Exodus 20,17

Exodus 20,17

 

Göttinger

Predigten im Internet

hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Predigtreihe und Reflexionen zum Dekalog,

April 2002

Das zehnte Gebot (Exodus 20,17) – Reinhard Schmidt-Rost

Liebe Gemeinde,

sie klingen wie eins, das neunte und das zehnte Gebot – und sie gehören

sachlich zusammen, und was für das eine zu sagen ist, gilt auch für

das andere.

„Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht

begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Vieh oder alles, was

sein ist.“

Luther hatte – auf der Spur des Kirchenvaters Augustinus – die beiden

Gebote auseinandergenommen, um wieder auf die Zahl zehn zu kommen. Denn

das Bilderverbot, das eigentlich zweite Gebot, hatte man ersatzlos gestrichen,

weil nach der Überzeugung der alten Christenheit mit Christus das

wahre Bild Gottes auf Erden erschienen war; dadurch galt das alte Bilderverbot

als überholt.

Liebe Gemeinde,

Gebote sind wie Zäune, sie markieren und setzen Grenzen für

die Freiheit. Aber schon diese Feststellung beschreibt eine erste Freiheit:

Denn man kann auf den Zaun schauen oder auf die Weide.

Verbote schrecken ab, der Blick auf den Zaun ist weniger erfreulich.

Also beginnen wir mit der Weide – und lassen den Zaun erst einmal für

sich stehen.

Beim zehnten Gebot ist dieses Verfahren besonders ertragreich, denn es

handelt vom Alltag. Das normale Leben ist die Weide, die das zehnte Gebot

einzäunt.

Der Blick auf die eigene Weide aber entdeckt dort möglicherweise

viel Gutes:

Lebendiges Leben, die Wohltaten, die dir Gott in deinem Leben gegeben

hat. Vielfältige Gaben, die du bekommen hast:

Die Kraft deines Körpers, dein Verstand, dein Gedächtnis, dein

Mut, …

das sind alles hervorragende Voraussetzungen für ein befriedigendes

Leben.

Oder deine Weisheit, deine Fröhlichkeit, deine Einfühlsamkeit,

dein Humor, sind das nicht befreiende Gaben?

Oder deine Zurückhaltung, deine stille Geduld, deine Ausdauer, deine

Selbstbeherrschung? Sie sind ein großes Gut, – und nur auf deiner

Weide zu finden.

Viel grünes Gras hat die Weide innerhalb der Zäune. Und doch

scheint manchem das Kraut außerhalb viel verlockender. …

Natürlich stecken Rind und Schaf ihr Maul auch unter dem Zaun durch,

um die besonders grünen Halme jenseits der Grenze abzurupfen.

Natürlich schauen Menschen immer wieder auf die Weiden jenseits des

Zaunes, auf die Blumen in Nachbars Garten, natürlich erregt großer

Besitz Neid, ob es sich um die Gehälter von Sportlern handelt oder

einfach um die Aufmerksamkeit, die einem anderen Menschen zugewandt wird.

Aufmerksamkeit etwa ist die Münze, um die die meisten Gedanken des

Neides kreisen.

Was aber ist am Neid letztlich schädlich? Der Griff über den

Zaun, etwas anderes zum eigenen noch zu hinzuzunehmen, macht die Menschen

immer einförmiger … und damit langweiliger und unglücklicher,

Gott aber würde es seine Einzigkeit zu nehmen versuchen, der doch

allein alles in allem ist.

Woher kommt dieser Neid?

Er ist zunächst und vor allem eine Folge der Freiheit des Menschen,

ohne Freiheit brauchte es keine Gebote; wenn alles geregelt ist, sind

Regeln überflüssig.

Sodann aber ist festzustellen: Der Neid hat eine ganz einfache Grundlage:

Jeder Mensch vergleicht, muß vergleichen. Daran führt kein

Weg vorbei. Um sich in der Welt zu orientieren, sind Vergleiche notwendig.

Ohne Feststellung von Unterschieden keine Orientierung: Heiß und

Kalt, schnell und langsam, eben und abschüssig zu vergleichen, kann

gelegentlich lebenswichtig sein. Und erst recht die Unterscheidung von

GUT und BÖSE ist unverzichtbar, – wie immer gerade dieser letzte

Unterschied in einer Gesellschaft festgelegt wird. Davon wird gleich noch

zu reden sein.

Aber zunächst noch zum Grundsätzlichen: Nicht von ungefähr

sind hochdifferenzierte Kulturen auf einem System von Vergleichen aufgebaut,

nämlich auf Wissenschaft. Denn Wissenschaft ist nichts anderes als

systematisches Feststellen von Unterschieden. Ob die Chemie die Unterschiede

von Elementen wahrnimmt, die Medizin Unterschiede in der Funktionsfähigkeit

von Organen feststellt und sie als gesund oder krank qualifiziert, ob

Philosophie oder Psychologie Unterschiede in der Art und Weise des Erkennens

definieren, stets geht es um Vergleiche.

Mit dem alltäglichen Vergleichen von Natur-Ereignissen ergeben sich

natürlich auch Vergleiche zu anderen Menschen. Mit dem Kräftemessen

hat es vermutlich angefangen; wer durchsetzungsfähiger ist, wer stärker

ist als ein Konkurrent, sei es an Körperkraft oder auch an sexueller

Potenz, an Schönheit oder an Besitz.

Aber wie alle wichtigen Elemente des Lebens so hat auch das Unterscheiden,

das man zur Orientierung ganz selbstverständlich einsetzt, ein Doppelgesicht,

ist ambivalent.

Die Vergleiche sind nicht an sich schon schwierig; aber sie tragen ganz

natürlich den Stachel jeder Konkurrenz in sich, nämlich die

Angst vor der Niederlage. Neid ist eine Sicht der Dinge, die aus dem Vergleich

entspringen kann, aber nicht muß; es ist die Erkenntnis, schlechter

zu sein, weniger zu haben als andere, und die Unfähigkeit oder fehlende

Bereitschaft, diese Einsicht zu ertragen.

Neid ist also fast unvermeidlich, er ist jedenfalls kein böser Trieb,

sondern er fließt aus einer Quelle, die für den Menschen lebenswichtig

ist, aus dem Willen sich zu orientieren.

Und trotzdem ist Neid ein Gift. Es vergiftet den Menschen, der ihn empfindet,

macht ihn klein; man sieht scheel, wird verkniffen – oder wie der Volksmund

sagt: Grün oder Gelb vor Neid. Neid kann böse machen, davon

erzählen die Märchen, etwa von Schneewittchens Stiefmutter,

die ihre Stieftochter um ihre jugendliche Schönheit beneidete.

Dieser Wirkung des Neides wirkt das zehnte Gebot entgegen: Laß

Dich nicht kleinmachen von Deinem Herzen, versuche großherzig zu

sein.

Liebe Gemeinde,

nun ist das 10. Gebot aber zum Schutz der Gemeinschaft formuliert, – und

nicht zuerst zur persönlichen, moralischen Verbesserung des einzelnen.

Es sollte in Gemeinschaften und Gruppen, ja in der ganzen Volksgemeinschaft

Israels die Lebensbedingungen bewahren und verbessern.

Verhindern sollte dieses Gebot, dass sich die unvermeidlichen Vergleiche

zum Konkurrenzkampf und damit möglicherweise zu einer Kraft entwickelten,

die das Volk zerstören könnte. Die Erzählung von Kain und

Abel ist die pädagogische Basisgeschichte im Alten Testament, mit

der die weisen Lehrer des Volkes von der zerstörerischen Form von

Vergleichen abzuhalten versuchten, auch der Turmbau zu Babel ist eine

solche Geschichte für Eltern und Lehrer.

So diente auch das 10. Gebot dem Bestand des ganzen Volkes.

Liebe Gemeinde,

nun ist aber doch noch davon zu reden, dass nicht in allen Gesellschaften

das Gleiche als gut und böse, als nützlich und schädlich

gilt. Die Gesellschaft, in der wir leben, ist über dieses Gebot teilweise

hinweggegangen; das zehnte Gebot ist weithin ins Privatleben gedrängt

worden; in der Familie wird noch gegen Neid erzogen, – aber ist das noch

nützlich, schwächen wir unsere Kinder, wenn wir ihnen Konkurrenzgedanken

und Neid verbieten?

Zwar ist es weiterhin nicht besonders akzeptiert, wenn einer seinen

Neid allzu öffentlich zeigt, tatsächlich aber lebt unser Wirtschaftssystem

von einer Art Neid, – und schürt ihn: Der Vergleich, was andere besitzen

und was ich selbst besitze, ist nicht nur salonfähig geworden, er

gehört für viele Menschen zum alltäglichen Leben dazu.

Die Werbung ist der Wirtschaftszweig, der mir täglich vorhält,

was ich noch nicht besitze, was aber schön wäre, wenn ich es

hätte, und was andere vielleicht schon haben.

Auch die Interessengemeinschaften verschiedenster Berufsgruppen schüren

den Neid auf den Besitz anderer, machen mit Neid ihre Politik.

Ist der Neid also zu einem positiven, oder wenigstens zu einem nützlichen

Gefühl geworden? Schön ist er weiterhin nicht, aber – wie es

scheint – nützlicher, so wie unsere Gesellschaft sich entwickelt

hat: Der Blick auf die Weide des Nachbarn, ist fast zur täglichen

Pflichtübung geworden. Seine zerstörerische Kraft hat der Neid

allerdings nicht verloren. Neid entzweit; aber genau das will Werbung

wie Interessenpolitik: Die Unterschiede hervorheben – um sie dann einzuebnen.

Es soll natürlich alles sozial verträglich bleiben; die Gesellschaft

soll darüber nicht zerfallen, aber Neid ist ein wichtiges Instrument

des Marktes. Skeptiker sehen darin ein Spiel mit dem Feuer, wie das Wirtschaftssystem

des Marktes weltweit betrachtet Neid erzeugt. Auch wenn man sich darüber

kein Urteil erlaubt, weil man kein Fachmann der Wirtschaft ist, schwierig

ist in jedem Fall gerade diese Undurchschaubarkeit der Zusammenhänge.

Vielleicht ist das 10. Gebot in seiner alten Fassung noch zu sehr auf

die unmittelbare Nachbarschaft ausgerichtet, als das es das weltweite

Zusammenleben noch regeln könnte. Aber dann müßte es modernisiert

werden.

Jesus Christus hat in der Bergpredigt die alten Gebote einer Modernisierung

unterzogen: Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist, …. Ich

aber sage euch. hat sie verschärft, wie oft gesagt wird, tatsächlich

aber hat er die Gebote der Väter modernisiert:

Das Tötungsverbot hat er in ein Gebot zu uneingeschränkter Versöhnungsbereitschaft

verwandelt (Mt. 5, 21-26);

das Verbot einen Meineid zu schwören, in die Forderung uneingeschränkter

Wahrhaftigkeit: „Eure Rede sei: Ja, ja; nein nein. Was darüber

ist, das ist vom Übel. (Mt. 5, 37)

Das Gebot der Vergeltung: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ in das

– immer noch so anstößige Gebot, dem Bösen nicht zu widerstehen.

„Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dem halte die

andere auch hin.“ (Mt. 5, 39)

Welche Modernisierung könnte in unserer Zeit der Privatisierung

der Gebote diese so erneuern, dass sie in unserer „Begehrensgesellschaft“

als zeitgemäß empfunden werden?

Es entspricht sicher dem Geist der Bibel, die über die Schönheit

der Welt und über die Kraft des Menschen staunt, wenn auch wir uns

auf unsere Weide besinnen:

Schau auf die Fülle Deiner Gaben – übersieh nicht, was Du hast,

mit Leib und Leben, Kopf und Herz.

Und schau auf die Weiden Deiner Nachbarn mit Sorge, nicht ob Du zu kurz

kommst, sondern mit Fürsorge, ob ihnen etwas fehlt, womit Du ihnen

helfen könntest. Du wirst dann auch merken, wo Du denen helfen kannst,

denen es nicht so gut geht wie Dir; und wenn es Dir schlecht geht, wirst

Du vielleicht auch merken, dass es immer wieder Menschen gibt, die bereit

sind, Dir zu helfen, weil sie für die Gaben, die sie haben, dankbar

sind.

Die Hoffnung Jesu für die Menschen aber geht noch weiter: Das Gebot,

der Zaun, der ein Instrument gegen den Neid war, kann zur Leitplanke der

Liebe werden, der Blick über den Zaun zur lebensnotwendigen Verbindung

der unterschiedlichen Lebensbedingungen auf einer für den einzelnen

unüberschaubaren und doch so kleingewordenen Welt.

Amen.

Noch einige zusätzliche Überlegungen zum 10. Gebot:

„Während Ethik und Moral sich mit der Frage menschlichen Handelns

beschäftigen, macht Religion deutlich, dass der Mensch sein Handeln

nur dann verantworten kann, wenn er sich seiner Grenzen bewußt ist.

Die Grenzen ergeben sich aus einer den einzelnen Akteur transzendierenden

Wirklichkeit.“ (Wolfgang Huber, Kirche in der Zeitenwende, 10)

Aus Nigeria wird berichtet, eine Frau sei zum Tode verurteilt worden,

weil sie von einem verheirateten Mann ein Kind bekommen habe, nachdem

er sie zum Geschlechtsverkehr gezwungen hatte.

Hierzulande wird aus dem Begehren des nächsten Weibes ein bunter

Strauß von Geschichten produziert und wohlfeil verkauft. Oft ist

es auch ein Begehren des Mannes meiner Nächsten, aber das spielt

dann auch keine große Rolle mehr. Auch der Neid auf die Reichen

wird in solchen Zeitschriften und auch sonst öffentlich eifrig gepflegt.

Zwischen solchen extremen Positionen steht das 10. Gebot, nur – welchem

Pol steht es näher? Klingt es dem archaisch anmutenden Brauch der

Scharia nicht sehr verwandt, denn die Frau wird im Wortlaut dieses Gebotes

wie eine Sache behandelt; das Haus ist wichtiger als die Frau! Oder rechnet

es mit der Vielfalt des Begehrens, die auf dem Markt der modernen Gesellschaft

längst salonfähig geworden ist?

Es ist sicher nicht unsere Aufgabe, über die Bräuche anderer

Kulturen zu richten, ob zu anderen Zeiten oder in der Gegenwart.

 

 

Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost, Bonn

Professor für Praktische Theologie und Universitätsprediger

 

an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität
E-Mail: r.schmidt-rost@uni-bonn.de

 

 

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