Exodus 20,1-17

Exodus 20,1-17

Gebote der Freiheit – die Aktualität des Dekalogs | 18. Sonntag nach Trinitatis | 08.10.23 | 2. Mose 20,1-17 | Johannes Lähnemann |

Liebe Gemeinde!

was bedeutet dieser uralte Text von vor mehr als 2.500 Jahren? Was bedeuten diese 10 Gebote? Manche unter uns werden sie im Konfirmandenunterricht gelernt haben, zusammen mit Martin Luthers Erklärungen. Was bedeuten diese Gebote für mich, für unsere Gemeinschaft, für unsere Gesellschaft?

Ich nenne sie Gebote der Freiheit, obwohl sie vordergründig viele Verbote enthalten.

Gebote der Freiheit sind sie, weil sie von einer fundamentalen Befreiungserfahrung herkommen, davon, dass Gott sein Volk Israel aus der Knechtschaft, der Sklaverei in Ägypten herausgeführt hat.[1] Und sie wollen zur Freiheit hinführen. Denn frei ist nur eine Gesellschaft, in der die Gebote gelten, vor allem die 2. Hälfte der Gebote – eine Gesellschaft, in der es Mitmenschlichkeit gibt, eine Gesellschaft, in der es Gerechtigkeit gibt, eine Gesellschaft, in der es Aufrichtigkeit und Barmherzigkeit gibt.

Ich möchte den Geboten nachgehen und sie auf uns und unsere Zeit beziehen. Ich möchte Sie dabei auf einen weiten Weg mitnehmen, auf dem Sie sich auch ganz persönlich angesprochen fühlen können.  Ich möchte Spuren folgen, die die Gebote nicht im Sinne von Drohungen wahrnehmen, sondern die ihren befreienden Sinn erkannt haben. Dazu hilft mir Jesu Auslegung der Gebote, dabei helfen mir Martin Luthers Erklärungen, dabei hilft mir aber auch ein moderner Text, und zwar die von Hans Küng angestoßene Erklärung für ein Weltethos, die im Dialog mit den verschiedenen Religionen entstanden ist.

Zum ersten Gebot: „2 Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. 3 Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. 4 Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: 5 Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!“ Dieses Gebot ist die Grundlage: Auf Gott, der in die Freiheit geführt hat, soll sich der Glaube und das Vertrauen richten. Der Glaube soll sich nicht an Bildern festmachen, an Vordergründigem, an Dingen, er soll nichts von Menschen Gemachtes verehren. Martin Luther hat das in seinem großen Katechismus verdeutlicht, wenn er dort sagt: „Worauf du Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich dein Gott.“[2] Und er erläutert das ganz konkret, wenn er schreibt: „Es ist mancher, der meintet, er habe Gott und alles genug, wenn er Geld und Gut hat; … Siehe, dieser hat auch einen Gott, der heißet Mammon, das ist Geld und Gut, darauf er all sein Herz setzet, welches auch der allergewöhnlichste Abgott auf Erden ist. …Ebenso auch, wer darauf trauet und trotzet, dass er große Gelehrsamkeit, Klugheit, Gewalt, Gunst, Verwandtschaft und Ehre hat, der hat auch einen Gott, aber nicht diesen rechten, einzigen Gott.“ Ich denke, es fällt uns nicht schwer, die Götzen zu finden, die heute angebetet werden, denen man Opfer bringt, die sich als Heilsbringer aufspielen, die sich als Stars über alle anderen erheben. Davon will uns das erste Gebot frei machten. Martin Luther beschreibt das so: „Was heißt, einen Gott haben, oder was ist Gott? Antwort: ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten.“ Gott, den uns Jesus zeigt als den liebenden Vater, dem die Kleinen, die Armen und Bedrängten am Herzen liegen, der wie der Vater im Gleichnis den verlorenen Sohn aufnimmt und der in Jesus teilnimmt am menschlichen Leben, ja auch am menschlichen Leiden, der ist es, den wir lieben und ehren sollen. Martin Luther gebraucht dafür ein besonders starkes Bild. Er sagt: „Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der da reicht von der Erde bis zum Himmel“. So hat Martin Luther Gott beschrieben, vor ziemlich genau 500 Jahren, in seiner Predigt am 15. März 1522.

Dass Gottes Name nicht missbraucht werden soll – das 2.  Gebot – gehört dazu. Gottes Namen missbraucht, wer ihn benutzt, um Hass und Aggression zu rechtfertigen, wie es in der Geschichte leider immer wieder geschehen ist. Besonders skrupellose Ideologen und Tyrannen haben Gottes Namen missbraucht und tun es immer noch. Unser Volk hat das in der Gewaltgeschichte des Nationalsozialismus erfahren müssen. Islamistische Terroristen tun es, wenn sie mit dem Ruf „Allahu akbar“ – „Gott ist groß“ ihre mörderischen Taten begleiten. Der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill in Moskau rechtfertigt den Angriffskrieg gegen die Ukraine ebenso im Namen Gottes. Aber was ist von den Halbgöttern geblieben, die ihre Gräueltaten so religiös gerechtfertigt haben – einem Franco, einem Mussolini, einem Hitler – außer der bitteren Erinnerung, dass viel Blut an ihren Händen klebte?!

Kommen wir jetzt zum dritten Gebot, der Heiligung des Sabbattages. Sie wird in unserem Text besonders ausführlich begründet und vom Schöpfungswerk Gotts abgeleitet. Bei ihm ruhte Gott am 7. Tag von allen seinen Werken. Dieses Gebot ist in der Geschichte der Religionen etwas ganz Besonderes. Es ist ein maßgebliches Merkmal des Judentum geworden und hat eine tiefe Bedeutung. Die Ruhe am Sabbat gilt für Menschen in jedem Stand, gerade auch für die Knechte, die hart arbeiten mussten, ja auch für die Tiere. Im orthodoxen Judentum wird es bis heute mit vielen einzelnen Vorschriften ernst genommen. Sie können äußerlich gesehen gesetzlich und einengend erscheinen. So wird es im Judentum aber nicht verstanden, sondern das Sabbatgebot wird als hilfreiche Weisung gesehen. Sie durchbricht die Überlastung durch die Alltagspflichten und gibt dem Leben einen heilsamen Rhythmus. Heilsam soll die Ruhezeit sein, nicht ein fesselndes Gesetz. Das hat Jesus gezeigt, wenn er auch am Sabbat kranke Menschen heilt und das damit begründet, dass der Sabbat um des Menschen willen geschaffen ist und nicht der Mensch um des Sabbat willen. Ich denke aber, die Ruhezeit, die Möglichkeit der Besinnung, das Erleben der Gemeinschaft, das Abschütteln des Stress ist etwas, was wir, was unsere Gesellschaft gegenwärtig ganz besonders braucht und was auch notwendig immer wieder gesetzlich geschützt werden muss. Die gottesdienstliche Besinnungsstunde am Sonntag – oder sei es auch das andachtsvolle Innehalten an einem anderen Zeitpunkt – ist für mich – und ich denke auch für Sie – ein wichtiges Element des Ruhig-Werdens, des geistlichen Nachdenkens, des Kraftschöpfens für unser Leben, für unsere Aufgaben, für unsere Arbeit.

Das vierte Gebot ist das Gebot, dem ein besonderes Versprechen, eine besondere Verheißung beigegeben ist. „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.“ Martin Luther hat die Verheißung im Kleinen Katechismus entgrenzt und sagt „auf dass du lange lebest auf Erden.“ In Israel damals war damit vor allem gemeint, dass die Kinder es als Pflicht wahrnehmen sollten, die Eltern auch im Alter zu achten und zu ehren und für sie zu sorgen. Eine andere Absicherung gab es für alte Menschen nicht.  Auf unsere Lebenszusammenhänge bezogen aber bedeutet dieses Gebot, die Chancen der Familie als eine liebende und sich stützende Gemeinschaft zu pflegen und zu stützen. Das gilt nicht nur für die Kinder im Blick auf ihre Eltern, sondern auch umgekehrt für die Eltern im Blick auf die Kinder. In der Vielfalt, in der es heute Lebensgemeinschaften gibt, ist das eine besondere Herausforderung, menschlich und achtungsvoll miteinander umzugehen – auch da, wo es Spannungen und Streit gibt, wo Beziehungen nicht aufrecht erhalten werden können. Immer noch ist die Familie der tragende Grundbestand unserer Gesellschaft. Dass es langes, gutes Leben geben kann, hängt ganz wesentlich davon ab, dass wir uns in unseren Familien achten und einander beistehen, aber auch, dass wir unsere Familienkreise öffnen, dass Alleinstehende nicht allein, dass Einsame nicht einsam bleiben müssen, und besonders, dass Kinder helfende, stützende Begleitpersonen haben.

Nach dem 4. Gebot wird unser Gebotstext auf einmal ganz knapp und direkt: Vier Mal folgt „Du sollst nicht …“: „Du sollst nicht töten.“ „Du sollst nicht ehebrechen.“ „Du sollst nicht stehlen.“ „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ Dahinter folgen noch das 9. und 10. Gebot, dass man das Gut des Nächsten nicht begehren soll. Das können wir mit dem Gebot „Du sollst nicht stehlen“ zusammen sehen. Unerläutert werden diese Gebote da hingestellt. Und doch steckt in ihnen der ganze Grundbestand für die Gestaltung eines heilvollen, guten Zusammenlebens in unseren persönlichen Beziehungen, aber auch in unserer Gesellschaft insgesamt.

Jesus hat sich immer wieder auf diese Gebote bezogen, und er hat die Gesinnung und das Verhalten angeprangert, das zum Töten, zum Ehebrechen, zum Stehlen, zum falschen Zeugnis führt. In der Bergpredigt sagt er: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz! der ist des Hohen Rats schuldig.“ Jesus weiß, dass die bösartige Einstellung, der Hass dem Anderen gegenüber die Wurzel dafür ist, dass dem Anderen das Leben schwer gemacht wird, dass sie der Ansatz dazu ist, ihm den Lebensraum zu nehmen.

Martin Luther hat sich umgekehrt darum bemüht, dem Verbot ein positives Verhalten gegenüberzustellen. Im Kleinen Katechismus heißt es: „Du sollst nicht töten. Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserem Nächsten an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und fördern in allen Nöten.“ Dem Nächsten in seinem Leben helfen und ihn fördern in allen Nöten, das kann sich jeder von uns gesagt sein lassen. Das macht unser Leben und unser Zusammenleben hell und frei.

Darüber hinaus geht es aber auch um die gesellschaftliche Dimension des 5. Gebotes.

Und damit komme ich zu einem weiteren Text, zu einem Dokument, das die Gebote zu Geboten der Freiheit macht. Es ist die Erklärung zum Weltethos, die vor gut 30 Jahren von Professor Hans Küng angestoßen wurde und 1993 beim Parlament der Weltreligionen von mehr als 200 Führungspersönlichkeiten der verschiedenen Religionen unterzeichnet wurde.[3]

Dahinter steht die Erkenntnis, dass den Krisen, die es gegenwärtig weltweit gibt – der Krise durch Kriege und Konflikte, der Krise durch den Raubbau an unserem Planeten, der Krise durch Verletzung der Menschenrechte, der Krise durch menschenverachtende Ideologien und mit ihr verbunden die Manipulation von Nachrichten und Meinungen durch Überzeugungen und Grundsätze begegnet werden muss, die weltweit Anerkennung finden können. Um solche Grundsätze zu formulieren, hat Hans Küng Menschen aus ganz verschiedenen Religionen und weltanschaulichen Überzeugungen angesprochen und mit ihnen die Erklärung zum Weltethos formuliert. In ihr heißt es: „Wir, Männer und Frauen aus verschiedenen Religionen und Regionen dieser Erde, wenden uns … an alle Menschen, religiöse und nichtreligiöse. Wir wollen unserer gemeinsamen Überzeugung Ausdruck verleihen:

  • Wir alle haben eine Verantwortung für eine bessere Weltordnung.
  • Unser Einsatz für die Menschenrechte, für Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Erde ist unbedingt geboten.
  • Unsere sehr verschiedenen religiösen und kulturellen Traditionen dürfen uns nicht hindern, uns gemeinsam aktiv einzusetzen gegen alle Formen der Unmenschlichkeit und für mehr Menschlichkeit.“

Und nun kommen die Gebote, die es ähnlich auch im Buddhismus gibt, neu in den Blick. Aus ihnen werden vier unverrückbare Weisungen gewonnen. Dazu werden die Gebote positiv formuliert und über den persönlichen Bereich in den sozialen und gesellschaftlichen Bereich hinein ausgelegt.

Das Gebot „Du sollst nicht töten“ heißt dann positiv: „Hab Ehrfurcht vor dem Leben“. Es soll eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor dem Leben begründen.

Dazu heißt es: „Die menschliche Person ist unendlich kostbar und unbedingt zu schützen. Aber auch das Leben der Tiere und Pflanzen, die mit uns diesen Planeten bewohnen, verdient Schutz, Schonung und Pflege. Hemmungslose Ausbeutung der natürlichen Lebensgrundlagen, rücksichtlose Zerstörung der Biosphäre, Militarisierung des Kosmos sind ein Frevel. … Wir alle sind in diesem Kosmos miteinander verflochten und voneinander abhängig. Jeder von uns hängt ab vom Wohl des Ganzen. …Wahrhaft Mensch sein heißt im Geist unserer großen religiösen und ethischen Traditionen, schonungsvoll und hilfsbereit zu sein, und zwar im privaten wie im öffentlichen Leben.“ Die Weltethoserklärung richtet sich also an einen jeden, eine jede unter uns: Wo kann ich, wo können wir an der Bewahrung und Förderung des Lebens um uns, bei unseren Mitmenschen und und im Blick auf unsere weltweite Verantwortung mitwirken?

Das Gebot „Du sollst nicht stehlen“ lautet dann positiv: „Handle gerecht und fair“. Es soll eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung entwickelt werden.

Dazu heißt es: „…wenn sich die Lage der ärmsten Milliarde Menschen auf diesem Planeten, darunter besonders die der Frauen und Kinder, entscheidend verändern soll, so müssen die Strukturen der Weltwirtschaft gerechter gestaltet werden. Individuelle Wohltätigkeit und einzelne Hilfsprojekte, so unverzichtbar sie sind, reichen nicht aus. Es braucht die Partizipation aller Staaten und die Autorität internationaler Organisationen, um zu einem gerechten Ausgleich zu kommen. …Wahrhaft menschlich sein heißt im Geist unserer großen religiösen und ethischen Traditionen: …Statt die wirtschaftliche und politische Macht in rücksichtslosem Kampf zur Herrschaft zu missbrauchen, ist sie zum Dienst an den Menschen zu gebrauchen. Wir müssen einen Geist des Mitleids mit den Leidenden entwickeln und besondere Sorge tragen für die Armen, Behinderten, Alten, Flüchtlinge, Einsamen. … Statt einer unstillbaren Gier nach Geld, Prestige und Konsum ist wieder neu der Sinn für Maß und Bescheidenheit zu finden. Denn der Mensch der Gier verliert seine ‚Seele‘, seine Freiheit, seine Gelassenheit, seinen inneren Frieden und somit das, was ihn zum Menschen macht.

Das Gebot „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“, kurz gefasst „Du sollst nicht lügen“ bedeutet positiv: Rede und handle wahrhaftig! Es soll zu einer Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeitführen. Diese Kultur ist gegenwärtig besonders bedroht dadurch, wie sich Hass und Beschimpfung in den sozialen Medien ausbreiten können und wie im öffentlichen Leben mit einseitigen Parolen, mit fake news und schlichtweg Lügen Politik gemacht werden kann. Deshalb sollten, so heißt es in der Erklärung, „schon junge Menschen in Familie und Schule lernen, Wahrhaftigkeit in Denken, Reden und Tun einzuüben. Jeder Mensch hat ein Recht auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Er hat das Recht auf die notwendige Information und Bildung, um die für sein Leben grundlegenden Entscheidungen treffen zu können. … Bei der heutigen täglichen Flut von Informationen sind ethische Maßstäbe eine Hilfe, wenn Tatsachen verdreht, Interessen verschleiert, Tendenzen hofiert und Meinungen verabsolutiert werden.“ Wahrhaftigkeit gilt aber auch in unserem persönlichen Umgang miteinander. Martin Luther hat das in seiner Erläuterung zum 8. Gebot auf den Punkt gebracht, indem er schreibt: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsern Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum besten kehren.“ Gutes vom anderen reden, das ist das Gegenteil davon, andere schlecht zu machen, böse Gerüchte zu verbreiten. Es bedeutet, das Positive bei unserem Nächsten zu erkennen, Wege zum Verstehen suchen, auch wenn das oft nicht leicht fällt.

Gutes suchen, das hilfreiche Gespräch pflegen, in Achtung miteinander umgehen, das gilt auch für die Partnerschaft von Mann und Frau, auf die es beim 6. Gebot ankommt: Du sollst nicht ehebrechen. In der Weltethoserklärung wird das ausgeweitet. In negativer Hinsicht wird gesagt: „Du sollst nicht Unzucht treiben“ und das wird auch besonders auf ausbeuterischen Sex bezogen. Positiv steht dem die Aufforderung gegenüber: Achtet und liebet einander. Es soll eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau gepflegt werden. Das ist ein großes und heißes Thema in unserer Zeit, in der die herkömmlichen patriarchalischen Familienstrukturen nicht mehr gelten sollen und sich eine Vielfalt von Lebensmodellen entwickelt hat. Klar ist: Die Beziehung zwischen Mann und Frau soll nicht durch Bevormundung oder Ausbeutung bestimmt sein, sondern durch Liebe, Partnerschaftlichkeit und Verlässlichkeit. Das ist auch Jesus wichtig, wenn er die damals leichte Möglichkeit der Ausstellung eines Scheidebriefes durch den Mann hinterfragt und wenn er darauf abhebt, das schon der begehrliche Blick auf die Frau eines Anderen der Keim dazu ist, in dessen Ehe einzubrechen. Partnerschaft von Mann und Frau bedeutet aber auch, an der Entwicklung von Gleichberechtigung und gleicher Achtung von Männern und Frauen konsequent zu arbeiten.

Gibt es so etwas wie eine Zusammenfassung der 10 Gebote? Da kann uns Jesus die Leitlinie geben, wenn er gefragt wird, welches das größte Gebot ist, und darauf mit dem Doppelgebot der Liebe antwortet, der Liebe zu Gott und den Nächsten – eine Antwort, wie sie ähnlich auch von anderen Rabbinen gegeben worden ist. Im Jahr 2007 haben 138 führende muslimische Persönlichkeiten an die führenden Persönlichkeiten des Christentums einen Brief gerichtet unter dem Motto: Lasst uns zusammenkommen zu einem gemeinsamen Wort.[4] Darin heißt es, dass Judentum, Christentum und Islam ein großes gemeinsames Erbe haben in dem Doppelgebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten. Und als Jesus gefragt wird: Wer ist denn mein Nächster? antwortet er mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter, der dem unter die Räuber Gefallenen unter Zurückstellung aller Gefahren für sich selbst hilft und ihm das Leben rettet. Das ist Nächstenliebe in einer Extremsituation, aber das Handeln eines empfindsamen und in sich freien Menschen, das uns allen ein Beispiel sein kann.

Prof. em. Dr. Johannes Lähnemann, Goslar, johannes@laehnemann.de

Johannes Lähnemann (geb. 1941) hatte von 1981-2007 den Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des Ev. Religionsunterrichts an der Universität Erlangen-Nürnberg inne. Er lebt im Ruhestand in Goslar. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Interreligiöser Dialog, Interreligiöses Lernen, Religionen und Friedenserziehung. Er ist Mitglied am Runden Tisch der Religionen in Deutschland und Mitglied der internationalen Kommission Interreligious Education der internationalen Bewegung Religions for Peace (RfP).

Seine Autobiografie ist erschienen unter dem Titel „Lernen in der Begegnung. Ein Leben auf dem Weg zur Interreligiosität.“ Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2017.

Die Predigt wird in der romanischen Neuwerkkirche in Goslar gehalten.

Liedempfehlungen: 452,1.2.5 (Er weckt mich alle Morgen), 295 (Wohl denen, die da wandeln),

613 (EG Niedersachsen: Liebe ist nicht nur ein Wort)

[1] Siehe hierzu besonders F. Crüsemann:  Bewahrung der Freiheit. Das Thema des Dekalogs in sozialgeschichtlicher Perspektive. Gütersloh 1993.

[2] M. Luther: Der Große Katechismus. In: Martin Luther – der neue Glaube. 3. Aufl. Göttingen 1961.= Luther Deutsch Bd. 3, S. 20f.

[3] H. Küng, K.-J. Kuschel (Hg.): Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen. München 1993.

[4] www.acommonword.com/lib/downloads/gemeinsames_wort.pdf

de_DEDeutsch