031123 4

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Befreie mich, Herr, vom ewigen Tod

Requiem und Spätmoderne –
Überlegungen zur Funktion des Ewigkeitsmotivs in jenseitsloser Zeit
(1)

von Ulrich Braun

(Text
des Requiems: http://www.kirchenmusik.kaufbeuren.de/TextVerdi.htm
)

Der Tod ist ein großes Lebensthema. Er beschäftigt Religion
und Kunst gleichermaßen und diese Beschäftigung begründet
zu einem nicht geringen Teil beider Verwandtschaft. Eine der höchsten
Formen der Verschmelzung von Religion und Kunst findet sich im Requiem.
Die aus der Totenmesse erwachsene musikalische Gattung hat alle Umformungen
der Religion, ihrer Bild- und Symbolwelten, weitgehend intakt überstanden.
Und wenn es für Protestanten, Agnostiker – und vielleicht sogar
den einen oder anderen Atheisten – einen Zugang zu römisch-katholischer
Frömmigkeit gibt, so führt er über das zur Kunst gewordene
Seelenamt, die Totenmesse, deren erste Worte lauten: requiem aeternam
dona eis, deus – Ewige Ruhe gib ihnen, Herr.

Als ästhetische und musikalische Gattung stellt das Requiem damit
eine Ausnahme im Gesamt der kirchlichen Lehren dar. Ja, es scheint, als
habe es als liturgisch-ästhetisch-musikalische Gattung sogar denjenigen
Paradigmenwechsel nahezu unbeschadet überstanden, der doch den größten
Teil der in ihm enthaltenen und ausgemalten Bild- und Symbolgehalte selbst
aufgelöst, der Unverständlichkeit oder der Anstößigkeit
preisgegeben hat. Gemeint ist der sukzessive Verlust der Jenseitsvorstellungen
insgesamt, besonders aber die im dies irae entfaltete Vorstellung vom
Strafgericht des Jüngsten Tages.

Lang und erlesen ist die Reihe derjenigen Komponisten, denen wir je
eigene Fassungen und Akzentsetzungen zum Requiem verdanken: Mozart, Haydn,
Berlioz, Bruckner, Britten, Palaestrina, Dvorak, Cherubini, Liszt, Reger
und viele andere haben sich darum bemüht. Vorklassik, Klassik, Romantik
und Moderne sind in der Reihe vertreten. Sogar ein ausgesprochen protestantischer
Wurf, nämlich der von Johannes Brahms im Deutschen Requiem, für
das der Hanseat die traditionellen lateinischen Teile durch biblische
Texte ersetzt hat.

Das Verdi-Requiem ist vielleicht besonders geeignet, die Fragen nach
den Paradigmenwechseln der Moderne zu traktieren. Von Anfang an war es
in mehrfacher Hinsicht umstritten. Verdi selbst empfand es zunächst
als höchst überflüssig, noch eine Fassung einer von ihm
als überflüssig empfundenen Form zu fertigen. Er selbst war
nicht Mitglied einer Kirche und den Vorstellungen von Jenseits und Gericht
wohl ebenso abholt wie man es von einem modernen Zeitgenossen nur erwarten
darf. Andererseits hat er sich dann doch der darin enthaltenen dramatischen
Potentiale mit einer Inbrunst angenommen, dass sich eine Unterstellung
wohl von allem Anfang an verbieten müsste: die Unterstellung nämlich,
es könnte sich bei seinem Requiem um eine Parodie handeln.

Dass sich die Unterstellung im Grunde verbieten müsste, heißt
nicht, dass sie nicht doch gemacht worden wäre. Jedenfalls bildet
sie wohl den Hintergrund derer, die Guiseppe Verdi beschuldigen, aus
dem Requiem eine Oper gemacht zu haben. Damit will doch wohl gesagt sein,
er habe die Form des Requiem durchaus unangemessen bearbeitet, habe aus
der Totenmesse ein Spektakulum gemacht. Im günstigeren Falle wäre
ihm das unterlaufen, weil er des religiösen Verständnisses
ermangelte, im ungünstigeren, weil er bewusst auf Karikatur abgezielt
hätte.

Es ist müßig, über Verdis wahre Motive zu spekulieren.
Wie bei aller Kunst können wir das Urteil darüber getrost denen überlassen,
die sein Requiem hören, die sich davon anrühren und bewegen
lassen. Überaus lohnend ist es dagegen, Verdis Requiem zum Anlass
für eine Betrachtung der Form der Totenmesse selbst zu nehmen, ihre
Transformationen zu betrachten und den Paradigmenwechsel der Moderne
in den Blick zu nehmen, welchen wir wohl mit Recht für Verdi selbst
voraussetzen dürfen.

Eine kurze Geschichte des Requiems

Requiem aeterna – ewige Ruhe, mit diesen Worten beginnt die Traditionelle
lateinische Totenmesse. Ihre Wurzeln hat sie bereits in den Begräbnisfeiern
der Alten Kirche. Auf die Weise wie Paulus es formuliert hatte, wurde
der Tod nicht als das Ende beklagt, sondern im Licht der österlichen Überwindung
begangen. „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“ (1.Korinther
15,55). So jedenfalls übersetzte Martin Luther. Inwiefern es aus
seiner Perspektive noch einmal die Überwindung der Hölle festzuhalten
und zu formulieren galt, darauf werden wir zurückkommen.

In der Alten Kirche jedenfalls lag ein starker Akzent der Begräbnisfeier
auf diesem Motiv der Überwindung. Der paulinische Ton bestimmte
die Feier: „Christus ist mein leben und Sterben mein Gewinn“. (Philipper
1,21) Oder gar: „Ich habe Lust aus der Welt zu scheiden und bei Christus
zu sein, was auch viel besser wäre“ (Philipper 1, 23). Entsprechend
wurden die Toten in weiße Kleider gehüllt und gegebenenfalls
sogar mit einem Lorbeerkranz geschmückt, also mit Insignien der Überwindung
und des Sieges versehen.

Diese Auffassung vom Tod und der noch wenig ausgemalten jenseitigen
Welt schlägt sich in den Stücken requiem und lux aeterna deutlich
nieder. Die Überwindung des Todes im sanctus und im agnus dei.

Diese Stücke aus der Messe hatten bald ihren festen Platz in den
Seelenmessen und Totenämtern, welche dann auch zu den Gedenktagen
für die Entschlafenen, in der Folge auch individuell zum Beispiel
am Jahrestag des Todes gefeiert wurden.

Von allem Anfang an gehört auch die Vorstellung vom Gericht zum
christlichen Glauben, wie sie etwa im Matthäusevangelium zu finden
ist (z.B. Matthäus 25, 31ff.) Sie schlägt sich etwa im offertorio
nieder:

Domine Jesu Christe, rex gloriae,
libera animas omnium fedelilum defunctorum
de poenis inferni et de
profundo lacu.
Libera eas de ore leonis,
ne absorbeat eas tartarus,
ne cadant in obscurum:

Herr Jesus Christus, König der Ehren,
befreie die Seelen der Abgeschiedenen
von den Strafen der Hölle und von dem
tiefem Abgrund.
Errette sie aus dem Rachen des Löwen,
daß die Hölle sie nicht verschlinge und
sie nicht fallen in die Tiefe:

In diesen Stücken zeichnet sich bereits die Auffassung ab, es könnte
mit dem Eingang ins Paradies doch am Ende nicht ganz so einfach und gar
so sicher sein. Die Überwindung der Todesmächte muss jeweils
neu geleistet und will erbeten sein.

Hostias et preces tibi, Domine,
laudis offerimus.
Tu suscipe pro animabus illis, quarum hodie memoriam facimus:
Fac eas, Domine, de morte transire ad vitam,

Opfer und Gebete bringen wir dir, Herr,
lobsingend dar.
Nimm sie gnädig an für jene Seelen, derer wir heute gedenken:
Laß sie, o Herr, vom Tod zum Leben übergehen,

Mit der Zeit ist eine Verschiebung der Akzente eingetreten. Nicht mehr
die in Christus verbürgte Überwindung des Todes steht im Zentrum,
sondern die Bedrohung durch den ewigen Tod. Mit dem Eintritt des empirischen
Todes scheint das ganze Drama erst recht zu beginnen; denn nun geht es
erst recht um die endgültige Entscheidung. In diesem Sinne bedürfen
die Verstorbenen der Fürbitte der Hinterbliebenen ebenso wie der
Fürsprache der Heiligen. Dass es nicht nur um jenseitige Entscheidungskämpfe
für die bereits Verstorbenen, sondern um das Lebensthema des Todes überhaupt
geht, verrät die erste person im libera me:

Libera me, Domine, de morte aeterna, in die ille tremenda –
Befreie mich,
Herr, vom ewigen Tod an jenem furchtbaren Tag.

Der Tod ist hier die Drohung mit endgültiger Vernichtung. Es ist
ein bezeichnendes Detail in der Geschichte des Requiems, dass das dies
irae erst im dreizehnten Jahrhundert in die Abfolge eingetreten ist.
In ihm nun hat die Bedrohung eine Gestalt. Es ist das Gericht, der Tag
des Zorns, der einerseits in die ewige Verdammnis, aber auch in den ewigen
Frieden und die Gegenwart des ewigen Lichts zu führen vermag.

Der textliche Umfang den das dies irae im Requiem einnimmt, lässt
Rückschlüsse auf seine dominierende Position in den Jenseitsvorstellungen
der zeit zu. Der Kürze halber verbinden wir mit dieser Beobachtung
den Hinweis auf die Fegefeuer-Vorstellungen, wie sie uns dann als einer
der Auslöser der Reformation im Ablassstreit begegnen.

Mit der Reformation verbindet sich dann der nächste Paradigmenwechsel.
Waren bislang die Fürbitten für den Verstorbenen ein entscheidender
Teil der Trauerfeierlichkeiten gewesen, ja hatte man die Fürsorge
auch auf die Jahrestage des Todes ausgedehnt und konnte Ablass sogar
den schon länger Verblichenen durch Erwerb von Ablässen die
Läuterungsstrafen verkürzen, nimmt die Reformation in dieser
Sache eine vollkommene Kehrtwende vor. Trauerfeiern richten sich fortan
nur noch an die Angehörigen. Den Verstorbenen und sein jenseitiges
Wohlergehen vertrauen die nachreformatorischen Beerdigungsagenden vollkommen
der Liebe Gottes an.

In diesem an den Beerdigungsagenden ablesbaren Paradigmenwechsel lassen
sich vergleichsweise leicht die Auswirkungen von Martin Luthers Rechtfertigungslehre
ausmachen. Nach Luthers Lehre von der Rechtfertigung des Sünders
aus Gnade soll der wert des Menschenlebens eben überhaupt nicht
von empirischen Tatbeständen und Leistungen abhängen. Auch
nicht von solchen der Hinterbliebenen.

Orientieren wir uns zur Illustration dessen einmal an den Worten, die
Luther selbst auf dem Sterbebett gesprochen haben soll, wird es noch
einmal deutlich. „Wir sind Bettler. Das ist wahr!“, fasst auch noch einmal
seine Theologie zusammen. Nichts kann der Mensch tun, sich vor Gott gerecht
zu machen. Eigene Leistung kann nach Luthers Überzeugung nichts
ausrichten. Dass jenseitiges Wohl und Wehe von Verstorbenen auch noch
von Möglichkeit und Bereitschaft der Hinterbliebenen abhängen
sollten, für aufwendige Seelenämter und nennenswerten Ablass
zu sorgen, war dem Reformator ein Greuel. Nichts könne ein Mensch
dafür tun, vor Gott gerecht zu werden, als auf Gottes Liebe trauen.

Diese Auffassung veränderte in Hinsicht auf die Bestattungsbräuche
die Blickrichtung. Nicht mehr das Wohl der Verstorbenen stand in Frage,
sondern das der Hinterbliebenen. So jedenfalls in der protestantischen
Version.

Das Requiem als Kunstform

Das alle großen Fassungen des Requiem nach der Reformation entstanden
sind, lässt mehrere Schlüsse möglich erscheinen. Zum einen
könnte man meinen, der reformatorische Paradigmenwechsel habe die
katholisch geprägten Künstler im Grunde weiter nicht tangiert.
Das könnte sein, scheint aber angesichts der Tatsache, dass auch
auf urprotestantischem Gebiet Werke zum Lebensthema des Todes entstanden,
die ihre Verwandtschaft mit dem Requiem nicht leugnen können. Ob
nun Elemente von Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe oder das „Ruht wohl,
ihr heiligen Gebeine“ aus seiner Johannespassion in anderen Gattungen
doch die Nähe zu Elementen des Requiems suchen oder Johannes Brahms
mit Hilfe biblischer Texte die von keinem Paradigmenwechsel beschädigten
Gefühlsqualitäten des Requiems neu aufnimmt; die liturgisch-ästhetisch-musikalische
Gattung zur Bearbeitung des Todesthemas lebt. Benjamin Brittens „War-Requiem“ zeigt
an, dass sogar säkulare Zeiten nicht auf die Tiefenschichtsdimensionen
der Form verzichten wollen.

Es legt sich also keineswegs der Schluss nahe, die katholischen Komponisten
hätten den Paradigmenwechsel verschlafen oder jedenfalls nicht in
ihr Schaffen aufgenommen. Es könnte eben vielmehr auch sein, dass
etwas in der Tradition des Requiems von diesem Paradigmenwechsel gar
nicht tangiert war.

Tangiert waren jedoch ganz gewiss die inhaltlichen Bestimmungen der
im Requiem aufgebauten Bilder des Jenseits und die Bedeutungszuschreibungen
in Hinsicht auf die Fürbitten, die Ermäßigung von Läuterungsqualen
also. Es darf wohl angenommen werden, dass sich in der Folge der Reformation
die Vorstellungen von Jenseits, Gericht und ewiger Ruhe grundlegend wandelten – und
zwar nicht nur im Gebiet reformatorischer Theologie.

Die Moderne hat im Zuge dessen, was wir Säkularisierung nennen,
sogar noch einen weiteren Paradigmenwechsel hinzu gefügt. Jenseitsvorstellungen
haben sich bis heute, wenn nicht gänzlich aufgelöst, so doch
in mannigfache säkulare Bild- und Symbolwelten verflüssigt.
Bei vergleichsweiser Stabilität der Rituale im ländlichen Raum
gibt es eine große Dynamik und kulturelle Ausdifferenzierung in
den Ballungszentren (2). Die Bandbreite
reicht vom nahezu gänzlichen Verschwinden der Rituale, das möglicherweise
auf eine Verdrängung des Todes oder eine rituelle Hilflosigkeit
schließen lässt, bis hin zu Bestattungsangeboten, die einen
Event-Charakter versprechen (3).

Die Analyse zeitgenössischer Begräbnisreden zeigt Entwicklungen
deutlich auf. Die Würdigung der individuellen Lebensgeschichte hat
erkennbar an Bedeutung gewonnen. Man kann begräbniskulturkritisch
den darin sich niederschlagenden Transzendenzverlust beklagen (4).
Zunächst gilt es aber die Verschiebung einfach wahrzunehmen. Wilhelm
Gräb spricht in Hinsicht auf zeitgenössische Deutungs- und
Verstehensversuche vom „Heiligen Diesseits der Erinnerung“, welches an
die Stelle der traditionellen Jenseitsvorstellungen getreten ist und
diese offenbar in ihrer Funktion ersetzt.

All diese Deutungs- und Bedeutungsverschiebungen haben der Kunstform
Requiem keinen Abbruch getan. Die Kunstform lebt, auch wenn die darin
ausgemalten Bilder im Modus kirchliche Lehrsätze längst keine
Zustimmung mehr finden.

Wir haben bereits oben bemerkt, dass eigentlich alle großen Kompositionen
zum Requiem nach dem ersten großen Paradigmenwechsel der Reformation
entstanden sind, und dass die weiter fortschreitende Moderne der Gattung
offenbar nichts anhaben konnte. Das legt doch den verschärften Schluss
nahe, dass der dogmatische Bedeutungsverlust der Textteile des Requiems
die künstlerische Produktion nicht nur nicht behindert, sondern
am Ende geradezu befördert hat. Mit der Ablösung der dogmatischen
Fixierung der Bildgehalte wird die Kunst allererst zu sich selbst befreit.

In Hinsicht auf das Verdi-Requiem hätte diese Sicht der Dinge tiefgreifende
Folgen. Man müsste sich nicht mehr darüber wundern, dass sich
Verdi als konfessionell ungebundener Künstler des Stoffes annimmt.
Genau das ist offenbar möglich, ohne eine bestimmte Vorstellung
des Jenseits als verbindlich anzuerkennen. Zweitens aber würde auch
der Vorwurf ins Leere laufen, Verdi hätte aus dem Stoff eine Oper,
ein Spektakulum, gemacht. Das eben ist die Freiheit der Kunst, sich der
Dinge anzunehmen, wie sie es für angemessen hält. Schaut man
auf den Text des dies irae, nimmt es noch viel weniger Wunder, dass sich
ein an der Oper geschulter Komponist seiner dramatischen Qualitäten
annimmt.

Höllenfahrten

Das zentrale Gewicht, das Verdi dem dies irae verleiht, ist nicht ohne
Beispiel. Im Mittelalter spielten Höllenfahrten eine wichtige Rolle
in der Literatur gespielt. Das hatte gewiss mit bestimmten Jenseitsvorstellungen
und damit einher gehenden Lebensängsten zu tun. Auf den Zusammenhang
mit dem Ablasswesen, das Martin Luther zum ersten Mal auf seiner Reise
nach Rom 1510/1511 so nachhaltig abgestoßen hatte, haben wir bereits
hingewiesen.

Zugleich aber hatten die Vorstellungen auch immer eine künstlerische
Funktion. In Dantes „Göttlicher Komödie“ wird dies sichtbar.
Die zeitgenössischen Jenseitsvorstellungen bieten Dante lediglich
das Vehikel, ein Drama aus Unmoral, Moral und möglicher Läuterung
zu formen. In die Tiefen der Hölle steigt er hinab, um von dort
erst zum Fegfeuer und schließlich ins Paradies aufzusteigen, nicht
jedoch ohne auf diesem Wege zum Beispiel politische Zustände und
auch Personen seiner Zeit kritisch zu beleuchten.

Dante Alighierie lebte von 1265 bis 1321, also etwa zu der Zeit, da
das dies irae Aufnahme in den Ablauf des Requiem fand. Indem er den dreistufigen
Aufbau von Hölle, Fegfeuer und Himmel bzw. Paradies übernimmt,
bewegt er sich demnach in Bahnen seiner Zeit. Und zugleich erschafft
er reine Kunst daraus, die gewiss nicht darin aufzugehen vermag, die
Beschreibungen der Etagen als Sätze einer religiösen Lehre
festschreiben zu wollen.

Die Qualität seiner Dichtung ist eine andere. Am Beispiel einiger
Verse aus der Höllenabteilung sei ein Deutungsversuch gemacht:

Wer könnte je, auch mit dem frei’sten Wort,
Das Blut, das ich hier sah, die Wunden sagen,
Erzählt‘ er auch die Kunde fort und fort.
Da Sprach‘ und Geist zu eng und schwach erscheint,
So schreckliches zu fassen und zu tragen …

Vor Augen hat Dante hier allerdings höchst irdische Kriege und
ihre Folgen. Ihr namenloser Schrecken findet aber erst dort einen Ausdruck,
wo die Literatur ihm in Höllentiefen den rechten Ort zuweist.

Woody Allen, sechshundertsiebzig Jahre jünger als Dante, formuliert
es sozusagen programmatisch in seinem Film „Harry außer sich“ (Deconstructing
Harry) aus dem Jahr 1998. Er spielt darin einen Schriftsteller, der nicht
nur aktuell unter einer massiven Schreibblockade leidet, sondern auch
sonst gerade verschiedene Niederlagen und Rückschläge zu verkraften
hat. Unter anderem hat ihn seine Freundin verlassen zu allem Überfluss
auch noch, um seinen besten Freund zu heiraten. Um diesen Schlag zu verarbeiten,
konzipiert er eine Geschichte, worin sein Freund der Teufel ist und die
Frau in die Hölle entführt hat. Dorthin fährt der verlassene
Liebhaber hinab, um sie sich zurück zu holen.

Wozu er denn diese Höllenfahrt schriebe, fragt ihn ein Literaturprofessor.
Beiden ist klar, dass sie keineswegs mit einer Hölle und ewigen
Qualen nach dem Tode rechnen. Nun, gibt der Schriftsteller zurück:
mit der Phantasie könne man vielerlei Rechnungen begleichen. Die
Kunst also braucht Bilder und Wirklichkeiten, die nicht an der Oberfläche
zu haben sind, um allererst Beschreiberin und Deuterin einer in sich
rätselhaften Wirklichkeit werden zu können.

Ins Bild gesetzt sieht die Höllenfahrt dann wie folgt aus: Der
Schriftsteller Harry Block fährt mit einem Fahrstuhl nach unten.
Rotes Licht strahlt sein Gesicht von unten an, so dass die Augenbrauen
diabolische Schatten werfen. Eine maschinenartig neutrale Frauenstimme
sagt Stockwerke und deren Insassen. U_Bahn-Schwarzfahrer und aggressive
Schnorrer sind noch in einem der weiter oben gelegenen Untergeschosse
zu finden. Anwälte, die im Fernsehen auftreten, sind schon weiter
unten. Das Stockwerk für die Medien sei völlig überfüllt,
sagt die Frauenstimme an. Ganz unten residieren Massenmörder, flüchtige
Kriegsverbrechen und andere, deren vergehen eben die höchste Stufe
der Unverzeihlichkeit erlangt und damit die tiefste Stufe der Hölle
verdient haben.

Ganz unten angekommen trifft Harry Block nicht nur den Mann, der die
in Amerika einschlägig hässlichen Alu-Hausverkleidungen erfunden
hat. Er trifft auch seinen eigenen Vater. Der sitzt dort, weil er ihn,
seinen Sohn ungerecht behandelt habe. Er hatte ihn für den Tod der
Mutter verantwortlich gemacht, die bei der Geburt Harrys gestorben war.
Darauf sagt Harry dem Folterknecht, er möge den Vater doch freilassen.
Er habe ihm verziehen und liebe ihn trotzdem. Man schicke den alten Mann
bitte umgehend gen Himmel, wogegen der Vater den Einwand geltend macht,
er sei Jude und glaube nicht an den Himmel, aber ein chinesisches Restaurant
sei im auch Recht.

Im Windschatten der Albernheiten sind sie wieder alle da: die Themen
von Schuld und Vergebung, eine Ahnung, welche Höllen Menschen einander
bereiten können, wenn sie beispielsweise ein Kind nicht lieben können,
weil sie im – wahrscheinlich unbewusst – die Schuld am Tod der Mutter
geben. Auf der Rückseite der absurden Konstellation dieser Höllenfahrt
ist er neuerlich präsent: der Tod als Lebensthema.

Bei Woody Allen findet sich dasselbe Prinzip wie bei Dante. An den Jenseitsbildern
werden Dieseitsthemen bearbeitet. Die Verschiebung in die andere Seinsdimension
dient der Deutung und Verarbeitung. Religionswissenschaftlich gesprochen
könnten wir genau das Transzendierung nennen. Nur eben, dass Dante
höchst lebendige religiöse Motive seiner Zeit in Kunst verwandelt,
Woody Allen dagegen in der Kunst seiner Filmbilder Bildwelten zitiert,
die längst schon kein eigenes Leben mehr zu haben scheinen. Dass
dies gleichwohl funktioniert, verweist auf die ästhetische Qualität
jener Bildwelten der Hölle und der drohender jenseitiger – und deshalb
in ihrer zeitlichen Ausdehnung so schwer zu kalkulierenden – Qualen.

Das Ewigkeitsmotiv

„Früher lebten die Menschen dreißig Jahre plus unendlich.
Heute werden wir nur noch neunzig Jahre alt.“ Mit diesem Aphorismus skizzierte
der Wiener Theologe Georg Zulehner kürzlich, was er unter Jenseitsverlust
zur Beschreibung bringt. Nun scheint aber – wie wir schon in Bezug auf
Hölle und Fegefeuervorstellung gesehen haben – auch dieser Paradigmenwechsel
die Rezeptionsorgane für das Requiem al Gattung keineswegs verstopft
zu haben.

Dass es sich so verhält, basiert vermutlich auf einem ganzen Bündel
von Gründen. Sigmund Freud hat auf die psychologischen Faktoren
hingewiesen, die einen symbolischen Umgang mit dem Tod bedingen. Es ist
zum einen die Absicherung der Moral in der vorgestellten Fortdauer des
irdischen Lebens, die dafür sorgt, dass für Gutes und Böses
unbegrenzte Konsequenzen in Aussicht gestellt werden (5).
Vor allem aber legt die prinzipielle Unfähigkeit, an den eigenen
Tod zu glauben (6), einen solchen symbolischen
Umgang nahe. In ihn fließen zunächst all die verdrängten
Impulse ein, die, blieben sie unbearbeitet, nur verstören würden,
die aber in verarbeiteter Form kulturbildende Kraft gewinnen: „An der
Leiche der geliebten Person entstanden nicht nur Seelenlehre, der Unsterblichkeitsglaube
und eine mächtige Wurzel des menschlichen Schuldbewusstseins, sondern
auch die ersten ethischen Gebote. Das erste und bedeutsamste Verbot des
erwachenden Gewissens lautete: Du sollst nicht töten. Es war Reaktion
gegen die hinter der Trauer versteckte Hassbefriedigung am geliebten
Toten gewonnen worden und wurde allmählich auf den ungeliebten Fremden
und endlich auch auf den feind ausgedehnt.“ (7)

Unter anderem Vorzeichen hat das Ewigkeitsmotiv auch in der praktischen
Philosophie Immanuel Kants eine die Moral absichernde und verbürgende
Position inne. In der Vorrede zu Kritik der reinen Vernunft (1781) nennt
Kant Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als die drei großen Fragen,
welche die Vernunft mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln zwar nicht
lösen kann, die sch aber auch nicht aus pragmatischen Gründen
abweisen, oder durch Nichtbehandlung erledigen lassen.

Gott steht dabei für die unhintergehbare Tatsache, dass etwas ist
und nicht nichts, und dass die menschliche Erkenntnis von den Dingen,
wenn auch begrenzt, so aber doch nicht ohne Anhalt an den Dingen sein
soll. Gott steht hier also im Zusammenhang der Erkenntnistheorie und
der Feststellung der Differenz von Sein und Sollen und die gleichzeitige
Formulierung einer Pflicht zur Erstrebung des Gesollten bedarf genau
dieser Voraussetzung: dass das Subjekt nämlich frei sein muss, sich
zwischen den Alternativen zu entscheiden.

Die Unsterblichkeit nun ist das dritte Element und in gewisser Weise
die der Freiheit am anderen Ende der Ethik zugeordnete zweite Absicherung
derselben. Muss die Freiheit vorausgesetzt werden, um allererst mit Sinn
von einem Sollen zu reden, sichert das Motiv der Unsterblichkeit sozusagen
nach hinten hin die Geltung dessen ab, was als moralischer Imperativ
zu formulieren ist. Dasjenige, was ein Mensch tut oder lässt, ist
von so unendlichem Wert, dass seine Bedeutung keineswegs mit der begrenzten
Lebenszeit des Individuums erlischt. In Kants Ethik also kommt dem Ewigkeitsmotiv
eine geradezu konstituive Bedeutung zu, jedenfalls an den Nahtstellen,
wo die praktische Philosophie mit der Religionsphilosophie und der Ästhetik,
also der Kritik der Urteilskraft, verbunden sind.

Ähnlich ließe sich die funktionale Zuordnung des Ewigkeitsmotivs
auch noch für die Soziologie aussagen (8).
Beschränken wir uns aber auf Kant und Freud und betrachten, was
beide miteinander verbindet, so ist es eben die Absicherung der Moralität
im Ewigkeitsmotiv. Dantes und Woody Allens Spielarten der Höllenfahrten
hatten sich ja bei genauerem Hinsehen als durchaus moralische Entwürfe
mit je eigenen Vorzeichen erwiesen. Und genau dies bietet der Text des
Requiems nach wie vor:

Und ein Buch wird aufgeschlagen,
Treu darin ist eingetragen
Jede Schuld aus Erdentagen.
Sitzt der Richter dann zu richten,
Wird sich das Verborgne lichten;
Nichts kann vor der Strafe flüchten.

Und weiter:

Wird die Hölle ohne Schonung
Den Verdammten zur Belohnung,

Als moralisches Drama hat besonders der dies irae seine unübertroffenen
Qualitäten. Er erzeugt Nachdenklichkeit über das, was ist und
was war, und setzt es durch die Konfrontation mit dem Ewigkeitsmotiv
sozusagen dem Läuterungsfeuer der Transzendenz aus. Zweierlei kann
so geleistet werde: Änderungsbedürftiges tritt markant ins
Blickfeld. Bei Unabänderlichem lassen sich mit der Phantasie immerhin
noch gewisse Rechnungen begleichen.

Als Thema der Kunst, als Teil eines symbolischen Repertoires, das dazu
verhilft, unter die Oberflächenstruktur dessen zu schauen, das wir
das wirkliche Leben nennen, ist das Ewigkeitsmotiv ein geradezu unersetzliches
Mittel. Als behauptetes Wissen, dem ein gewiss ungewisser Realitätswert
zugemessen wird, hat das Motiv freilich auch das Potential zum entsetzlichen
Werkzeug.

Es gilt also immer fein zu unterscheiden, auf welche Weise uns das Motiv
begegnet, was also im Zweifelsfalle damit angerichtet werden kann. Es
ist eben der entscheidende Unterschied, ob in der Ausmalung ewiger Strafen
oder durch die Verheißung des ewigen Lichts eine Deutung des gelebten
Lebens und sein besseres Verständnis erschlossen wird, oder ob die
Androhung ewiger Strafen Menschen in Angst und Schrecken versetzt und
der Schrecken aus dem vermeintlichen Jenseits über das real gelebte
Leben legt.

Im einen Falle dient das Jenseitsmotiv zur Freiheit. Es relativiert
Zustände der realen Gegenwart und entlarvt deren Anspruch auf unbedingte
Gültigkeit als angemaßt. Mit Paulus gesagt: „Denn das Wesen
dieser Welt vergeht.“ (1. Kor. 7, 31) Folglich kann nichts in der Welt
den Menschen mehr erschrecken, als Vorübergehendes es eben vermag.
Totalitäre Ansprüche werden auf diese Weise abgewiesen.

Im andern Falle kann sich das Ewigkeitsmotiv, besonders das der Strafe,
wie ein Schatten über die reale Gegenwart legen. Die Jenseitsangst
kann die Freude am Leben gänzlich lahm legen. Dass letztere unter
mittelalterlichen und vor-aufklärerischen Bedingungen auch als Mittel
zur Erhaltung und Mehrung der persönlichen und institutionellen
Macht eingesetzt werden konnte, liegt auf der Hand.

Mit Luther beginnt der Paradigmenwechsel zurück zum Freiheitsgewinn.
Die Sorge um das jenseitige Wohlergehen kann dem wachen Interesse am
gegenwärtigen Leben wieder Platz geben. Schon gleich gar nicht wird
das jenseitige Wohlergehen der Verstorbenen von zu erbringenden Leistungen
der Lebenden abhängig gedacht. Eine Funktion von Seelenmessen, Totenämtern
und Ablässen ist damit erloschen.

Der Neuprotestantismus hat zusätzlich eingeschärft, jeweils
genau zu bedenken, welche Funktionen und welche Ansprüche religiösen
Vorstellungen zukommen. Nach Friedrich Schleiermacher gehört es
geradezu zum Wesen des christlichen Glaubens, dass daraus Tendenzen erwachsen, „den
Zustand nach dem Tode vorzustellen“ (9).
Zugleich schärft Schleiermacher aber ein, die Bildhaftigkeit dessen
nicht zu vergessen und zu wissen, dass die Vorstellungen „doch immer
auch sinnlich sind“ (10). Insofern
seien die Lehre n von den letzten Dingen mit entsprechender Vorsicht
zu genießen, denen eben „der gleiche Wert wie den bisher behandelten
Lehren [gemeint sind solche, deren geistig-geistlicher Charakter eindeutiger
fest steht] nicht kann beigelegt werden“ (11).
Zugleich hält Schleiermacher aber umso fester, dass die geistige
Existenz eben eine ist, die über die zeitliche Dauer des Lebens
mit Notwendigkeit hinausgreift. Dass hier eine Vorstellung einer leiblichen
Fortdauer des vom Tode unterbrochenen Erdenlebens in den Vorstellungen
Platz greift, rührt für Schleiermacher aus folgendem Umstande
her: „Wir sind uns so allgemein des Zusammenhanges aller, auch unsrer
innerlichsten und tiefsten Geistestätigkeiten mit den leiblichen
bewusst, dass wir die Vorstellung eines endlichen geistigen Einzellebens
ohne die eines organischen Leibes nicht wirklich vollziehen können;
ja wir denken den Geist nur als Seele, wenn im Leibe, so dass von einer
Unsterblichkeit der Seele im eigenthümlichen Sinn gar keine Rede
sein kann ohne leibliches Leben. Wie also die Wirksamkeit des Geistes
als bestimmte Seele im Tode aufhört zugleich mit dem leiblichen
Leben: so kann sie auch nur wiederbeginnen mit dem leiblichen Leben.“ (12)

Dieser Zusammenhang von Vorstellung einer Seele als einer bestimmten
Person zugehörig verweist auf den tieferen Zusammenhag, auf den
Schleiermacher recht eigentlich abzielt: Dass nämlich die Pointe
der Vorstellung einer leiblichen Auferstehung eben die Identität
der Person betrifft, „dass das Leben nach der Auferstehung und das vor
dem Tode eine und dieselbe Persönlichkeit konstituieren;“ (13)

Die Konstitution von Identität und Persönlichkeit bedient
sich also des Ausgriffs über die empirische Gegenwart hinaus. Person
und Identität bedürfen zu ihrer eigenen vertieften Selbstverständigung
derjenigen Dimension, die im Ewigkeitsmotiv aufscheint.

Das Ende mittelalterlichen Aberglaubens beendet nicht die religiöse
Praxis der Seelenämter und Totenmessen. Eben weil deren Funktion
sich nicht auf die stellvertretend wahrzunehmende Sorge für das
jenseitige Wohlergehen der Verstorbenen beschränkt, vermag die Kunst,
nun zu sich selbst befreit, das andere zu leisten: die Begleitung der
Trauer, die Bearbeitung des Lebensthemas Tod, die Relativierung des gelebten
Lebens, die moralische Verständigung über die Differenz von
Sein und Sollen durch die Trennschärfe des Ewigkeitsmotivs und schließlich
die Selbstverständigung der Person, deren Identität und deren
Freiheit Voraussetzungen in Anspruch nehmen, welche selbst außerhalb
empirischer Horizonte liegen.

Das Ewigkeitsmotiv in der Spätmoderne

Die Blütezeit des Requiems als Kunstform beginnt mit dem Ende substantiell
geglaubter Höllen- und Fegefeuervorstellungen. Zu sich selbst befreit
lebt in der Kunst auf, wessen das Menschenleben offenbar dauerhaft bedarf:
die Formulierung der aller Erfahrung von Vergänglichkeit entgegengesetzten
Sehnsucht nach Bleiben im Vergehen, die Formulierung der Trauer, der
Hoffnung und auch der Abgründe, welche in der erlebten Wirklichkeit
nie und nimmer auszugleichen sind. Diese Funktionen erfüllt hat
das Requiem.

In diese Funktion ist es freilich nicht allein. Johann Sebastian Bachs
Passionen wurden bereits erwähnt. Auch Georg Friedrich Händels
Messias hat Teile, die an Horizonte des Requiems gemahnen. Man denke
nur an die Arie „I know that my redeemer liveth“. Bis hin in säkulare
Fassungen des Requiems und der ihm verwandten Formen werden wir immer
dieseln Beobachtungen machen, sei es nun in Brittens „War-Requiem“ oder
in Mauersbergers „Wie liegt die Stadt so wüst“. Es werden Abgründe
ausgelotet, es werden Rechnungen beglichen, die mit herkömmlichen
Mitteln – also auf dem Boden des empirischen Lebens – auf immer unausgeglichen
bleiben müssten, es werden spätestens seit Dante moralische
Diskurse geführt und es findet jene Selbstverständigung statt,
welche ohne transzendentale Gründe nicht auszukommen vermag.

Nun vollzieht sich dies in der Spätmoderne in höchst ausdifferenzierter
Form. Innerhalb des Requiems finden sich beliebig viele Variationen und
Akzentverschiebungen. Verzichtet Maurice Duruflé (1902-1986) in
seinem Requiem ganz auf den Tag des Zorns, lässt ihn nur im libera
me kurz anklingen und setzt also ganz auf die Gestaltung der Sehnsucht
nach ewigem Licht und Frieden, ist Verdi geradewegs in die andere Richtung
gegangen. Er lässt das dies irae dominieren, erlangt damit sozusagen
maximale Möglichkeiten in Hinsicht auf die Dynamik seines Requiems
und hebt auf seine Weise den dramatischen Schatz seines Stoffes.

Zu den ungezählten Differenzierungen des Requiem-Stoffes tritt
die Verflüssigung religiöser Motive in der zu sich selbst befreiten
Kunst der Moderne, auch der der modernen Massenmedien, hinzu. Das Jenseits-
und das Ewigkeitsmotiv werden in den Filmen des großen Kinos mit
einiger Regelmäßigkeit variiert. Es ist in dieser Hinsicht
gewiss kein Zufall, dass etwa der Film „Titanic“ (USA 1997) mit einer
Sterbeszene und einer Hochzeit im Himmel endet. An seinem Schluss steht
also gewissermaßen das pax aeterna als Verheißungsmotiv dem
ewigen Tod entgegengesetzt.

Genau jener ewige Tod hatte ja den Passagier der dritten Klasse, Jack
Dawson, in die Tiefe des Nordatlantiks gezogen. Da er seine Fahrkarte
in letzter Minute beim Poker gewonnen hatte, stand er auf keiner Passagierliste,
folglich auch auf keiner Vermisstenliste. Durch die Begegnung mit Rose
DeWitt-Bukater aber ist ein Schein des ewigen Lichts bereits in das empirische
Leben getreten. Die Liebe ist am Ende zugleich das Erlösungsmotiv.
Sie greift über das empirische Leben hinaus. Jack sagt, schon im
Eiswasser des Nordatlantik schwimmend und dem Tode geweiht, der Gewinn
der Fahrkarte sei das Beste, was ihm im Leben je passiert sei, denn auf
diese Weise habe er Ros getroffen. Auf der Ebene empirisch zu erhebender
Daten hat es ihn allerdings auch das Leben gekostet.

In der Filmmusik kling im Motiv des sinkenden Schiffes der Tag des Zorns
sehr deutlich durch. Dreitausend Meter schwarze Tiefe bedeuten für
Tausende den Tod. Dass der nicht ewig sein soll, spielt sich über
das Motiv der Liebe ein, die in jenseitsloser Zeit offenbar glaubwürdig
festzuhalten vermag, was im Requiem als lux aeterna und als ewige Ruhe
verheißen ist.

Schluss

Das Requiem ist Kunst. Es lässt sich folglich nicht mit konfessionellen
oder sonst dogmatischen Ellen messen. Es gestaltet Zugänge zu Dimensionen,
deren sich menschliche Selbstverständigung bedient und bis zu einem
gewissen Grade wohl bedienen muss – einfach, weil der Tod ein bleibendes
Lebensthema ist.

Zugleich lebt im Requiem einer der schönsten Beiträge, den
katholische Frömmigkeit zu dieser Selbstverständigung und damit
zur Lebensdeutung überhaupt beigesteuert hat. Als liturgisch-ästhetisch-musikalische
Gattung aber ist das Requiem jeder dogmatischen Fixierung längst
entwachsen. Bei der zu sich selbst befreiten Kunst ist es offenbar auch
in den besten Händen.

Die Kunst hat bis heute ungezählte Fassungen des Requiem hervorgebracht.
Sie hat in vielfältigsten Variationen durch die unterschiedlichsten
Ausdrucksmedien das Thema behandelt. Eine abschließende Fassung
hat die Musik bislang nicht hervor gebracht. Sie ist auch in Zukunft
nicht zu erwarten, weil die Kunst eben darin ihren Gegenstand findet,
es mit dem Leben und dem Tod eben mit prinzipiell nicht abschließbaren
Gegenständen zu tun zu haben.

Dass sich das Ewigkeitsthema in der Kunst nicht verflüchtigt, dafür
soll noch einmal Woody Allen einstehen. Auf die Frage, ob er die Hoffnung
habe, sich in seinem filmischen Gesamtwerk unsterblich zu machen, sagte
er: Er wolle nicht durch seine Filme unsterblich werden, sondern dadurch,
dass er einfach nicht stürbe.

In der Kunst werden eben die Sehnsüchte nicht einfach gestillt,
sondern allererst am Leben erhalten. Namentlich die Sehnsucht, es möchte
etwas daran wahr sein, dass mit dem ewigen Tod nicht das letzte Wort über
das Menschenleben gesprochen ist. Libera me, Domine, ab morte aeterna – befreie
mich, Herr, vom ewigen Tod. In spätmodernen Zeiten, denen ansonsten
alle Jenseitsbilder abhanden zu kommen drohen und in denen folglich der
Tod die letzte Ewigkeit beanspruchende Größe bleibt, wird
das Flehen entsprechen inbrünstig ausfallen und der Tag des Zorns
entsprechend bedrohlich. Diesen Abgrund hat Giuseppe Verdi mit allen
ihm zu Gebote stehenden Mitteln markiert.

Text des Requiems: http://www.kirchenmusik.kaufbeuren.de/TextVerdi.htm

1) Der Vortrag entstand im Zusammenhang
einer Aufführung des Verdi-Requiems durch die Göttinger Stadtkantorei
am 23. November 2003.

2) Vgl. Werner Fuchs, Todesbilder
in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a. Main 1969

3) vgl. Claudia Marschner, Bunte
Särge. Eine Eventbestatterin erzählt, München 2002

4) vgl.z.B. Ursula Roth, Die Begräbnisansprache.
Argumente gegen den Tod im Kontext der modernen Gesellschaft, München
2002

5) vgl. Sigmund Freud, Die Zukunft
einer Illusion, (1927), Studienausgabe Band IX, Fragen der Gesellschaft –Ursprünge
der Religion, Frankfurt 2000, S. 153

6) vgl. ders. Zeitgemäßes über
Krieg und Tod, ebenda S. 49ff.

7) ebd. S. 55

8) vgl. z.B. Niklas Luhmanns Beschreibung
der Funktion der Religion zur gesellschaftlichen und indivduellen Vergewisserung
bestimmter Horizonte. Niklas Luhmann, Die Funktion der Religion, in:
Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt 2000, S. 115-146

9) Friedrich Schleiermacher, Der
Christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche
im Zusammenhange dargestellt, zweite Auflage, Berlin 1831, §158
(Leitsatz), zitiert nach: siebente Auflage, zweiter Band, hrsg. Martin
Redeker, Berlin 1960, S. 410

10) ebd. §158,3, S. 416

11) ebd. §159, Leitsatz, S.
417

12) Schleiermacher, Glaubenslehre, §161,1,
s.o. S. 424

13) ebd.

Ulrich Braun, Pastor in Göttingen Nikolausberg
Ulrich.F.Braun@t-online.de

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