Exodus 20,13

Exodus 20,13

 

Predigten und Texte zum Dekalog, März
2002
Ethische Überlegungen zum fünften Gebot, Reinhold Mokrosch

„Du sollst nicht töten“ – Ethische Überlegungen
zum 5. Gebot (2 Mose 20,13)

Unser Rabbiner in Osnabrück, Marc Stern, sagte kürzlich gerad‘
heraus und ohne Umschweife: „Die 6 Millionen gemordeten Juden würden
noch leben, wenn England und Frankreich 1936, als Hitler widerrechtlich
die entmilitarisierte Rheinlandzone besetzt hatte, durch eine Intervention
eingegriffen und die damals noch schwache Deutsche Armee besiegt hätten.
Sie hätten die Shoah an den Juden verhindern können.“ Und
dann fügte er leise hinzu: „Man muss manchmal das 5. Gebot brechen,
um es einzuhalten.“

Diese Äußerung lässt mir seit dem keine Ruhe mehr. Gibt
es Situationen, in denen ein Verzicht auf das Tötungsverbot geboten
ist? Muss man manchmal aus Nächstenliebe töten? Gibt es Grenzfälle,
in denen ein Krieg unvermeidlich ist, um schlimmere Kriege zu verhindern?
Bedeutet das nicht eine gefährliche Rechtfertigung des Tötens
mit dem oft pervertierenden Argument, man müsse das kleinere Übel
wählen?

Widerspricht das nicht Paulus‘ Aufforderung, aus Liebe alles zu ertragen
(1 Kor 13,7)? Widerspricht das nicht Jesu‘ Feststellung „Wer das
Schwert ergreift, soll durch das Schwert umkommen“ (Mt 26,52) und
seiner Aufforderung, dem Bösen nicht zu widerstehen, sondern dem
Angreifer auch noch die andere Wange hinzuhalten (Mt 5,39)? Ja, hat der
Bergprediger das 5. Gebot nicht noch verschärft, als er sogar Zorn
und Wut als Töten bezeichnete (Mt 5,21ff.)?

Und nun soll es Situationen geben, in denen man das 5. Gebot nur halten
könne, indem man es bricht? Stimmt das? Lässt das 5. Gebot solche
Verrenkungsauslegungen zu?

Die Überlieferer des 5. Gebotes hatten vor 2700 Jahren das Interesse,
das friedliche Zusammenleben von Nomadenstämmen in Israel zu erhalten
und zu regeln. Deshalb benutzten sie für „Töten“ das
hebräische Wort razach, das sowohl ein ungesetzliches, heimtückisches
Ermorden Unschuldiger als auch eine fahrlässige Tötung derselben
bezeichnete. Offensichtlich fielen damals im Zuge einer Blutrache Unschuldige
und vor allem sozial Schwache wie Witwen, Weisen, Kranke, Arme und Leidende
der Gewalt zum Opfer. Dem wollten die Traditoren Einhalt gebieten, indem
sie mahnten: Gott will Leben und keine Tötung! Respektiert das Lebensrecht
jedes Menschen! Jeder Mensch verdankt sich dem Atem Gottes. Sein Blut
gehört Gott und nicht menschlicher Willkür. Er ist gottbildlich
und Gottes Stellvertreter und darf deshalb nicht vernichtet werden. Tötung
würde Vernichtung der Schöpfung bedeuten. Du sollst nicht töten,
denn der andere ist wie Du!

Aber dabei hatten sie, wie gesagt, nur das „gentile Grenzrecht“
der Nomadenstämme untereinander im Blick. An andere damals aktuelle
Fragen und Probleme des Tötens wie Kriegführen, Todesstrafe,
Suizid, Euthanasie bei schwerer Krankheit u.ä. hatten sie, soweit
wir wissen, nicht gedacht; ganz zu schweigen von den heute aktuellen Problemen
der Abtreibung nach pränataler Diagnostik, der Embryonenforschung
und -vernichtung, des Abschaltens künstlicher Lebensverlängerung
usw. Deshalb wäre es gänzlich falsch, würde man aus dem
Gebrauch des hebräischen Wortes razach, was sich auf ungesetzliches
Morden bzw. fahrlässige Tötung bezieht, schließen, dass
gesetzlich zugelassenes Töten wie z.B. im Krieg oder bei gesetzlichen
Regelungen zur Euthanasie, Abtreibung oder verbrauchender Embryonenforschung
also erlaubt oder gar geboten sei. Wer so argumentiert und dazu noch behauptet,
dass Gott bzw. die Dekalog-Traditoren bewusst nicht die Verben harag
oder mut, welche jede Art von Töten bezeichnen, gewählt
hätten, weil sie eben gesetzliches Töten für erlaubt hielten,
der irrt.

Die Traditoren des 5. Gebotes hatten alle diese Situationen nicht im
Blick. Also sagten sie nichts darüber und wir können sie heute
nicht als normative Zeugen für diese Fragen heranziehen. Auf keinen
Fall dürfen wir behaupten, dass das Gebot lauten müsste „Du
sollst nicht morden“, um für nichtmordendes Töten einen
Türspalt offen zu lassen. Weder erlaubt noch verbietet das 5. Gebot
Töten in Krieg, bei der Abtreibung, bei Suizid, Todesstrafe etc.
Es sagt nichts darüber.

Den Traditoren ging es allein um die Bewahrung der Freiheit, die Gott
den Israeliten geschenkt hatte, als er sie aus der Sklaverei in Ägypten
befreit hatte. „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten,
aus der Knechtschaft, befreit hat“ heißt es im Prolog zum Dekalog.
Und zur Bewahrung dieser Freiheit gehörte es eben, dass man nicht
ungesetzlich tötet oder willkürlich mordet, sondern dass jeder
das Lebensrecht des anderen respektiert und ihn für gott(eben)bildlich
anerkennt, denn er ist wie ich.

Es ist also klar geworden, dass gewaltsames Töten, so wie es damals
im Blick war, einer Ermordung der Schöpfung, ja Gottes gleich kommt
und deshalb die geschenkte Freiheit in Unfreiheit, Sklaverei und Gewalt
verkehrt. Wie steht es nun aber mit den Tötungen, die uns heute bewegen,
die damals aber nicht im Blick waren? Kann man , wenn schon nicht direkt,
so doch wenigstens indirekt vom 5. Gebot her etwas dazu sagen? Ja, aber
nur im Zusammenhang auch neutestamentlicher Aussagen. Mir sind hier nur
kurze Anmerkungen möglich:

Wenn man das 5. Gebot im Zusammenhang alttestamentlicher und neutestamentlicher
Feindesliebe sieht (AT: Sprüche 25,21: Hat dein Feind Hunger, gib
ihm zu essen, hat der Durst, gib ihm zu trinken; NT: Liebt eure Feinde
und bittet für die, die euch verfolgen, Mt 5,44), dann kann es eine
Ablehnung jeder Beteiligung am Krieg, ja dann kann es einen prinzipiellen
Pazifismus begründen. Der Einzelne ist dann eher bereit, für
sich Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun. Aber natürlich kann es
in der Verantwortung für andere zu Pflichtenkollisionen kommen. Wie
die Eingangsbemerkung von Rabbiner Marc Stern belegt, kann ein Krieg evtl.
Millionen das Leben retten. Aber in solchem Fall muss der Gewalttätige
sich seiner furchtbaren Schuld bewusst sein und darf sich nicht als Retter
fühlen und sein Töten rechtfertigen.

Für eine Todesstrafe gibt es heutzutage angesichts sicherer
Gefängnisse keine einzige Rechtfertigung. Sie verbietet sich prinzipiell
vom 5. Gebot und vom Liebesgebot her. Denn bestraft werden soll die Tat,
weniger der Täter, der ein Geschöpf Gottes ist. Bei der Todesstrafe
wird aber der Täter und nicht die Tat vernichtet.

Das Selbstbestimmungsrecht zur Selbsttötung lässt sich
m.E. weder mit dem 5. noch mit dem Liebesgebot aufheben. Wenn jemand durch
einen Freitod (der natürlich auch ein Zwangstod ist) einem grausamen
Fremdtod zuvorkommen möchte, dann muss man m.E. selbstverständlich
für solche Grenzsituationen Verständnis und Respekt haben. Allerdings
ist die Frage, wo die Grenze liegt. Das Judentum lehnt jeglichen Suizid
ab, weil dabei Gottes Schöpfung und Gottes lebensstiftender Atem
getötet wird. Aber die protestantische Tradition hatte demgegenüber
immer Verständnis für ausweglose Situationen, betonte aber immer
zugleich, dass jeder Suizid ein Hilfeschrei an die Gemeinschaft sei, welchen
diesen hören und ihm gerecht werden müsse.

Die Fragen einer passiven und/oder aktiven Euthanasie beim Sterbeprozess
lassen sich, wie gesagt, vom 5. Gebot her nicht beantworten. Hier gilt
vorrangig das doppelte Liebesgebot, die Bereitschaft zur Schuldübernahme
und das Maß der Leidzumutung. Selbstverständlich hat immer
Sterbebegleitung Vorrang vor Sterbehilfe. Aber wenn Lebensverlängerung
ausschließlich Leidverlängerung bedeutet, sollte – möglichst
nur im Falle einer vorliegenden Patientenverfügung – im äußersten
Grenzfall auch ‚Euthanasie auf Verlangen‘ Verständnis finden. Eine
gesetzliche Regelung – m.E. möglichst nicht im Schlepptau des niederländischen
Sterbehilfegesetzes – wäre dazu notwendig.

Embryonenvernichtung und Abtreibung lassen sich erst recht
nicht allein vom 5. Gebot her verurteilen, weil es hier nicht um einen
vollen Menschen, sondern um die Entwicklung zu ihm geht. Ich persönlich
lehne beides vom Gedanken unseres Auftrages zur Schöpfungsbewahrung
prinzipiell ab, habe aber Verständnis für Ausnahmesituationen,
die allerdings noch keineswegs mit dem Argument sozialer Indikation oder
demjenigen einer therapeutischen Stammzellenforschung gegeben sind. Es
muss wirklich abgewogen werden, was die Schöpfung bewahrt und was
sie zerstört.

Muss man manchmal das 5. Gebot brechen, um es zu erfüllen? Ja, aber
nur im Bewusstsein der Schuld und niemals in dem einer Selbstrechtfertigung.

 

Osnabrück, 19. März 2002
Prof. Dr. Reinhold Mokrosch
Institut für Evangelische Theologie der Universität Osnabrück
evantheo@uos.de

 

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