Exodus 13, 17-22

Exodus 13, 17-22

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Silvester /
Altjahresabend

31. Dezember 1999
2. Mose 13, 17-22


Wolfgang Petrak


Liebe Gemeinde,

nur noch wenige Stunden trennen uns vom Neuen
Jahr. Schon jetzt sind draußen vereinzelt Silvesterraketen zu hören;
man kann sich vorstellen, wie sie heulend-krachend in den Nachthimmel steigen,
um dort eine Spur aus Rauch und gleißendem Licht zu hinterlassen. Es
läßt sich ausmalen, wie es um 23.59 Uhr sein wird, wenn sich der
Sekundenzeiger unaufhaltsam weiter bewegt, gewiß wie in jedem Jahr, aber
es ist doch noch anders: Weiter, endgültiger. Und unter die guten
Wünsche zum Neuen Jahr, dem Knallen der Sektkorken, dem Klingen der
Gläser, dem Glockengeläut von fern werden sich fröhlich die
Kanonenschläge mischen; zerplatzende künstliche Sterne werden den
Himmel über unserer Stadt kurzzeitig erleuchten und so selbst ein Zeichen
der Zeit sein: Aufsteigend, sich beschleunigend, mit dem Anspruch versehen,
weiträumig gesehen zu werden, um dann umso schneller zu verlöschen
und in die dunkle Nacht zurückzufallen.

Mit der Geschwindigkeit ist das Vergessen gesetzt,
das sich beschleunigende Tempo der Entwicklungen läßt nach Orten des
Bleibens fragen. Gibt es etwas, was nicht vergeht wie Schall und Rauch? Der
Beginn des neuen Jahrtausend ist ja nicht einfach eine konstruierte Zahl mit
ein paar Nullen, deren letzte beide Stellen die Frage nach der
Zukunftsfähigkeit und der Anfälligkeit vernetzter technischer Systeme
aufwirft. Die Jahreszahl ist selbst ein Symbol für eine Zukunft, die
unsere Erfahrungen übersteigt und die sich den Prognosen und
Entwürfen entzieht. Umso schärfer wendet sich der Blick zurück,
um Bleibendes und Prägendes auszumachen. Faszinierende Bilder zeigte das
ZDF: Jeden Tag 100 Jahre. High-lights der Geschichte werden in der Rolle des
Zuschauers erlebt. Bücher wie von G. Grass“Mein Jahrhundert“ werfen
Schlaglichter auf das, was im Nebel der Vergangenheit versunken und vergessen
zu sein scheint. Und so manches Mal habe ich in der Freude des Wiederentdeckens
gesagt: „Richtig, so war es“. Zugleich spüre ich: Das ist nicht die eigene
Geschichte. Hell tauchen in den eigenen Erinnerungen Gesichter auf: Menschen,
denen ich begegne, die für mich da sind; die mich angesehen, zu mir
gesprochen, mich verstanden haben; die getröstet, geliebt, gelehrt,
gezankt haben. Und ich weiß: Wenn in der Zeit die Gesichter verloren
werden, wird sie sich verdunkeln.

Es mag dunkel gewesen sein, damals, als sich weit
vor unserer Zeitrechnung das Volk Israel am Rande der Wüste gelagert
hatte. „Und der HERR zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um
sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um
ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten“ (Ex 13,21). Sie
sehen etwas, was ihnen bleibt. Was mitgeht, was schützt, was den Weg
weist, ohne daß das Ziel im voraus zu erkennen ist. Menschen auf dem Weg.
Ihre Gesichter lassen sich vorstellen: Gesichter, die vom Schrecken gezeichnet
sind, jedoch froh, der Barbarei entkommen zu sein. Weit aufgerissene
Kinderaugen, die so viel gesehen haben und doch nicht begreifen können,
was um sie herum geschieht. Entschlossene Blicke, die nach vorn gerichtet sind
und mit zusammengekniffenen Augen die Entfernung zum nächsten Etappenziel
abschätzen, wissend um den Hunger, der alle überkommen wird, die
Gefahr ahnend, die vom verdorbenen Wasser ausgehen wird. Auch dieser
ätzende Blick des Besserwissers: Wäre man doch besser geblieben, wo
man gewesen war, wo man wußte, was man hatte: Fleisch und Schinderei.
Zuckerbrot und Peitsche in Ägypten waren allemal besser als Manna und
Würmer, Wolke und Feuer in der Wüste. Und dann noch diese Augen, die
so schön demutsvoll ihre Lider abzusinken wußten, um die Gabe des
HERRN zu empfangen, die aber beim Tanz um das Goldene Kalb ebenso schnell
bereit waren, anderen zuzuzwinkern, scharf auf das, was man/frau kriegen kann.

Diese Gesichter, diese Zeiten. Wir kennen sie. Und
wir dürfen hören, daß dabei immer Zeichen seiner Anwesenheit
mitgehen, mittendrin in dem Leben zwischen Schuld und Neuanfang, mittendrinn
zwischen Verzweiflung und Aufbruch: Dieser Schein des Nachts, der nicht
verlischt, diese Wolke, die weder verweht noch vernebelt. Eigentlicht kann man
sie ja auch sehen, die Zeichen seines Bleibens unter uns. Doch eine Wolke
bleibt eine Wolke, und ein Zeichen bleibt ein Zeichen. Es ist nie die Wahrheit
selbst. Sodaß daß Zeichen für sein Offenbarwerden zugleich das
Zeichen für seine Verhüllung ist. Der, der nah sein will, ist
zugleich verborgen. Das Licht des Erkennens kann sich unmittelbar in die Nacht
abgründiger Zweifel kehren. Niemand könnte seine Existenz beweisen,
niemand konnte sein Gesicht sehen, selbst Mose nicht, als sie am scheinbaren
Ende des Weges am Sinai angekommen waren. Zu glauben heißt: Diesen Weg
durch die Wüste nicht zu scheuen, mit den vielen Umwegen, den Belastungen,
die man aus alter Zeit mit sich herumschleppt und nicht los wird. Zu glauben
heißt, diese Spannung auszuhalten: Darauf zu vertrauen, daß er
mitten unter uns ist, und dafür gibt es so viele Zeichen. Und zugleich um
seine Verborgenheit zu wissen, sodaß man immer wieder danach fragen,
danach aufbrechen und nach ihm suchen muß.

Sein Mitgehen in der Zeit, und sei es die Zeit der
Wüste, bedeutet sicher auch neue Antworten. Damals in der der Mitte der
Zeit, als aus dem Volk in der Wüste Hirten auf dem Felde bei den
Hürden geworden waren, da wurde ihnen die Nacht zum Tage, denn es wurde
ihnen gesagt: „Das habt zum Zeichen. Ihr werdet finden“.

Heute, wenn wir von einem angenommenen Gipfel der
Zeit rückblickend Ausschau halten, werden wir in unseren Erinnerungen
sehen, wie dunkler Rauch in unserer Geschichte aufgestiegen ist und über
Städten und Dörfern, nicht nur bei uns, lastet. Wie nahe liegt da der
Gedanke seiner Verborgenheit, ja Abwesenheit. Näher muß noch ein
anderer Gedanke liegen: Wie verborgen, ja wie abwesend die Humanität sein
kann. 2000 Jahre, und was hat sich an den Menschen geändert, was wird sich
ändern? Trotzdem. Im Dunkel dieser Fragen gilt die Klarheit dieser Zusage:
„Das habt zum Zeichen. Ihr werdet finden das Kind“. Das Kind. Dieses Antlitz
des Menschen.

Im Ernst. Wir können es finden. Und wenn ich
an dieses Buch „Mein Jahrhundert“ denke, dann muß ich sogar lachen, weil
Günther Grass darin eine Geschichte erzählt, wie 1908 der Vater den
Sohn zu einer Kundgebung mitnimmt, ihn dann schließlich auf den Schultern
trägt. Es ist eigentlich das Bild des Christophorus: Einer nimmt die Last
des anderen auf sich, weil wir selbst Getragene sind. So kann das Gesetz
Christi erfüllt werden. Und wenn ich in der Erinnerung das Bild vor mir
sehe, wie der damalige Bundeskanzler Brandt in Warschau kniete, dann
berührt das tief. Aller Beschleunigung, allem Vergessen zum Trotz bleibt
das Gesicht, bleibt die Geste in Erinnerung und verbindet sich über die
Zeiten mit dem Bild des Mose, dem gesagt wurde: „Geh nicht weiter, dieses ist
ein ein heiliger Ort“. Angesichts der Zeit innezuhalten und der Trauer, der
Scham Raum zu geben, damit das Nie-Wieder heilig ist.

Zu tragen, weil wir getragen sind. Zu gehen, weil
der HERR mitgeht. Innezuhalten, damit wir seinen heiligen Willen erkennen. Auf
der Wende zum Jahr 2000: Nun laßt uns gehn und treten, mit Singen und mit
Beten.

Amen.

Lied nach der Predigt: EG 58

 

Wolfgang Petrak
Pastor an St. Petri-Weende

Schlagenweg 8a
37077 Göttingen
Tel.: 0551/31838


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