Ernste Töne

Ernste Töne

Predigt zu Jesaja 5,1-7 | Reminiszere 28. Februar 2021 | verfasst von Paul Wellauer |

Predigttext Jesaja 5,1-7 [Die Zürcher Bibel, Ausgabe 2007, © Theologischer Verlag Zürich]

Das Lied vom Weinberg

1 Erlaubt, dass ich singe von meinem Freund, das Lied meines lieben Freundes von seinem Weinberg. Mein Freund hatte einen Weinberg, an steiler Höhe, überaus fruchtbar. 2 Und er grub ihn um und befreite ihn von Steinen, und er bepflanzte ihn mit edlen Reben, und in seiner Mitte baute er einen Turm, und auch eine Kelter schlug er darin aus. Und so hoffte er, dass er Trauben trage, doch er brachte stinkende Fäulnis hervor. 3 Und nun, Bewohner von Jerusalem und Männer aus Juda, richtet doch zwischen mir und meinem Weinberg. 4 Was bliebe noch zu tun für meinen Weinberg, das ich nicht getan hätte? Wie konnte ich hoffen, er würde Trauben tragen – stinkende Fäulnis hat er hervorgebracht! 5 Und nun erlaubt, dass ich euch wissen lasse, was ich mit meinem Weinberg mache: Seine Hecke ausreissen, dann soll er kahl gefressen werden; seinen Zaun einreissen, dann soll er zertreten werden. 6 Und ich habe ihn zur Verwüstung freigegeben, er wird nicht geschneitelt werden und nicht behackt, und Dornen und Disteln werden aufspriessen in ihm. Und was die Wolken betrifft, so werde ich Befehl geben, keinen Regen mehr auf ihn fallen zu lassen. 7 Der Weinberg des HERRN der Heerscharen ist das Haus Israel, und die Männer aus Juda sind, was er aus Leidenschaft gepflanzt hat. Und er hoffte auf Rechtsspruch, doch seht: Rechtsbruch! Und auf Gerechtigkeit, doch seht: Schlechtigkeit!

Selig ist jeder Mensch, der Gottes Wort hört, in seinem Herzen bewahrt und danach lebt. Amen

Liebe Gemeinde, liebe Brüder und Schwestern in der Liebe und Gnade Gottes

Stellen wir uns für einen Moment vor, wir würden in einer grossen Firma in der Personalabteilung arbeiten. Ein Betriebszweig der Firma hat sehr schlechte wirtschaftliche Prognosen: Der Beschluss der Firmenleitung steht fest, die Abteilung wird geschlossen und allen Mitarbeitenden wird gekündigt. Und nun soll die Leitung der Personalabteilung den Mitarbeitenden die Kündigung aussprechen: Welchen Rat geben wir den Verantwortlichen? Welche Worte soll sie wählen für diese schwierige Botschaft?

Und ich mache es uns noch etwas schwerer: Wir arbeiten bei einer Fluggesellschaft als Verantwortliche für die Kommunikation. Da erreicht uns die Schreckensnachricht, dass ein Flugzeug abgestürzt ist und wenig Hoffnung besteht, dass es Überlebende gibt. Wie willst du den Angehörigen mitteilen, das ihre Mutter, ihr Bruder, ihre Tochter mit grosser Wahrscheinlichkeit tödlich verunglückt sind?

Ernste, tragische, schlimme Nachrichten, die niemand gerne überbringt und noch weniger gerne empfängt.

Der Prophet Jesaja hatte eine ähnliche schwierige und ernste Botschaft zu übermitteln: Gottes guter, fruchtbarer Weinberg, «das Haus Israel und die Männer aus Juda» (Vers 7) sollen zerstört, zertreten, dem Erdboden gleich gemacht werden.

Jesaja wählt für diese bedrohliche, ja vernichtende Botschaft zunächst aber einen sanften Einstieg: Er singt seinen Zuhörern ein Lied von einem lieben Freund. Dieser Freund hat einen überaus fruchtbaren Weinberg.

Da werden Emotionen geweckt, Vorfreude wachgerufen: Ein Weinberg ist verbunden mit dem Genuss von Wein. Und Wein verbinden wir mit unbeschwerten Feiern und fröhlichen Festen: Das war damals wohl ganz ähnlich wie heute. Eine Hochzeitsfeier, ein Vertragsabschluss, ein Geburtstagfest oder das Aufrichtefest eines Hauses: Da wird voll Freude angestossen und in ausgelassener Stimmung auch das eine oder andere weitere Glas Wein getrunken.

Jesaja singt sein Lied weiter: Er beschreibt genau, wie sein Freund diesen Weinberg mit viel Fleiss, Geschick und Zielstrebigkeit angebaut hat: Da werden Steine entfernt, damit die Wurzeln der Weinstöcke in guter Erde nach Nahrung suchen können, ein Wachtturm wird aufgerichtet und aus der späteren Beschreibung lernen wir auch, dass ringsum eine Hecke und ein Zaun erstellt werden, die den Weinberg gegen Tiere und Menschen schützt, die dort nichts verloren haben. Die besten Reben werden gepflanzt in diesem fruchtbaren Weinberg. Und schliesslich wird das Herzstück des Weinbergs eingerichtet: Die Kelter, die Weinpresse. Alles ist bereit. Viel Arbeit, Leidenschaft und Geschick steckt in diesem prächtigen Flecken Erde und seinen Weinstöcken. Bis hierher singt Jesaja wohl in den höchsten und schönsten Durtonarten, freudig, fröhlich, frohlockend.

Aber oh weh: Statt Freudenfeste zu feiern findet der liebe Freund nur faule Früchte, statt Weinseligkeit bleibt nur ein mächtiger Kater, ohne je den feinen Wein geniessen zu können.

Jesaja schlägt nun ernste Töne an, die nächsten Strophen singt er wohl in Mol, mit dunklen Untertönen und schrillen Disharmonien: Der zu Beginn so liebe und hoffnungsvolle Freund reagiert äusserst rigoros und hart: Der fruchtbare Weinberg soll wieder Wildnis werden. Die Hecke wird ausgerissen, der Zaun zerstört, so dass ihn Tiere kahlfressen, der schöne Weinberg ein Bild der Verwüstung. Was übrig bleibt, wird von Dornen und Disteln überwuchert. Und als ob das nicht schon genug wäre, wird auch der Regen ausbleiben, so dass nur Trockenheit und Wüste übrigbleibt.

Spätestens hier dürfte den Zuhörern und Zuhörerinnen von Jesajas Gesangsdarbietung mulmig geworden sein: Wer hat die Macht und Möglichkeit, das Wetter zu beeinflussen? Da ist nicht irgendein irdischer Freund von Jesaja gemeint: Jesaja singt und spricht hier vom Schöpfer der Natur, von Gott, der die Erde mit ihren Lebewesen, Jahreszeiten, Sonne, Regen und Wind geschaffen hat. Doch hier ist auch nicht von einem normalen Weinberg die Rede: Der bedrohliche Trauergesang gilt dem «Haus Israel» und den «Männern aus Juda» (Vers7). Im Schlussvers seines eigentlichen Requiems, seines Trauergesangs zeigt Jesaja nochmals in wenigen Worten die ganze Spannung auf, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte, nachdem Gott doch mit grosser Leidenschaft einen so wunderbaren, fruchtbaren Weinberg gepflanzt hatte: «Und er hoffte auf Rechtsspruch, doch seht: Rechtsbruch! Und auf Gerechtigkeit, doch seht: Schlechtigkeit!»

Auch im hebräischen Urtext stehen hier Begriffspaare, die ganz ähnlich klingen und doch grosse Gegensätze beschreiben: Ein einziger Buchstabe kann den Unterschied ausmachen, dass aus der besten Sache der Welt eine Tragödie, aus dem besten Anfang ein schlimmes Ende wird.

Ich habe zu Beginn zwei ernste und anspruchsvolle Situationen geschildert und die Not, in dieser Situation die passenden Worte zu finden. Wer möchte schon gerne einer Gruppe von Menschen ihre Kündigung mitteilen oder noch schwerwiegender den höchstwahrscheinlichen Unfalltod von nahen Angehörigen?

Doch es gibt Situationen, in denen solch drastische Mitteilungen gemacht werden müssen. Sie lösen unmittelbar eine grosse Not und Hilfslosigkeit aus, sie stürzen Menschen in Trauer und Empörung.

Wir sind uns heute gewohnt, gleich an flankierende Massnahmen zu denken in einer derartigen Situation: Die entlassenen Angestellten sollten in Zusammenarbeit mit Gewerkschaften einen angemessenen Sozialplan angeboten erhalten und können auf Arbeitsvermittlungsangebote zugreifen. Für die Hinterbliebenen von Unfallopfern werden Care-Teams aufgeboten, welche diese seelsorgerlich und psychologisch betreuen.

Jesaja hat seine Zuhörer zwar sehr poetisch und fast spielerisch an die schwerwiegende Thematik herangeführt mit seinem frohen Gesang vom fruchtbaren Weinberg, doch er federt ihre Bestürzung am Ende nicht ab. Auch die nachfolgenden Verse tun dies nicht: Da folgt ein «Weheruf» nach dem anderen, eine Androhung von Konsequenzen für gottloses Leben nach der anderen. «Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen, die aus sauer süss und aus süss sauer machen! Weh denen, die weise sind in ihren eigenen Augen und halten sich selbst für klug!» (Jesaja 5,20-21)

Nein, Jesaja ist hier nicht der Tröster, er bietet auch kein Care-Team auf oder stellt keinen Sozialplan zu Hilfe. Er hat offensichtlich den Auftrag von Gott, dem «Haus Israel und den Männern von Juda», in anderen Worten dem Nord- und dem Südreich Israels, den Spiegel vorzuhalten und die Auswirkungen ihres Verhaltens aufzuzeigen. Sie waren es mit ihrem rechtslosen Verhalten, die den fruchtbaren Weinberg verdorben haben. In den auf unseren Abschnitt folgenden Weherufen und auch im weiteren Zusammenhang des Jesajabuchs wird deutlich, worin dieses «schlechte» und «rechtsbrecherische» Verhalten (Vers 7) bestanden hat: Die Gebote Gottes wurden von den Mächtigen im Volk geringgeachtet, die Machthabenden nützten ihre Macht zum eigenen Vorteil aus und suchten die eigene Ehre, statt diese Gott zukommen zu lassen. Sie und auch das einfache Volk verehrten Götter statt den einen Gott und führten ein sündiges, gottfernes Leben.

Nun hat Gott entschieden, Gericht zu halten und sie die Konsequenzen ihres Verhaltens tragen zu lassen: Die Zerstörung des «Hauses Israels», später auch «der Männer Judas» und schliesslich die Verbannung ins Exil.

Die Zuhörenden selbst sollen Gericht halten: «Und nun, Bewohner von Jerusalem und Männer aus Juda, richtet doch zwischen mir und meinem Weinberg.» – Zu welchem Urteil werden die Bewohner von Jerusalem und Männer aus Juda wohl kommen? Jesaja mach mit seinem Loblied auf den lieben Freund und den fruchtbaren Weinberg deutlich: Gott trifft keine Schuld. Er hat alles bestens vorbereitet, eingerichtet, zur Verfügung gestellt. Jene, die den guten Weinberg pflegen und geniessen sollten, haben diesen Auftrag offenbar grundlegend verpfuscht.

Wie schnell liegt uns der Satz auf der Zunge: «Wie kann Gott das zulassen?», z.B. wenn es um Umweltkatastrophen, Unfälle oder Verbrechen geht und wir verurteilen letztlich Gott für sein Tun oder seine Unterlassung. Und doch müssten wir genauso die Frage stellen, bzw. uns der Frage stellen: Wie kann der Mensch das zulassen, warum verursacht der Mensch so viel Leid und Not in einem so prächtigen Weinberg?

Die Kampagne von Brot für alle / Fastenopfer / Partner sein dreht sich dieses Jahr um die Thematik des Klimawandels: Ein umfassendes, vielschichtiges Thema mit vielen Facetten und Faktoren, die es zu berücksichtigen gilt. Was aber bei allen Rückfragen deutlich wird: Unser Konsum und Umgang mit den Ressourcen dieser Welt hat zerstörerische Konsequenzen für Mensch und Umwelt. Nur wenn jede und jeder an seinem Ort Verantwortung trägt und ihren, bzw. seinen Beitrag leistet, kann sich etwas zum Guten verändern. «Die da oben» an den Schalthebeln der politischen und wirtschaftlichen Macht und wir «hier unten» mit unserem Konsum und Mobilitätsverhalten: Alle sind wir entweder ein Teil des Problems oder der Lösung.

In unserem Textausschnitt gibt Jesaja wenig Grund zur Hoffnung, wenig Zukunftsperspektive. Da müssen wir das Jesajabuch schon im grösseren Zusammenhang lesen und durchforschen: Im Kapitel vier wird vom «Rest Israels», von den «Geretteten» gesprochen. Gottes Geschichte mit Israel ist mit den Androhungen von Jesaja nicht zu Ende gegangen, sondern wurde von Gott auch im Exil und über das Exil hinaus bis heute fortgesetzt. Auch dazu durfte Jesaja sich äussern. Und er durfte den Immanuel ankündigen (Jesaja 7,14), den «Friedefürst, wunderbaren Ratgeber, Heldengott, Vater für alle Zeit» (Jesaja 9,5), der ein neues Königreich begründen wird, dass auf Recht und Gerechtigkeit gegründet ist, «von nun an und für immer». (Jesaja 9,6)

Und im Kapitel 27 des Jesajabuches lesen wir «An jenem Tag: ein anmutiger Weinberg! Singt von ihm! Ich, der HERR, bin sein Hüter, ich tränke ihn alle Zeit. Damit man ihn nicht heimsucht, hüte ich ihn bei Nacht und bei Tag.» (Verse 2-3) Und weiter: «In den Tagen, die kommen, wird Jakob Wurzeln schlagen, wird Israel blühen und sprossen, und den Boden des Erdkreises werden sie ertragreich machen.» (Vers 6) Gott zeigt sich als treuer, beständiger Gott, der zu seinem Volk steht, auch wenn es durch Gericht, kriegerische Niederlagen und Jahre in fremden Ländern geht. Jesaja nennt auch die Bedingungen für diesen neuen fruchtbaren Weinberg: «…es sei denn, man suchte Zuflucht bei mir, man schlösse Frieden mit mir, man schlösse mit mir Frieden.» Das Volk Gottes soll neu Zuflucht bei ihm suchen, Frieden schliessen und sich um Klärung und Versöhnung der Verbindung zu Gott bemühen, dann wird ein neuer Weinberg Gottes angelegt, der blüht und sprosst und Frucht trägt.

Das Lied des lieben Freundes mit seinem fruchtbaren Weinberg hat noch viele weitere Strophen, die gesungen werden wollen. Jesaja erhält von Gott nach und nach die Worte für dieses vielgestaltige, ernste und doch hoffnungsvolle Lied anvertraut. Und die Musik im Weinberg Gottes erklingt bis heute.

Uns stellt heute Jesaja die Frage: Wie gehen wir um mit Gottes gutem Weinberg? Prägt Recht und Liebe unseren Glauben und unser Verhalten, oder muss auch uns Rechtsbruch und Schlechtigkeit vorgeworfen werden? Gelingt es uns, in Zeiten von dunklen Moll-Tönen auch die Dur-Melodien Gottes herauszuhören aus der Botschaft der Bibel? Sehen wir den Weinberg Gottes aufwachsen, blühen und gedeihen, wo mit dem blossen Auge erst Erde, Steine und trockenes Holz zu sehen sind?

AMEN

Vertiefungsfragen

  1. Welche Musik hilft mir, schwierige Momente besser zu tragen?
  2. Welche Bibelworte und -berichte ermutigen mich zu Geduld und Ausdauer in schweren Zeiten?
  3. Wie konnte es so weit kommen, dass Gott ein so vernichtendes Urteil über seinen «schönen Weinberg» sprechen musste?
  4. Welche Situationen kenne ich aus meinem Leben, in denen aus fruchtbaren Anfängen keine guten Erträge folgten? Wie konnte ich die Herausforderungen bewältigen?
  5. Im Neuen Testament ist es Jesus, der das Gericht Gottes an seiner Person für uns erduldet. Inwiefern haben die Ermahnungen Jesajas trotzdem noch Gültigkeit für uns und was davon dürfen wir Jesus anvertrauen?
  6. Mit seinem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Matthäus 20,1-16 illustriert Jesus Gottes Gnade, die den einen als ungerecht erscheint: Wie gehe ich mit dieser «ungerechten Gnade» um?
  7. Wie würde ich einem interessierten Mitmenschen Gottes Gericht und Gnade erklären?

Liedvorschläge

ERG 163       Jesus, Herr und Haupt der Deinen

ERG 795       Sonne der Gerechtigkeit

RW52          Anker in der Zeit

RW111        Herr, wir bitten komm und segne uns

ERG = Gesangbuch der Evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz, © Friedrich Reinhard Verlag Basel, & Theologischer Verlag, Zürich 1998

RW = Rückenwind, Lieder für den Gottesdienst, Hrsg. Evang Landeskirche des Kantons Thurgau, Theologischer Verlag, Zürich 2017


Bildrechte:

Bild 3 (C) Bild Pixabay / Thomas B./Didgeman
Bilder 1,2 & 4 (C) Paul Wellauer

Pfr. Paul Wellauer

Bischofszell, Schweiz

E-Mail: paul.wellauer@internetkirche.ch

Paul Wellauer, geb. 1967, Pfarrer der evangelischen Landeskirche des Kantons Thurgau, Schweiz. Seit 2009 in Bischofszell-Hauptwil, 1996-2009 in Zürich-Altstetten, davor 1993-1996 Seelsorger und Projektleiter in der Stiftung Sozialwerke Pfr. Ernst Sieber, Zürich

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