Exodus 20, 2-3

Exodus 20, 2-3

 

Predigtreihe zum Dekalog, Februar 2002
Das erste Gebot – Exodus 20, 2-3, Ulrich Braun

Das erste Gebot (Ex 20, 2-3)

Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der
Knechtschaft geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben
neben mir.

Liebe Gemeinde,

Die Präambel – wenn wir sie einmal so nennen wollen – bringt es
zum Ausdruck: nicht um Sklavenmoral, sondern um ein Recht für freie
Menschen wird es in den Zehn Geboten gehen. Bevor sie noch zu formulieren
beginnen, was es zu tun und was zu lassen gilt, wird klar, aus welchem
Geist und von welcher Art sie sind. Sie stammen aus dem Geist der Freiheit:
„Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland,
aus der Knechtschaft, geführt habe“.

In Ägyptenland waren die Dinge übersichtlich. Die Ägypter
sagten was erlaubt und was verboten war. Alle Angelegenheiten waren geregelt,
und zwar durch Macht und Gewalt, nicht durch Recht.

Diese Zeit lag hinter Israel. Bei Nacht und Nebel war man den Kerkermeistern
entschlüpft. Der Rausch der ersten Nacht dürfte rasch verflogen
sein beim Anblick der technisch weit überlegenen Verfolgern. Je nach
Phantasie und Neigung zu bildlichen Vorstellungen dürfen wir uns
die Flucht durch die Wüste und an die Meeresküste mit Wolken-
und Feuersäule, mit geteilten Wassern oder einer steifen Brise aus
Ost vorstellen, die eine Furt durch das Gewässer auf kurze Zeit freigibt,
um anschließend ägyptische Spitzentechnologie mitsamt ihren
Wagenlenkern zu verschlingen.

Ganz werden wir auch bei sparsameren Ausstattungen der Geschichte auf
Wunderhaftes nicht verzichten können. Denn als ein Wunder muss es
allerdings gelten, was auch historisch für einigermaßen gewiss
gehalten werden darf: Die Ägypter waren eine Weltmacht, eine bis
heute sagenumwobene Hochkultur, Israel noch kaum wirklich ein Volk. In
ägyptischen Quellen werden Stämme erwähnt, Hapiru genannt,
die uns in der Bibel als Hebräer begegnen. Sie lebten in sklavenähnlichem
Status und verrichteten niedere Arbeiten für die Ägypter, vor
allem bei der Verwirklichung von Bauprojekten. Nichts spricht dafür,
dass Ägypten die Arbeiter freiwillig ziehen ließ.

Uns aber begegnen sie, die Sklavengeschichte im Rücken, in der Wüste.
Der Freiheitsrausch der ersten Nacht dürfte schnell verflogen gewesen
sein. Vor ihnen liegt die weite ungewisse Zukunft. Alles, was in Ägypten
durch die Macht der Wächter geregelt war, ist jetzt schwierig. Was
soll gelten? Wer soll das Sagen haben? Und soll das, was der sagt, für
alle gleichermaßen gelten?

Es soll. Denn was von nun an gelten soll, soll alle Züge des Rechts
tragen und es soll aus der Quelle der Freiheit gespeist sein, nicht der
Gewalt. Deshalb hält die Präambel fest: „Ich bin der Herr,
dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland , aus der Knechtschaft geführt
habe“.

In der Wüste, die Verfolger abgeschüttelt, dürfte die
Situation der Stämme, die gerade dabei waren, das Volk Israel zu
werden, durchaus problematisch gewesen sein. Äußerer Mangel
herrschte sowieso. Aber zugleich herrschte gewiss auch das, was die Soziologie
eine kognitive und moralische Überforderung nennt. Alles musste geregelt
werden, nichts verstand sich mehr von selbst. Die Verbote der Ägypter
hatten von der Strafandrohung gelebt. Die war zur allgemeinden Erleichterung
weggefallen. Sollte aber deswegen nun alles erlaubt sein?

Bei wüstenüblichem Mangel an allem – Wasser an erster Stelle
– muss die Verteilung geregelt werden. Soll jeder nehmen dürfen,
was er kriegen kann werden die freigewordenen Kerkermeister-Plätze
bald mit eigenen Leuten neu besetzt sein. Mit der Freiheit derer, die
nicht schnell genug waren, wird es nach dem kurzen Rausch der ersten Nacht
nicht weit her sein.

Die Abwesenheit einer äußeren Gewalt ist nicht schon gleichbedeutend
mit Freiheit. Freiheit ist ein zerbrechliches Gut und bedarf der Pflege
und der Verwirklichung. Sie ist auch immer die Freiheit des anderen und
findet daran ihre Grenze. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der Philosoph,
hat in seiner Rechtsphilosophie „das Rechtssystem das Reicht der
verwirklichten Freiheit“ genannt. Freiheit solle eine Form haben.
Und sie hat einen Grund: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich
aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft herausgeführt habe“.

Die kognitive und moralische Überforderung Israels besteht darin,
dass jedes kleine Problem zu einer großen Krise wird. Werden die
Vorräte knapp, erwächst Lynchstimmung gegen Mose. Der hat uns
in die Wüste geführt, nun muss er uns auch versorgen. Fehlt
etwas, klagt man es Mose, herrscht irgendein Streit, muss er ihn schlichten.
Kaum ist er für für einige Tage fort, geht im Lager alles drunter
und drüber, bleibt er gar länger aus, fertigt man sich sicherheitshalber
ein neues Götterbild, den Stier.

Rechtsformulierungen folgen in aller Regel den Delikten. Verboten wird
etwas, nachdem es einmal vorgefallen ist. Erst was in den Bereich menschlicher
Verfügung gerückt ist, muss auch gesetzlich geregelt werden.
Stimmen diese allgemeinen Regeln, kann man also von Rechtsformulierungen
darauf schließen, dass sie sich auf konkrete Delikte beziehen, die
überhaupt erst zur Formulierung des Rechts führten, ergibt sich
eine Ahnung, dass die Wüstenwanderer nicht eben zimperlich mit ihresgleichen
umgegangen sind. Es gibt Bestimmungen zum Schutz der Schwachen, zum Schadenersatz
bei mutwilligen Eigentumsdelikten und Sachbeschädigungen und eindringliche
Abschnitte über die Vergehen gegen Leib und Leben.

All das hat es also gegeben. Auch so kann Freiheit gestaltet werden –
um den Preis, dass man sie damit zerstört. Deshalb erinnert die Präambel
der Gebote: Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland,
aus der Knechtschaft, geführt habe. Zerstört ihr die Freiheit,
die euch geschenkt ist, so wendet ihr euch auch von diesem Gott. Ihr verkauft
euch an andere Götter, die einem Teil von euch manchen Erfolg versprechen.
Bedenkt, welche Freiheit euch dort blüht. Bedenkt welchen Preis ihr
dafür zahlt, und vergesst nicht zu fragen, welche Garantien ihr dort
habt, dass euch die Freiheit nicht plötzlich wieder entzogen wird
– weil andere besser dran sind, schneller und vielleicht rücksichtsloser.

Die ägyptische Sklaverei erfahren zu haben, macht noch nicht automatisch
gefeit gegen jede neue Versklavung – möglicherweise auch selbstverschuldete
Arten. Knechtschaft ist eben keine Erziehung zur Freiheit. Wenn die Ketten
gesprengt sind, muss noch etwas hinzu kommen, die geschenkte Freiheit
zu verwirklichen. Eines ist dabei entscheidend: Die Erinnerung an den
Grund der Freiheit. Erst auf diesem Grund lassen sich dann Pfosten errichten,
die das Gebäude der verwirklichten Freiheit tragen können.

„Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt
hat. Für die, die es schon vergessen haben und sich zu den Fleischtöpfen
Ägyptens zurücksehnen, sei hinzugefügt, dass es Knechtschaft
war, die dort herrschte. Macht und Gewalt haben die eure Knechtsangelegenheiten
geregelt, nicht Recht und Gesetz, wie es sich für freie Menschen
gehört. Nun habt ihr die Wahl: nämlich auf diesen Grund der
Freiheit zu vertrauen und auf ihm freie Menschen zu sein, oder aber neue
Abhängigkeiten einzugehen.

Alles, was auf diesem Grund als Rechtssysten und Reich der verwirklichten
Freiheit errichtet wird, werdet ihr als freie Menschen hören und
beurteilen können. Vielleicht werdet ihr es sogar einmal korregieren
müssen. Rechtsverordnungen können sich irren. Es können
neue hinzu kommen, weil Neues in den Bereich der menschlichen Verfügung
gerückt werden. Die Gentechnik eröffnet Einwirkungsmöglichkeiten,
von denen wir entscheiden müssen, ob sie dem Menschen dienen und
seiner Freiheit, ob sie erlaubt oder verboten werden sollen.

Ihr werdet entscheiden können, welchen Göttern ihr mit eurem
Leben dienen wollt. Soll es der Grund der Freiheit sein, dann verschreibe
dich nicht andern Göttern als dem, der dich aus Ägyptenland,
aus der Knechtschaft, geführt hat.

Amen

Ulrich Braun, Pastor in Göttingen-Nikolausberg
E-Mail: Ulrich.F.Braun@t-online.de

 

 

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