Exodus 20

Exodus 20

 

Predigten und Texte zum Dekalog, April 2002
Reflexion zum 6. Gebot, Traugott Koch

Christlich gesehen lautet die ethische Frage in Bezug auf die Ehe: Wie
kann die Liebe in einer Ehe, in der ungeteilten und umfassenden
Lebensgemeinschaft zweier unterschiedlicher Menschen, von Dauer
sein?

Im erotischen Verlangen unter Menschen liegt bereits der Wunsch und –
je erwachsener desto bewußter – hoffentlich auch der Wille, einen
anderen Menschen zu finden, für den man nicht nur interessant und
anziehend, sondern unaustauschbar und einzigartig ist, der einen mag,
so wie man ist, und der sich bei jedem Wiedersehen freut. Menschen wollen
die Aufhebung ihrer Isolation in einer Gemeinsamkeit, in der die beiden
einander angehören, einer und eine als Erwachsene beim Anderen „daheim“,
aufgehoben und angenommen ist. Diese so offenkundig menschliche Erwartung
ist im Trieb zum Anderen, im sexuellen Begehren, vital mitgegeben, ist
er doch ein menschlicher. In der Liebe ist keiner durch irgendeinen Anderen
ersetzbar.

Aus dem Begehren, einander anzugehören, finden zwei Menschen zusammen
– und beginnen sie, zumindest gewisse Zeiten gemeinsam zu leben. Solange
nun zwei Menschen verliebt, verlobt, verheiratet, im Guten, d. i. in einer
gemeinsamen Liebe zusammenleben, haben sie den Wunsch und hoffentlich
auch den Willen, daß ihre Gemeinsamkeit, ihre gemeinsame Liebe,
dauerhaft sei. Schon gar nicht geht jemand eine Ehe bei einem Standesamt
und obendrein einer kirchlichen Trauung ein, der nicht den Wunsch und
die Absicht nach einer dauerhaften Verbundenheit mit dieser anderen Person
hätte. Und doch fürchten alle, eine Krise – hervorgerufen durch
angehäufte Mißverständnisse und Enttäuschungen –
könnte ihre Verbundenheit, ihre Liebe, zerbrechen. Was also könnte
dagegen „helfen“ und zur Dauerhaftigkeit beitragen? Anders gesagt:
Wie kann es zu einer Verläßlichkeit in einer ungeteilten,
das Leben zweier Menschen umfassenden Lebensgemeinschaft kommen?

Verläßlichkeit stellt sich ein, wenn einer oder eine am geliebten
Anderen wahrnimmt, was er oder sie an ihm hat. Dann will einer
oder eine den Anderen nicht mehr verlieren; dann ist er oder sie dem Anderen
verbunden. Jeder der beiden muß das „nur“ für sich
selbst wollen: Dann ist die Verbundenheit mit dem Anderen
für ihn oder für sie verbindlich. M. Jesenská,
die Freundin F. Kafkas, hat das so formuliert: „Das größte
Versprechen, das Frau und Mann einander geben können, ist der Satz,
den man Kindern mit einem Lächeln sagt: ‚Ich geb dich nicht
her‘. Ist das nicht mehr als ‚Ich werde dich bis in den Tod lieben‘
oder ‚Ich werde dir ewig treu sein‘? Ich geb dich nicht her. Darin
liegt alles. Anstand, Wahrhaftigkeit, Heim, Treue, Zugehörigkeit,
Entscheidung, Freundschaft. – „Ich gebe dich nicht mehr her“:
was du auch tust, wie unvollkommen du auch bist, welche Mängel du
hast, was die Anderen auch sagen, und obschon du es mir zuweilen schwer
machst. So, wie du bist – „ich laß dich nicht fallen“,
„ich gebe dich nicht auf“: einfach weil ich dich liebe.

Eine verläßliche Verbundenheit, die jedem der beiden verbindlich
ist, entsteht und besteht nicht ohne Vertrauen. Und das will zeitlebens
und immerzu wirklich gelebt und gepflegt werden; denn das ist durch nichts,
auch nicht durch die staatliche Rechtsform der Ehe oder durch die kirchliche
Trauung garantiert. Wenn es ein wirkliches Vertrauen ist, so wird es ein
bedingungsloses sein. Dem wird das nicht schwerfallen, der den Anderen
wirklich liebt. Es ist ja keine Liebe, die nicht vorbehaltlos wäre.
Und es ist keine Liebe ohne bedingungsloses Vertrauen. – Aber wo nichts
als Vertrauen ist, da ist die Gefahr des Verrats nicht fern. Deshalb ist
das Vertrauen und das Lieben eines der gewagtesten Unternehmungen von
Menschen.

Selbst enttäuschte Liebe und fraglich gewordenes Vertrauen können
sich erneuern in der Selbsterinnerung an die Erfahrung gemeinsamer
Liebe, die doch in sich selbst mehr ist, dichter und ungleich verbindender
ist als jeder mit seiner immer wieder eintretenden Enttäuschung für
sich. In solcher Selbstbesinnung ist einem Menschen die Liebe selbst
verbindlich und verpflichtend geworden. Denn: ist sie ihm ein „Schatz“,
so wird er achtsam auf sie sein und sie erhalten wollen.

Die Verbindlichkeit einer ungeteilten Lebensgemeinschaft, einer Ehe,
und also die Verpflichtung für einander und zur Treue liegt also
in ihrer Gemeinsamkeit, in ihrer gemeinsamen, sie verbindenden Liebe selbst.
Darum ist die Verpflichtung in einer Ehe keine von außen auferlegte
Norm, sondern eine selbst gewollte, eine Selbstverpflichtung, die einer
oder eine, bleibt er oder sie nur in der Liebe oder erinnert er oder sie
sich neu ihrer Liebe, gar nicht als Last empfindet. Jene Verpflichtung
wird in Liebe gelebt als Selbstverständlichkeit.

Was trägt zur Dauer einer liebevollen Gemeinsamkeit in einer ehelichen
Lebensgemeinschaft bei? Antwort: Wenn Menschen darauf vertrauen, ja daran
glauben, daß die Liebe selbst sich auch für ihre Lebensgemeinschaft
wieder und wieder erneuern kann. Vertrauen sie der Selbsterneuerungsfähigkeit
der Liebe, so stellt sich diese ganz gewiß – als Wunder der Liebe
– von selbst ein. So war es ja zwischen ihnen schon immer und von Anfang
an: die Liebe stellt sich von selber ein. Man muß sie „nur“
empfangen, freudig empfangen, und bei sich einlassen. Wir „machen“
sie nicht, setzen sie auch nicht aus uns heraus und verfügen über
sie nicht. Noch einmal: Man muß sie „kommen“ lassen und
so innigst und ernsthaft selber wollen. Denn der ihr Verschlossene
sperrt sie aus.

Was zwei Menschen verbindet, ist nichts Handgreifliches, natürlich
auch nicht die Sexualität an sich. Sondern das ist ein Geist,
der eine Geist der Gemeinsamkeit, der Liebe – und darin selbstverständlich
auch die sexuelle Intimität. Wo nun die beiden, sie und er, sich
darin bejaht und anerkannt finden, da sind sie in Wahrheit frei und frei
miteinander einig, eines Sinns, auch wenn sie zuweilen in dieser oder
jener Hinsicht unterschiedlicher Ansicht sind. Es ist im Leben von Menschen
nichts Freundlicheres. Leben nun beide auf diese ihre Gemeinsamkeit, auf
diesen Geist der Liebe, hin, so ist keiner auf den Anderen fixiert
und wird von ihm alles erwarten. Es ist dann mehr „im Spiel“
als die beiden. Ihre Gemeinsamkeit und der Geist, der sie trägt und
bewegt, ist unausschöpfbar mehr noch und hoffentlich auch
stärker noch als jeder für sich allein. Die beiden mögen
sich nur auf ihn besinnen. Erkennen sie, was ihre Gemeinsamkeit bildet,
erhält und entwickelt, so erkennen sie den Schatz, der im Miteinander
mitten unter ihnen ist, sie verbindet und umfängt. Und indem sie
auf ihn achthaben, ihn in diesem Sinne hüten, bleibt er bei ihnen,
zerrinnt er ihnen nicht. Eine lebendige Mitte ist so ihre gemeinsame Liebe,
die zwischen ihnen sich abspielt und sie lebendig hält.

Erkennen sie das, glauben sie daran und halten sie das fest, so erkennen
sie, daß der Geist alles Guten, Gottes Geist, in ihrem endlichen
Lieben bei ihnen ist. Es ist der Geist Gottes, der unter ihnen lebendig
ist, der sich und sie erneuert, indem er sie zu neuer Zuwendung erweckt
und sie so bestärkt. Im Glück der liebenden Vereinigung und
in allem gegenseitigen Sichverstehen und so in ihrem Zusammengehören
ist er bei ihnen: sie dazu inspirierend, die Dauerhaftigkeit ihrer Liebe
zueinander selbst zu wollen.

Die bedingungslose Liebe zweier Menschen hat ihre größte Stärke
im Geist der unerschöpflichen, nicht aufgebenden Liebe, also in dem
Geist, der Gott selber ist. Darauf können zwei Menschen miteinander
ihr Leben aufbauen und zuversichtlich frei zu leben wagen.

Prof. Dr. Traugott Koch
Institut für Systematische Theologie
Universität Hamburg
E-Mail: ISyTh-FB01@uni-hamburg.de

 

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