieren haben. Jesus aber preist die nach Gerechtigkeit
Hungernden und Dürstenden, die Friedensstifter und di um der Gerechtigkeit
willen verfolgt werden – ihnen werde das Reich Gottes gehören. Und
er selber gehörte zu denen, die keine Gewalt ausübten. Er hat
mit keiner Gewalt paktiert, weder mit der menschenverachtenden von oben
noch mit der terroristischen Gegengewalt von unten. Vielleicht, liebe
Gemeinde, beginnen wir zumindest an dieser Stelle zu verstehen, welche
Befreiung und Erlösung es wäre, wenn die Bitte um das Kommen
des Gottesreiches in Erfüllung ginge.

*

Das zu verstehen, fällt uns wohl beim letzten Beispiel, das ich
nennen möchte, viel schwerer. Es ist die Familie. Sie ist wie kaum
ein anderes, unser Reich, unser ganz persönliches, eigenes
Reich. Die Familie gibt uns Geborgenheit in der Zeit. Sie ist unser Zuhause.
Ihr gilt unsere erste Sorge. Für sie leben wir. In wie manchem Lebenslauf
anlässlich einer Abdankung ist der Satz zu hören: „Seine
Familie war ihm das Wichtigste“, oder: „Sie war immer zuerst
für ihre Familie da.“ Jesus aber, als seine Mutter und seine
leiblichen Geschwister nach ihm fragten, liess ihnen ausrichten: „Wer
ist meine Mutter und meine Geschwister“ Und er sah ringsum auf die,
die um ihn im Kreise sassen und sprach: „Siehe, das ist meine Mutter
und das sind meine Brüder. Denn wer den Willen Gottes tut, der ist
mir Bruder und Schwester und Mutter.“ (Mk 3,31-35) Und als sie ihn
fragten, wie das mit den verheirateten Männern und Frauen im Reich
Gottes sein werde, gab er zur Antwort: In der Auferstehung werde man nicht
mehr verheiratet sein, da sei die Ehe kein Thema mehr. Ich nehme an, Jesus
hat dabei an die vielen, vielen Menschen gedacht, denen das Glück
von Ehe und Familie versagt ist, oder denen beim Thema Ehe und Familie
eher ums Klagen und Weinen ist. Er selber war ja dann auch in erster Linie
anzutreffen in der Gesellschaft von solchen, um die sich sonst niemand
kümmerte und um die man einen weiten Bogen machte. Sie waren seine
Freunde, Freundinnen. Mit ihnen feierte er fröhliche Bankette. Zu
ihnen zählte er sich. Er gab ihnen die Gewissheit, dass sie im Reich
Gottes willkommen sind.

*

Also, liebe Gemeinde, können, wollen wir wirklich im Ernst beten
„Dein Reich komme!“ Geht das nicht gegen unsere ureigenen Interessen?
Vielleicht kann man das wirklich nur im Ernst beten, wenn man entweder
zu denen gehört, die in unseren Reichen das Nachsehen haben – oder
wenn man ein Gespür hat für die Widersprüche und Abgründe
unserer Reiche; ein Gespür für ihre Ungereimtheiten, ihre Schattenseiten
und Ungerechtigkeiten, für das Potential an versteckter und offener
Gewalt und Zerstörung, das von ihnen ausgeht, ein Gespür für
das Leid, die Not und die Tränen, auch die Friedlosigkeit, den Hass
und die Verzweiflung, die sie erzeugen.

*

Aber ist es denn nicht eine blanke Illusion, auf ein Reich zu hoffen
und zu warten, das alle unsere Reiche überflüssig und bedeutungslos
werden lässt – ein Reich, welches Leben in Fülle, in Gerechtigkeit
und Frieden für alle bringen wird? Ist dieses Reich nicht
schiere Utopie, etwas, was nie einen Ort haben wird? Wann wird es denn
kommen, das Reich Gottes? Diese Frage haben sie schon Jesus gestellt.
Und seine Antwort: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man’s beobachten
kann. Auch wird man nicht sagen: Da – hier ist es! Oder: Dort ist es!
Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ (Lk 17,21) Und er hat es
verglichen mit einem Senfkorn: „Einmal auf die Erde gesät, obschon
kleiner als alle Samen auf der Erde, aber einmal gesät, steigt es
auf und wird grösser als alle Kräuter und treibt Zweige so gross,
dass in seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten können.“
(Mk 4,31f.)

Wenn wir also im Ernst beten „Dein Reich komme!“, liebe Gemeinde,
dann sind wir bereits involviert in sein Kommen, mit beteiligt und mit
verantwortlich, dass unser Beten in Erfüllung geht. Das Unser-Vater-Gebet
verändert etwas in uns selbst. Es nimmt uns in die Pflicht und richtet
unser Leben aus. Es inspiriert uns zu neuen Spielregeln, zu neuem Verhalten,
es ermutigt uns, uns an neue Ordnungen zu halten, andere, als sie in unseren
eigenen Reichen gelten. Mit seinem Gleichnis vom Senfkorn ermutigt uns
Jesus. Wir können selber dabei sein bei der Erfüllung der Bitte
um das Kommen des Gottesreichs. Unter uns, mit uns beginnt es sich zu
erfüllen in kleinen Anfängen. So viele Möglichkeiten und
Gelegenheiten, seine Spielregeln auszuüben. In der Politik bei der
Abstimmung über Gesetze; in unserem Umgang mit dem Geld; mit unserem
Versuch, über allem Erschrecken über terroristische Gewalttaten
deren Ursachen zu verstehen; mit unserer Weiterung, in den Chor derer
einzustimmen, die nur nach Rache und Vergeltung schreien; mit unserer
Weigerung auch, andere Religionen pauschal zu verurteilen; als Väter
und Mütter, Grossväter und Grossmütter, die über ihren
eigenen Kindern und Enkeln die verlassenen Kinder der Erde nicht vergessen
– so viele Möglichkeiten, liebe Gemeinde, dabeizusein, lebendige
Zeugen zu sein für die Erfüllung der Bitte „Dein Reich
komme!“

Denn wie sollten wir das Grosse, Ganze, das kommen soll, erwarten und
darum bitten, wenn wir nicht auf die kleinen Anfänge achten, in denen
es schon aufscheint und da ist!

(Der zweite Teil des Eingangsgebets stammt von Anton Rotzetter)

Klaus Bäumlin
Pfarrer der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Nydegg in Bern
E-Mail: klaus.baeumlin@mydiax.ch


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