Matthäus 6,12

Matthäus 6,12

 


Predigtreihe zum Vater-Unser
von Klaus Bäumlin

„Unser Vater im Himmel, vergib uns unsere Schuld, wie auch wir
vergeben unsern Schuldigern.“
Nydeggpredigt zu Matth. 6,12 am 25. November 2001

Was meint den Jesus, wenn er uns den Vater im Himmel um Vergebung unserer
Schuld bitten heißt? Es ist wohl gut, wenn wir zunächst einmal
darauf achten, was genau da steht. Ein Vergleich mit dem Lukasevangelium
ist aufschlussreich. Das Unservater-Gebet findet sich auch bei Lukas,
allerdings in einer kürzeren Fassung (Luk. 11,2-4). Dort lautet unsere
Bitte so: „Erlass uns unsere Sünden; denn auch wir erlassen
jedem, was er uns schuldig ist.“ „Unsere Sünden“ heißt
es bei Lukas, „unsere Schulden“ bei Matthäus – wohlgemerkt“
„unsere Schulden“ – das Wort steht im Plural, und es
ist eigentlich schade, dass heute in der ökumenischen Fassung des
Unservaters, entgegen dem biblischen Text, das Wort in der Einzahl steht.

Das griechische Wort (opheilémata), das mit „Schulden“
übersetzt ist, stammt ursprünglich aus dem Rechtsleben. Es meint
sehr konkret das, was ich einem andern schulde. Dabei geht es meistens
um eine finanzielle Schuld, um den Kredit oder das Darlehn, das mit ein
anderer gegeben hat. Ich denke, es ist gut, wenn wir uns diesen konkreten,
materiellen Sinn vergegenwärtigen. Vielleicht hat die fünfte
Bitte des Unservaters tatsächlich auch etwas mit ganz materiellen
Schulden, mit Geld zu tun.

Jesus ist ein Kind Israels. Sein ganzes Denken und Reden ist geprägt
von der Tora, von den Weisungen und Geboten Gottes. Zu ihnen gehört
die Regel des Sabbat- oder Erlassjahres. Im Buch Leviticus, im dritten
Mosebuch (25,8ff.) ist sie beschrieben: Jedes 50. Jahr sollte den Israeliten
als Erlassjahr gelten, in welchem ein allgemeiner Schuldenerlass in Kraft
trat. Wer sich in den Jahrzehnten zuvor verschuldet hatte und sein Grundstück
verkaufen oder verpfänden musste, er erhielt es im 50. Jahr wieder
zurück. Seine Schuld war getilgt und erlassen. Dasselbe galt, wenn
jemand verarmte und sich bei einem andern zur Leibeigenschaft verdingen
musste. Bei Beginn des Sabbatjahrs musste er frei gelassen werden. Zudem
galt in Israel das Zinsverbot. Für ein gewährtes Darlehen durfte
man keinen Zins einfordern. Alle diese Bestimmungen hatten zum Ziel, dauernde
Verschuldung, Verarmung und Abhängigkeit zu verhindern. Gewiss denkt
Jesus bei der Bitte des Unservaters nicht nur an finanzielle, materielle
Schulden – Gott gegenüber haben wir ja keine finanziellen Schulden.
Aber ich bin überzeugt, dass er beim Nachsatz „wie auch wir
vergeben unsern Schuldnern“ auch an finanzielle Schulden denkt.

*

„Unser Vater im Himmel vergib uns unsere Schuld“. Es gibt Schulden,
die wir nicht selber erlassen und vergeben können. Denn vergeben
und erlassen würde doch bedeuten, den angerichteten Schaden wieder
gut machen. Wer aber könnte wieder gut machen, was Menschen einander
angetan haben an Unrecht, Leid und Gewalt? Wer könnte zum Beispiel
gut machen, was der schwarzen Bevölkerung Afrikas zur Zeit der Kolonialisation
von den weissen Eroberern angetan worden ist – die Vernichtung eigener
Kulturen, das Elend der Sklaverei? Wer könnten gut machen, was vor
sechzig Jahren den Juden und Jüdinnen in Europa widerfahren ist?
Wer könnte die Schuld erlassen, durch die die Schweiz schuldig geworden
ist, als sie jüdische Flüchtlinge über die Grenze in den
sichern Tod zurückschickte? Da hilft keine spätere Entschuldigung
und Einsicht.

Das Fatale ist, dass solche unvergebbare Schuld fortwirkt über Generationen,
wie ein Tumor, der nach der Operation seine Ableger im ganzen Körper
hinterlässt. Die koloniale Aufteilung des Schwarzen Kontinents ist
noch heute eine der Ursachen für die nicht enden wollenden Bürgerkriege.
Und der unlösbare, eskalierende Konflikt zwischen Israel und den
Palästinensern wäre so nicht entstanden, wenn die Juden nicht
in Europa die Heimat verloren hätten.

Doch wir brauchen bei den Schulden, die wir selber nicht erlassen können,
nicht einmal an diese grossen geschichtlichen Zusammenhänge zu denken.
Wir sind ja auch da in unserem eigenen kleinen Leben. Versäumtes
und Unterlassenes, feiges und bequemes Wegschauen und Sich-draus-Halten,
wo mutiges Eingreifen nötig gewesen wäre, schweigen, wo man
das rechte Wort hätte sagen müssen, leichtfertiges Rede, wo
man hätte schweigen müssen, eigennützige Entscheide, gleichgültiges
und unbedachtes Verhalten – so viel Verkehrtes. Und manches davon ganz
ohne böse Absicht und manchmal auch ohne dass wir uns dessen bewusst
waren. Und doch haben wir damit andern Menschen geschadet und können
den Schaden oft nicht wieder gut machen. Und schliesslich: Was wir mit
der Schöpfung, der Natur anrichten, die Gott uns anvertraut hat –
kein Mensch kann es wieder in Ordnung bringen, und es wird uns und unsere
Kinder und Enkel noch heimsuchen. Und auch hier: Wir wollen es ja gar
nicht. Aber wir stehen mitten drin in diesem grossen Schuldzusammenhang,
sind mitbetroffen, mitbeteiligt, können uns aus ihm nicht befreien,
Paulus, der radikale Tiefdenker, hat es einmal so geschrieben: „Das
Wollen ist bei mir vorhanden, aber ich vermag das Gute nicht zu verwirklichen.
Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das
ich nicht will.“ (Röm. 7,18f)

Die Bitte „Vergib uns unsere Schuld“ ist eine ganz grosse,
weit gespannte Bitte. Wer sie betet, weiss um das, was wir nicht
gut machen, nicht in Ordnung bringen können. Er weiss um die angerichteten
Schäden im Grossen und Kleinen, die wir nicht beheben, nicht
heilen können. Das kann nur Gott, der Schöpfer, der Vater im
Himmel. Wenn wir ihn bitten „Vergib uns unsere Schuld“, dann
bitten wir ihn, das zu tun, was nur er tun kann: das Buch der Menschengeschichte
auftun und es neu schreiben, die Verlorenen und Vergessenen ans Licht
bringen, die durch Menschenschuld und Unrecht Gedemütigten und Geplagten
rehabilitieren, den Fluch in Segen verwandeln, die Wunden heile, die Tränen
trocknen, die Toten ins Leben rufen und die ganze Schöpfung erneuern.
Einen neuen schöpferischen Akt traut und mutet die Bitte ihm zu –
so umfassend wie die erste Schöpfung „im Anfang“. So weit
ist der Horizont, in den Jesus mit dem Unservater-Gebet unser Leben und
unsere Erde hineinstellt.

*

Aber damit sind wir nun nicht etwa aus unserer eigenen Verantwortung
entlassen.“Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unsern Schuldigern
vergeben.“ Wie auch wir! Die Toten können wir nicht lebendig
machen, das geschehene Unrecht nicht wieder gut machen, die geschehene
Geschichte nicht revidieren. Aber die Menschengeschichte und die Menschengeschichten,
die heute geschehen, an ihnen können wir mitschreiben und
mitwirken.

Und da kommen jetzt die Geld- und Wirtschaftsfragen wieder ins Spiel
– ganz im Sinne es alten Sabbatjahres in Israel. Wir können die Forderung
nach einem Erlass der astronomisch hohen Schulden der Länder unterstützen,
deren Zinslast alles, was wir an Entwicklungshilfe leisten, bei weitem
übersteigt. Wir können mit unserem eigenen Geld mithelfen, Verschuldung
und Abhängig-keiten zu verringern. Wir können unser Geld so
anlegen, dass es zwar nicht die höchste Rendite einbringt, dafür
aber Projekte unterstützt, die vielen Menschen Boden unter die Füsse
geben, Arbeitsplätze schaffen und Lebensperspektiven geben.

Auch die heutige Kollekte ist ein kleines Beispiel, wie wir Schuld vergeben
können. Sie ist für die Sozialarbeit im Regionalgefängnis
Bern bestimmt und gibt den dort tätigen Sozialarbeitern die Mittel,
um mit den Untersuchungs- und Strafgefangenen die Freizeit sinnvoll zu
gestalten. Menschen, die schuldig geworden und dadurch selber ins Elend
geraten sind, geben wir damit ein kleines Zeichen, dass sie nicht vergessen
und abgeschrieben sind, dass es auch für sie noch etwas anderes gibt
als nur Vergeltung und Strafe.

*

Die Bitte um Vergebung der Schuld ist dem Matthäusevangelium so
wichtig, dass es ihr- als einziger Bitte des Unservaters- noch einen Kommentar
hinzufügt: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt,
dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr aber den
Menschen nicht vergebt, dann wird euch euer himmlischer Vater eure Verfehlungen
auch nicht vergeben.“ (Matth. 6,14f.) Wir können Gott nicht
um Vergebung bitten, wenn wir nicht selber aus der Vergebung leben und
sie weitergeben. Wer Gott um Vergebung für seine Schuld bittet, dem
wird Vergebung und Schuldenerlass zur Lebensmaxime.

Und da sind wir wieder bei dem grossen Thema, da wir schon bei den ersten
vier Unservater-Bitten entdeckt haben: Jesus ruft uns und ermächtigt
uns, mit dem Vater im Himmel gemeinsame Sache zu machen, für das
gleiche Ziel zu leben und zu wirken, das auch sein Ziel ist: eine erneuerte
und versöhnte Welt, eine Welt, in der der Teufelskreis von Schuld,
Vergeltung und Angst durchbrochen wird durch Vergebung. Indem Jesus uns
das Unservater beten lehrt, macht er uns zur Verbündeten des himmlischen
Vaters, zu Mitschöpfern und Mitschöpferinnen einer erneuerten
Erde.

In eine Welt, in der gerechnet und abgerechnet wird, in der man einander
die Schulden aufrechnet, und die Schulden samt Zinsen bis zum letzten
Rappen bezahlt werden müssen, in eine Welt, in der man einander gegenseitig
die Schuld zuweist und mit Strafe, Vergeltung und Rache reagiert- in diese
Welt hinein ruft uns Jesus, damit wir Vertrauen investieren, jedem Menschen
eine Chance geben, Vorurteile abbauen, uns nicht verbittern lassen, uns
nicht resigniert zurückziehen.

So viele Möglichkeiten, liebe Gemeinde, Unrecht gut zu machen, Schaden
zu verhindern! So viele Möglichkeiten, Sorge zu tragen zu den Menschen,
zur Natur, zu Tieren und Pflanzen. So viele Möglichkeiten, dem Leben
zu dienen, so viele Möglichkeiten, Schuld und Schulden zu tilgen
und zu vergeben! So viele Möglichkeiten, mitzuschreiben und mitzuwirken
an einer Menschengeschichte, die frei wird von Schuld und Angst! So viele
Möglichkeiten, mitzuwirken an der neuen Schöpfung, um die wir
den Vater im Himmel bitten, die wir ihm zutrauen und zumuten – und die
er uns zutraut und zumutet!

Du Gott voller Erbarmen, Du legst uns nicht fest auf unsre Schuld, lässest
uns nicht hilflos zappeln im Netz der zwischenmenschlichen und weltweiten
Schuldverstrickungen. Du sprichst uns frei.

Hilf uns, die Freiheit, die Du uns schenkst, zu leben. Gib uns Einsicht,
Kraft, Mut und Phantasie, dass wir beiseite räumen, was Menschen
am Leben verhindert. So wie Du uns vergibst, lass auch uns einander vergeben.
Erlöse uns von den Vorurteilen, auf die wir andere festlegen. Gib
uns Worte, die nicht lähmen, sondern aufrichten. Gib uns Blicke,
die nicht kränken, sondern Mut machen. Lass uns die in Schutz nehmen,
über die schlecht geredet wird. Lenke unsere Sorge auf die, die nicht
zurechtkommen, die einen Menschen brauchen, der ihnen zuhört und
sie versteht. Du befreist uns aus Schuld und Angst. Lass auch uns einander
befreiend, wohltuend, heilend begegnen.

Jesus, Du bist unser Friede. Gib uns Deinen Geist, damit sich in unserem
Leben Geschichten von Vergebung und Friede ereignen – Zeichen, dass Gottes
Reich im Kommen ist. Mit den Worten, die Du uns geschenkt hast, beten
wir mit Dir und miteinander.

Unser Vater im Himmel…

Klaus Bäumlin
Pfarrer der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Nydegg in Bern.
E-Mail: klaus.baeumlin@mydiax.ch


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