Exodus 20

Exodus 20

 

Predigten und Texte zum Dekalog, April 2002
Reflexion zum 7. Gebot, Eberhard Busch

Exodus 20,15: Gott spricht: Du sollst nicht stehlen.

Wir können auch dieses Gebot so wenig wie die anderen als eine
allgemein menschliche Moralvorschrift verstehen. Wir haben es in dem besonderen
Sinn aufzufassen, den es im Zusammenhang des biblischen Zeugnisses hat.
Merkwürdig, dass das Wort „Eigentum“, auf das das Gebot
doch hinzuweisen scheint, in der Bibel höchst selten vorkommt. Und
wenn es vorkommt, so bezeichnet es in der Regel das, was Gott gehört.
Gott ist nach der Bibel der eigentliche Eigentümer aller Dinge –
nicht wir sind es. „Die Erde ist des Herrn und alles, was darinnen
ist, der Erdboden und was darauf wohnt“ (Ps. 24,1). Und wenn er in
Christus Mensch wird, so wird er damit nicht verfügbares Eigentum
der Menschen, sondern umgekehrt: da kommt er „in sein Eigentum“
(Joh. 1,11). Um zu verstehen, was stehlen heißt, und warum es verboten
ist, müssen wir von da ausgehen: Gott gehört alles, ursprünglich
nur ihm. Wir können darum über das, was wir gewöhnlich
unser Eigentum nennen, nicht beliebig verfügen – so, als gehe das
niemand etwas an. Doch, Gott mischt sich da ein, und zwar mit Fug und
Recht, weil im Grunde alles ihm gehört. Wer das bestreitet, sehe
zu, ob er das je verstehen kann, was das heißt: „Du sollst
nicht stehlen“. Allerdings, gerade wenn Gott der alleinige Eigentümer
der materiellen und geistigen Güter ist, so heißt das nicht,
dass er uns dabei leer ausgehen lässt. In seiner Güte ist es
sein Wille, dass uns etwas zusteht, das wir gebrauchen und bewirtschaften
dürfen. Aus Gottes Güte darf jeder Mensch ein Teilhaber und
Nutznießer sein an dem, was eigentlich nur Gott gehört. Und
so verleiht Gott uns nicht nur das Leben, so spricht er einem und einer
jeden obendrein auch eine Reihe von Dingen zu, die ihnen nötig und
nützlich, dienlich und erfreulich sind. Die das begreifen, werden
Gott bitten, dass er ihnen auch noch die Gnade gebe, dass sie nun
auch ihre Dinge dankbar und guten Gewissens als etwas betrachten und gebrauchen,
was Gott ihnen verliehen hat.

Doch verliehen hat er uns wie unser Leben, so unsere Dinge –
und nicht zum Eigentum vermacht und an uns abgetreten. Er bleibt
der Eigentümer dessen, was er uns verliehen hat. Er hat es uns damit
nur gleichsam ausgeliehen. Wir sind damit nicht zu Besitzern geworden,
sondern zu Verwaltern über das uns Ausgehändigte eingesetzt:
zu Prokuristen, die fürsorglich damit umzugehen haben. Gott ist aber
frei, davon einiges oder vieles zurückzufordern. Im Tod wird er sogar
alles von uns zurückfordern. Aber es kann schon zu Lebzeiten uns
so erschreckend viel genommen werden, wie es nach der Bibel Hiob widerfahren
ist. Und der hatte doch den Glauben zu sprechen: „Der Herr hats gegeben,
der Herr hats genommen, der Name des Herrn sei gelobt“ (Hi. 1,21).
Verwalter heißt: im Wissen leben, dass wir verantwortlich umzugehen
haben mit dem uns Anvertrauten und in der Bereitschaft, dafür einmal
Rechenschaft abzulegen. Verwalter heißt: mit dem uns Ausgehändigten
so verfahren, dass der eigentliche Eigentümer sich daran freuen kann
und nicht dadurch geschädigt wird.

*

Doch wühlt und wurmt in uns ständig eine unheimliche Neigung,
in dieser Beziehung unzufrieden zu sein: unzufrieden mit dem lieben Gott
und seiner Gnade. Wir wollen immer noch mehr haben. Auch wenn man
längst genug hat, ja, gerade dann regt sich in uns offenbar besonders
kräftig der Trieb, von dem das Lied sagt: „Je mehr er hat, je
mehr er will.“ Der Philosoph Günther Anders meinte sogar, dass
in neuerer Zeit mehr produziert werde als bloß zur Befriedigung
von Bedürfnissen und dass so viele Waren produziert werden, für
die allererst der Wunsch produziert werden muss, sie haben zu müssen.
Und je mehr wir haben wollen, desto weniger wollen wir bloß
deren Verwalter sein. Desto mehr wollen wir sie haben. Wo wir sie
aber ernstlich als „mein“ Eigentum und Besitz be-greifen, da
reißen wir sie im Grunde aus Gottes Hand. Da begehen wir Diebstahl
an Gott. Es ist unheimlich, aber wahr: Ihr sollt nicht nur, „ihr
könnt nicht Gott und dem (Besitzgott) Mammon dienen“
(Mt. 6,24). Und wo Gott nichts mehr zu sagen hat in unserem Wirtschaften,
da beginnt allemal das Stehlen.

Das setzt sich fort im Stehlen zwischen den Menschen. Das kommt viel
häufiger vor, als es im Bürgerlichen Strafgesetz erfasst werden
kann. Das geschieht sogar in Formen, wo man unter dem Schein des Rechts
stiehlt. Aber auch in solchen Fällen, wo es vom Strafgesetz nicht
verboten ist, wo es vielen nicht einmal als verwerflich gilt, kann ein
Stehlen stattfinden. Und solches Stehlen muss vor Gott kein harmloseres
Delikt sein als etwa ein Bankeinbruch. Ja, vor Gott sind die Fälle
besonders bedenklich, wo man anderen verschleiert, dass man sie hinters
Licht führt – und wo man das gar vor sich selbst verschleiert und
sich damit beruhigt: die anderen tun das doch auch und ohne ein bisschen
Schrecklichkeit und Rücksichtslosigkeit komme ich zu kurz. Es gibt
übrigens auch geistigen Diebstahl. Man kann auch Zeit stehlen und
sogar ein Stück der Lebenskraft.

Stehlen heißt nicht nur, dass ich mir unrechtmäßig Vorteil
schaffe, sondern zugleich auch, dass ich damit anderen Nachteil und Schaden
zufüge. Auch der Neid – dass anderen etwas gegeben ist, was mir nun
einmal nicht gegeben ist – ist ein Stehlen. Und so auch die Missgunst,
in der wir unseren Nächsten das Ihre nicht gönnen. Manchmal
gehen wir sogar so weit, dass wir richtig Freude haben, Schadenfreude,
wenn andere etwas verlieren, auch wenn wir selbst keinen Vorteil davon
haben. Im Spaß wird zuweilen der Vers gesungen: „Oh heiliger
Sankt Florian / verschone unsere Häuser, / zünd andere dafür
an.“ Aber oft ist dieser Spaß vielmehr Ernst. Und wo man tatsächlich
so denkt, da vergehen wir uns bereits gegen das 7. Gebot.

*

Noch zwei Überlegungen dazu, dass der Begriff des Stehlens nicht
auf den Bereich der individuellen Privatmoral zu beschränken ist.
Zum einen, es kann uns manchmal der Gedanke beschleichen, es gehe in dieser
Sache nach der Weise: „Die Kleinen hängt man, die Großen
lässt man laufen.“ Man schüttelt heute mit Recht den Kopf
über jene Geschichte aus dem England des 19. Jahrhunderts: Damals,
als man Kinder für Hungerlöhne zu stundenlanger Arbeit in Bergwerken
missbrauchte, damals sei eines dieser Kinder zur Strafe für die Entwendung
eines Minibetrages gehängt worden. Das Scheußliche an dieser
Geschichte ist nicht nur die Strafe, sondern ihr Missverhältnis zum
Tun der damaligen „Herren“: sie beuteten das Kind entsetzlich
aus, sie raubten ihm die jugendliche Kraft – und es kam keinem in den
Sinn, dass diese Herren ja unheimlich mehr gestohlen hatten als der Knabe.
Aber auch wenn es mit solcher Justiz heute, gottlob!, vorbei ist, fragt
es sich, ob es heute in anderer Weise nicht immer noch ähnlich so
geht. Für den Privatbereich soll „die Kirche“ den Leuten
sagen: „Du sollt nicht stehlen.“ – Aber im Bereich der Wirtschaft
und Hochfinanz soll sie den Mund halten, weil da das Gebot nicht gelten
soll. Dabei ist das Stehlen im großen Stil allzuoft der Grund dafür,
dass dann auch im kleinen Stil gestohlen wird.

Zum anderen, der katholische Theologe Karl Rahner hat das Wort vom „Kollektivdiebstahl“
geprägt. Er hat es angewendet auf das Verhältnis von reichen
und armen Ländern in der heutigen Welt. Er sagt: die Armut der armen
Ländern kommt nicht einfach bloß aus deren eigener Schuld.
Sie kommt auch davon, dass unsere Länder an diesen armen Ländern
gut verdienen, weil „wir“ sie nicht recht bezahlen für
ihre Lieferung von Rohprodukten oder für die Anfertigung von Produkten
durch miserable Kinderarbeit. Wir haben, weil wir ihnen nehmen,
indem wir nämlich ihnen nicht geben, was sie wirklich verdienen.
Das ist eben „Kollektivraub“. Wir stehlen da nicht persönlich.
Aber ob wir wissen und wollen oder nicht, wir sind praktisch Nutznießer
davon, dass unsere Gesellschaft als solche stiehlt. Und die Spenden, die
wir im Ganzen bis jetzt für die armen Länder aufgebracht haben,
kann man doch eigentlich so wenig ein Opfer nennen, wie ein Dieb seine
Rückerstattung eine erfreuliche Gabe nennen kann. – Kurz, stehlen
kommt in vielfacher Weise vor und so, dass wir irgendwo daran mit beteiligt
sind. Also hat hier im Grunde niemand das Recht, zuerst auf andere zu
zeigen. Ein jeder und eine jede hat Grund genug, hier zuerst an die eigene
Brust zu schlagen.

*

Das göttliche Verbot des Stehlens ist ein Bestandteil des umfassenden
göttlichen Kampfes gegen den Egoismus. Gott kämpft leidenschaftlich
dagegen, weil er anstelle des Egoismus der Liebe Raum schaffen will. Weil
Gott für die Liebe ist, vielmehr: weil er selbst die Liebe ist (1.
Joh. 4,8), darum steht er gegen den Egoismus. Darin könnte man alles
zusammenfassen, was Gott vorhat und tut. Weil er die Liebe ist, weil er
die Menschen liebt, ist er darauf aus, dass unter ihnen Liebe waltet.
Und das Verbot des Stehlens gehört ganz in diesen großen Zusammenhang
von Gottes Liebe und seines Ausseins auf ein Leben und Zusammenleben in
Liebe. Also keine Rede davon, als sei das 7. Gebot eine Schutzbestimmung
für Egoisten! als unterstütze Gott hier nur eben die Habenden
gegen den Zugriff der Habenichtse! Und keine Rede davon, als stimme Gott
hier dem Tanz um das Goldene Kalb zu und als werde hier der Besitzermentalität
ein himmlisches I-Pünktlein aufgesetzt! In diesem Sinn ist das Gebot
oft verstanden worden – und man hat dann übersehen, wie hart die
Bibel den Geiz als die Wurzel allen Übels verurteilt (1. Tim. 6,17).
Man bedenke auch, dass das Wörtlein „privat“ in dem Wort
Privateigentum mit dem lateinischen Wort privare zusammenhängt, das
heißt „rauben“. Gewiss ist das, was einem zusteht, nicht
Räubereigentum. Aber es wird dazu, wenn man seine Dinge als Egoist
besitzt und braucht. Wer ein Egoist ist, der mag viel haben, – aber der
hat nicht Gott auf seiner Seite.

Und Gott will nicht nur nicht den Egoismus. Er hat ihn bereits auch
an entscheidender Stelle besiegt. Er hat ihn in seiner Wurzel überwunden,
indem er etwas Unerhörtes getan hat: Er, der wahre Eigentümer
aller Dinge und allen Lebens, hat das Ureigenste, das ihm gehört,
nicht egoistisch für sich behalten. Er hat es mit anderen geteilt.
Er hat es für andere eingesetzt. „Er hat seinen eigenen Sohn
nicht verschont, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben, wie sollte
er uns mit ihm nicht alles schenken?“ (Röm. 8,32) So geht Gott
um mit seinem Eigentum: er hat es nicht bloß für sich, er hat
es zum Schenken. Indem er das tut und schon getan hat, rückt er an
die Stelle des egoistischen Nehmens die Geberfreudigkeit der Liebe. Und
damit hat er auch eine Quelle der Erlösung geschaffen: für die
Großen und Kleinen, für die offenbaren und versteckten Egoisten,
um sie von ihrem Ver-gehen mit Liebe zu heilen. Sein Geben ist auch ein
Ver-geben. Er vergibt uns sogar, wenn wir wieder rückfällig
geworden sind.

Doch vergibt Gott uns, damit wir nicht wieder rückfällig
werden. Seine Vergebung ist die Kraft, uns zu bewegen, damit wir aus Egoisten
Menschen werden. Sie ist die Kraft, aus bloßen Nehmern fröhliche
Geber zu werden, die ihre Nächsten lieben wie sich selbst. Sie ist
die Kraft das uns Gehörende als Mittel der Zuwendung zu anderen zu
verstehen und zu verwenden, die Kraft zur Mitteilung. Wo das geschieht,
da wird das 7. Gebot erfüllt. Da leuchtet wie im Dunkel eine Kerze
auf, die Zeugnis gibt von der hellen Sonne der Liebe Gottes zu uns allen.
Da geschieht nämlich dies, wie Martin Luther sagt, dass wir unserem
Nächsten „sein Gut und Nahrung helfen bessern und behüten“,
und geschieht dies, wie der Heidelberger Katechismus sagt, dass ich „das
Wohl meines Nächsten fördere“. Es ist gut und es tut gut,
wenn wir das zu tun lernen und zu tun beginnen. Denn „Geben ist seliger
als Nehmen“ (Apg. 20,35).

Prof. Dr. Eberhard Busch
Georg-August-Universitaet Goettingen
Theologische Fakultaet
Platz der Goettinger Sieben 2
D-37073 Goettingen

 

 

 


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