1. Kor. 6, 9-14. 19-20

1. Kor. 6, 9-14. 19-20

Mitgeschöpflicher | 8. Sonntag nach Trinitatis | 25.7.21 | Predigt über 1. Kor. 6, 9-14 (15-18) 19-20 | Antje Roggenkamp |

 9 Oder wisst ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden? Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener noch Ehebrecher noch Lustknaben noch Knabenschänder 10 noch Diebe noch Habgierige noch Trunkenbolde noch Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes ererben. 11 Und solche sind einige von euch gewesen. Aber ihr seid reingewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.

12 Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich. 13 Die Speise dem Bauch und der Bauch der Speise; aber Gott wird das eine wie das andere zunichtemachen. Der Leib aber nicht der Hurerei, sondern dem Herrn, und der Herr dem Leibe. 14 Gott aber hat den Herrn auferweckt und wird auch uns auferwecken durch seine Kraft. 17 Wer aber dem Herrn anhängt, der ist ein Geist mit ihm.

19 Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört? 20 Denn ihr seid teuer erkauft; darum preist Gott mit eurem Leibe.

 

Verrückte Dinge

„Teile Dein Essen mit einem vollkommen Fremden. Erzähle jemandem eine Lüge. Plane mit jemandem in der Bibliothek Ehebruch zu begehen. Vertraue jemandem, der neben Dir sitzt, ein Geheimnis. Bete zu allen Göttern in der Welt.“

Jemand fordert dazu auf, bestimmte Dinge zu tun. Ungewöhnliches, das unsere Alltagsroutinen durchbricht. Handlungen, die uns wie verrückte Gedankenspiele erscheinen und die wir, wenn wir vernünftig sind, im wirklichen Leben weit von uns weisen. Selbst das „Teile dein Essen mit einem vollkommenen Fremden“ käme mir – auch jenseits von Corona-Zeiten – nicht unbedingt in den Sinn.

Koki Tanaki, eine bekannte japanische Künstlerin hat diese Aufforderungen in großen Lettern auf eine Plakatwand geschrieben. Ein Tisch mit 8 Stühlen steht in einem norddeutschen Museum davor. Auf umstehenden Videoleinwänden wird gezeigt, wie Menschen diese Dinge tun oder, dass sie darüber sprechen, was das Tun dieser Dinge mit ihnen macht. Einige Museumsbesuchende bleiben Kopf schüttelnd stehen, andere eilen rasch vorüber. Während ich die Besucher beobachte, kommt es mir vor, als spiegelte dieses Kunstwerk just jene Reaktionen, die unser Predigttext vor fast 2000 Jahren eingefangen hat. Kunst zeigt, was alles möglich – Menschen zu denken möglich ist. Reaktionen, die unser Brief aufnimmt: „Alles ist mir erlaubt.“ Und die er in die Gegenwart hineinholt: „Alles ist möglich.“

Unser Text fasst diese Aufforderungen anders, ernster – und er kleidet sie in eine Frage: „Wisst ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden?“ Paulus fordert niemanden dazu auf, etwas zu tun, nur weil es möglich ist. Hier wird darum geworben, Handlungen zu unterlassen. „Täuscht euch nicht!“ Und die Begründung ist nachgeschoben: „Weder Unzüchtige noch Götzendiener noch Ehebrecher noch Lustknaben noch Knabenschänder noch Diebe noch Habgierige noch Trunkenbolde noch Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes ererben.“

 

Moralische Empörungen?

Die Aufzählungen des Paulus reihen keine ungewöhnlichen Handlungen aneinander, sie lassen Tadelhaftes erkennen, Quasi-Verbote, mit denen sich die Gemeinde in Korinth auseinandersetzen soll: lästern, räubern, dem Alkohol verfallen, habgierig sein, andere um des eigenen Lustgewinns missbrauchen, Dritten Schaden zufügen. Weil der Mensch sich im Anderen verfehlt, wird er schlechter – so scheint der Tenor zu lauten. Zumal Paulus das Ganze mit einer Mahnung verbindet: „Wisst ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden?“ Sind wir nicht alle gerecht? Leben wir nicht in der Überzeugung immer alles richtig zu machen? Oder meinen wir nicht zumindest das Richtige zu erkennen und irgendwie danach zu handeln?

Korinth ist um 50 n.Chr. eine neu errichtete Stadt. Julius Cäsar selbst hatte den Aufbau nach der großen Zerstörung angeordnet. In der römischen Gesellschaft fand man allgemeine Vorstellungen über Gebräuche vor, die die Unzucht unter Gleichgestellten verpönten. Und auch die christlichen Gemeinden in Kleinasien, dort, von wo aus Paulus schrieb, hielten sich öffentlich an die überkommenen Vorschriften.

In Korinth war es zu Zuzügen aus dem Osten gekommen, aus Smyrna und Rom waren jüdische Bürger übergesiedelt. In der christlichen Gemeinde versammelten sich überwiegend Menschen, die nicht unbedingt Berufe hatten, die mit einem ehrbaren Lebensstil verbunden sind: Armeeveteranen, Freigelassene und Seemänner. Zwar brachten Zeitgenossen mit diesen Berufen Kneipen, aber auch die Käuflichkeit von Liebe in Verbindung. Es spricht aber wenig dafür, dass diese Gemeinde aus moralischen Gründen besonders zu tadeln gewesen wäre. Auch für sie scheint zu gelten, was das Alltagsleben der kleinasiatischen Gemeinden bestimmte: Als Christen waren sie zu anderen Menschen geworden, Menschen, die auf sich selber achteten, Menschen, in deren Augen das Schlechte immer nur von Anderen begangen wurde. Wenn Paulus ihnen gegenüber einen regel(ge)rechten Lasterkatalog zitiert, dann ist zu fragen, ob es ihm wirklich darum gehen kann, traditionelle Kriterien aufzurichten und seiner Gemeinde einzuschärfen. Wenn Paulus auf überkommene Traditionen zurück greift, so hat er damit doch wohl Anderes im Sinn.

 

Sorgenvolle (Welt-)Sichten

In unserem Brief klingen sorgenvolle Töne an. Es steht viel mehr auf dem Spiel als nur ein unehrbarer Lebenswandel: „Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich.“ Hier adressiert jemand Menschen, nicht weil und insofern er sie aus moralischen Gründen tadelt, sondern weil er um die sich selbst unterdrückenden Folgen ihrer Einstellungen und Haltungen weiß. Für Paulus steht mit diesen sich selbst entgrenzenden Einstellungen alles auf dem Spiel. Er tritt nämlich jenen entgegen, die unter fremdem Einfluss verkündeten, dass man sich um das körperliche Leben nicht länger kümmern müsse. Im Angesicht des nahen Reich Gottes sei das physische Verhalten nicht weiter relevant: „Die Speise dem Bauch und der Bauch der Speise; aber Gott wird das eine wie das andere zunichtemachen.“

Lassen wir die letzten Wochen vor unserem inneren Auge vorüberziehen, blicken wir auf katastrophische Szenarien zurück, die sich inmitten unserer Gesellschaft abspielen. Wassermassen spülen ganze Straßenzüge hinfort. Talsperren laufen über und drohen zu brechen. In der großen Flut haben viele Menschen alles verloren. Es wird Jahre dauern, bis all das wieder aufgebaut sein wird. Die Gegenwart wartet mit bestürzenden Parallelen auf. Hat es nicht genug mahnende Stimmen gegeben? Stimmen, die uns immer wieder aufzeigten, wohin unser unbedarfter Umgang mit den Ressourcen unserer Erde führen könnte? Der Club of Rome in den 1970er Jahren, die Umweltbewegungen in den 80er und 90er Jahren, Fridays for future in diesem Jahrzehnt?

 

Wissen wir um unser Nichtwissen?

Das was Jürgen Habermas über eine andere Krise schreibt, scheint auch auf die aktuelle übertragbar: „So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit zu handeln und leben zu müssen, gab es noch nie.“ Denn schon jetzt streiten sich nicht nur die politisch Verantwortlichen darum, wie dieser Aufbau aussehen soll: Sollten die Flüsse ihr ursprüngliches Flussbett wieder erhalten? Ist es sinnvoll, weiterhin Baugebiete in Hochwasserregionen auszuweisen? Und auch darüber, was alles sonst noch zu verändern ist, herrscht keine Einigkeit: Windräder ja, aber nicht vor unseren Gärten. Bahntrassen ja, aber bitte durch den Nachbarort. Und auch Einschränkungen beim CO2-Verbrauch werden nicht von jedem als sinnvolle Maßnahme angesehen. Den einen gehen sie zu weit, den anderen nicht weit genug. Der immer wieder erhobenen Forderung, das Alles weiterhin möglich, jeder noch so verwegene Gedanke zu denken erlaubt sein müsse, stehen Überlegungen entgegen, die demütige Beschränkungen anmahnen. Nicht zuletzt deswegen, weil auch Anderes mit in den Abgrund zu geraten droht. Haben wir in den letzten Monaten zu viel social distancing betrieben? Kann es uns wirklich gelingen, inmitten unseres Nichtwissens aus eigener Kraft zu anderen, demütigeren Menschen zu werden?

 

Verantwortlichkeiten

Paulus bildet nicht nur Traditionen um. Er führt sie auch weiter. „ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.“ Wenn er uns aber gerecht spricht, obwohl er uns doch gerade erst noch als Ungerechte, also als Menschen, denen alles erlaubt ist, mahnen zu müssen meinte, dann muss er begründen, warum er diese Kehrtwende vollzieht: „Gott aber hat den Herrn auferweckt und wird auch uns auferwecken durch seine Kraft.“ Und so geht es ihm weniger darum, was in einer fernen Zukunft irgendwann einmal ererbt werden kann. Paulus schlägt vielmehr vor, die eigene Blickrichtung zu verändern und darüber nachzudenken, wie man sich das, was in der Zukunft gewiss geschieht, in der Gegenwart vorstellen kann: „Oder wisst ihr nicht, […] dass ihr nicht euch selbst gehört?“

Dieser Gedanke nimmt Fragen auf, die sich auch uns gegenüber vermeintlich feststehenden Einsichten imponieren: Gibt es im Rückblick auf die Katastrophe nichts Anderes als Parteiungen und Zerstrittenheiten? Entwickeln wir mit Blick auf die vor uns liegende Zukunft nur spannungsvolle Unsicherheiten? Hilft im Blick auf unsere ungewisse Gegenwart nur eine verzweifelte Protestkultur? Ist uns wirklich alles möglich?

 

Wir werden „mitgeschöpflicher“ …

So verrückt sind die Dinge dann gottlob nicht. Wir werden nicht deshalb zu anderen Menschen, weil wir uns unserer Vergangenheit möglichst rasch entledigen, sondern dadurch, dass wir uns von Paulus an unsere Vergangenheit mit diesem Anderen erinnern lassen: „Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist?“ Inmitten unserer aus den Fugen geratenen Welt werden wir eingeladen, auszuprobieren, was dieses Bild für uns bedeuten kann. Fühle ich mich getragen oder unterstützt mich der Heilige Geist in dem, was ich mir ohnehin vorgenommen habe? Baut er uns Brücken aus der spannungsvollen Unsicherheit heraus oder stellt er sich inmitten von Katastrophischem uns tröstend auf die Seite?

Ein bekannter Theologe, Eberhard Jüngel, hat dieses Bild einmal so übersetzt: „Gott ist für den Menschen ebenso wenig überflüssig, wie er eine notwendige Funktion des Menschen ist. […] Doch das nun wiederum so, daß der Mensch seinerseits als ein Wesen offenbar wird, dessen Menschlichkeit darin besteht, immer noch menschlicher zu werden.“ Man kann dies aber auch noch einmal mit Paulus anders verstehen: Gott selbst hat uns losgekauft, und deshalb gehören wir nicht länger uns selbst. Gerade, weil er uns aus den von uns selbst gesetzten Grenzen befreit, ermöglicht er uns, behutsamer auf das Leben in der Welt zu achten. Wir werden nicht nur mitmenschlicher, sondern auch zu seinen (Mit-)Geschöpfen: „Wer aber dem Herrn anhängt, der ist ein Geist mit ihm.“

 

Lieder:

EG 444, 1-5 Die güldene Sonne bringt Leben und Wonne

EG 295, 1-3 Wohl denen, die da wandeln

EG 414, 1-2,4 Lass mich, o Herr, in allen Dingen

EG 369, 1.4.7 Wer nur den lieben Gott lässt walten

Prof. Dr. Antje Roggenkamp

en_GBEnglish (UK)