Exodus 20, 13

Exodus 20, 13

 

Predigtreihe zum Dekalog, März 2002
Das fünfte Gebot – Exodus 20, 13, Jobst von Stuckrad-Barre

Das fünfte Gebot: „Du sollst nicht töten“

Ramallah: Nächtliche Jagden folgen auf jüngste Attentate
und umgekehrt. Afghanistan: Der Krieg geht weiter – die Zivilisten leiden
mehr als bisher bekannt. Zimbabwe: Diktator Mugabe hindert die Wähler
mit Waffengewalt an freien Wahlen. USA und anderswo: Menschen zu schaffen
durch Tötung von Zellen, werdendem Leben also, ist nicht mehr völlig
utopisch.

In
Zeiten, da das Bild des Gekreuzigten für manche Zeitgenossen eine
solche Zumutung geworden ist, daß sein Anblick sie offenbar (ver-)
stört, ja, daß sie sogar per Gericht ihre durch dieses Bild
scheinbar bedrohte Freiheit einklagen; in Zeiten, da die Bilder von gequälten,
gefolterten, getretenen, verletzten und getöteten Menschen jeden
Tag in Massen konsumiert werden; in Zeiten wie diesen also ist der einfache
Satz: Du sollst nicht töten! beinahe grotesk wahr, grundlegend und
befreiend. So grotesk wirkt das, daß es kaum der Rede, geschweige
denn einer Predigt wert zu sein scheint, sich über diesen Wahrheitsgehalt
und jenes Mißverhältnis der Zeit zu dieser Wahrheit Rechenschaft
abzulegen.

Du sollst nicht töten. Nicht morden! Auch für die ersten Hörer
in alttestamentlicher Zeit war dieser Satz so unmißverständlich,
daß er keiner begründenden oder erklärenden Zusätze
bedurfte: nicht des Hinweises auf die Befreiung aus der Knechtschaft,
nicht auf die Heiligkeit des Namens, nicht auf die Schöpfung, die
die Ruhe Gottes und entsprechend die des Menschen am Sabbat/Sonntag einleuchtend
macht, auch nicht auf den Zusammenhang der Generationen, der die gegenseitige
Achtung und den Erhalt des Lebens zu Voraussetzungen hat. Dabei bergen
doch gerade diese Hintergründe – Befreiung und Heiligkeit, Schöpfung,
Achtung und Erhaltung des Lebens – jeder für sich und Gott durch
sie alle gute und angebrachte Begründungen in sich.

Nein, keine Zusätze und Hinweise, sondern ganz elementar und ganz
einfach: Du sollst nicht töten. So einfach und elementar, daß
der, der dies Gebot nicht beachtet und einen Menschen umbringt, sich selbst
um die Grundlage seines Lebens bringt. Jedenfalls hat er den verlassen
hat, der Leben schafft und heiligt, und kann sich nicht mehr auf sich
und sein Leben verlassen. Er wird versuchen zu fliehen, vor sich und vor
denen, die bisher nach ihm gefragt haben; Erklärungen werden gesucht
und vielleicht einleuchten, und doch wird dieser Mensch keine Ruhe mehr
finden. Er bringt durch sein Tun sich selbst um, so wie er Opfer und Trauer,
Entsetzen und Angst hinterlassen hat.

Von daher gewinnt der Anblick des Gekreuzigten, der Blick auf den, der
in den Tod ging, damit wir Leben finden, gerade im Gegenüber zum
Bild des Menschen verletzenden, ja ums Leben bringenden Täters seine
uns bewegende Bedeutung. Die Grenze wird sichtbar – zwischen Leben und
Tod, zwischen Ehrfurcht und Mißachtung, zwischen Recht und Unrecht,
eine Linie, die nicht die Welt in Gut und Böse teilt, sondern die
Spur anzeigt, auf der wir als Menschen uns befinden und die wir nun in
der Perspektive des Kreuzes sehen.

So einfach und elementar der Satz ist: Du sollst nicht töten, so
sehr wird dieser Satz, diese Grundlage des Zusammenlebens, vergessen und
mißachtet: Es wird verletzt und gefoltert, entrechtet und bedroht,
geschunden und gemordet, daß ganze Industrien sich davon gut ernähren.
Menschen bringen sich um. Und Gott wird gemartert und ans Kreuz geschlagen,
hier wie überall.

Die Täter, all die, die tötend das Leben verloren geben, sie
sind aber nur die eine Seite. Das Perverse der Situation kommt oft erst
dadurch heraus, daß wir uns in der Rolle der Voyeure wiederfinden
und dabei von den objektiven Tätern und ihren Nutznießern nur
ein paar Bit entfernt erscheinen.

Ein israelischer Schriftsteller, Etgar Keret, hat jetzt (laut „taz“
v. 8.3.02) von einem Fernsehsender seines Landes berichtet, der um der
Aktualität willen den Fernsehschirm aufgeteilt hatte: In der einen
Hälfte waren Bilder vom jüngsten Selbstmordanschlag zu sehen,
in der andern Hälfte wurde das Fußballspiel weiter übertragen;
fünf Tote links gegen drei Tore rechts – Normalität der Voyeure
in einer gegen Gewalt beinahe immunisierten Gesellschaft.

Vielleicht reicht es nicht, vom Voyeur in uns zu reden, wenn die Verfolgung
der Krimis zur abendlichen Norm geworden ist. Gewöhnung an Schreckensbilder,
Verwechslung von Unterhaltung und Abwehr des Schreckens durch seine Einverleibung
– wie auch immer. Was für Passionen!

Erinnern Sie sich an das Bild des kleinen palästinensischen Jungen,
der – vor laufender Kamera – in den Armen seines schwer verletzten Vaters
erschossen wurde; es ist noch gar nicht so lange her. Gestern berichtete
eine ARD-Redakteurin von ihren Untersuchungen zu diesem Bild (wie zu andern
solchen Schreckensbildern). Israelische Streitkräfte haben aus Sicherheitsgründen
die Mauer, den Tatort, beseitigt, der Vater wie andere Palästinenser
machen nun Propaganda mit diesen 50 Sekunden des Grauens – mehr Filmmaterial
(6 Minuten lang) existiert, wird aber vom französischen Sender aus
unbekannten Gründen nicht freigegeben. Die Redakteurin gibt in einem
Vorausbericht wieder, was Rekontruktionsversuche ergeben haben: Die dort
stationierten israelischen Scharfschützen können es nicht gewesen
sein; möglicherweise haben palästinensische Bewohner hinter
ihnen geschossen und dabei das Kind und den Vater getroffen…

Die sich ständig steigernden Aggression zwischen Israelis und Palästinensern
machen im Lande der Zehn Gebote dafür aufmerksam, daß das Nicht-Töten
Grundlage für den Frieden sein kann, wenn denn Menschen damit rechnen
und nicht das body counting den Tag beherrscht wie die Nacht.

Rache, Blutrache, diese Motive scheinen seit Menschengedenken und der
biblischen Grundlegung dazu ausgeschlossen. Nicht zuletzt die Attentate
des 11. Sept. und die seither erfolgten Versuche einer Eindämmung
des Terrors lassen aber erkennen, daß die Motive in Wirklichkeit
so säuberlich nicht zu trennen sind.

Wenn das Gebot nicht nur verblassende Schrift an der Wand sein soll,
ist es Anleitung, die Grenzlinie wahrzunehmen zwischen Leben und Nicht-Lebenlassen;
zugleich wird der Blick auf den, der getötet wurde um des Lebens
willen, tatsächlich zur Perspektive.

Uns wird die Grenzüberschreitung durch den einfachen Satz: Du sollst
nicht töten! so eingeschärft, daß wir auch in diesen Zeiten
nicht an uns selbst vorbeikommen. Wenn Töten das Ausschalten (! Dieser
Technizismus zeigt auch unsere medial vermittelte Menschensicht!) des
Andern bedeutet, wird im Akt der Vernichtung auch der Zugang zum eigenen
Leben verhindert – du sollst nicht töten, du bringst dich um dein
Leben!

Die Grenze zum Nicht-Leben einzuhalten – das fünfte Gebot birgt
in sich den Schutz des Lebens, eben darum ist es ja in seiner Elementarität
in die verschiedenen Gesetzeskodizes der uns bestimmenden Kultur eingegangen.
Schutz des Lebens und Grundlage für Frieden!

Ein Kriegsschauplatz, der allmählich erst ins allgemeine Bewußtsein
dringt, ist durch die Auseinandersetzung um die Genethik sichtbar geworden.
Da beginnt etwas, was Folgen für Individuen und ganze Generationen
in sich trägt: Eingriffe in die Keimbahn, die nicht wieder einzuholen
sind. So sind die gegenwärtigen Scharmützel um Forschungsfreiheit
und Schutz des beginnenden Lebens wohlmöglich Vorboten eines größeren
Kriegs um die Welt: Wer beherrscht die therapeutisch gewünschte Technik
und wer nutzt dies für seine, Menschen aus aller Heiligkeit und Freiheit,
Achtung und Zusammenghörigkeit mit der übrigen Schöpfung
herauslösenden Ziele aus?

Das einfache: Du sollst nicht töten! greift hier wirklich auf elementare
Weise ein. Unsere Ehrfurcht vor dem Leben sollte nicht kleiner sein als
die Erkenntnis, daß uns damit gesagt ist, was Gott will – und was
er tut: Der Leben unter seinen Schutz stellt, das ist der, der sein Leben
gibt – für uns!

Von Afghanistan bis Zimbabwe, von Israel und Palästina über
uns bis in die USA, an den Schauplätzen des Schreckens und in den
eigenen Herzen brauchen die Menschen den, der sagt, du sollst nicht töten
– du sollst leben.

Amen.

Jobst von Stuckrad-Barre, Hannover
e-mail: Jobst.vonStuckrad-Barre@evlka.de

 

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